Keiner stellte so viele KünstlerInnen aus wie Herwarth Walden in seiner Galerie „Der Sturm“ und keiner, abgesehen von der Galerie Arnold in Dresden stellte – anteilig - so viele Künstlerinnen aus (1). Weit über 30 sind es, die genaue Zahl ist nicht bekannt, zwischen 1912 und dem mutmaßlichen Ende der Galerie 1930. Die Galerie und die gleichnamige Zeitschrift (sie erscheint von 1910 bis 1932) sind zwei der, wenn nicht der wichtigste Knotenpunkt im weitgespannten Netzwerk avantgardistischer Kunst. Politisch sind die Akteure in der Regel auf der kulturellen und gesellschaftlichen Linken angesiedelt. Ein knappes Drittel der 170 Mitglieder der Novembergruppe, einer Künstlervereinigung, die sich zur Begleitung und Unterstützung der Novemberrevolution gründete, hat (später) auch im STURM ausgestellt. 48 dieser 49 Personen aus dem STURM waren allerdings Männer.
Dies führt zum Gegenstand dieses großartigen Kataloges, der Existenz und dem künstlerischen Tun von Frauen zwischen 1900 und 1933 und was darüber bekannt ist. Der Band stellt nach der Einleitung 18 Künstlerinnen, von denen Werke erhalten und zugänglich sind, näher vor. Die durchweg von Frauen verfassten Artikel bestehen jeweils aus einem kürzeren Text und zehn bis 12 großformatigen, hochwertigen Abbildungen. Vorgestellt werden bekannte Künstlerinnen wie Sonia Delaunay, Maria von Uhden (1892-1918, eine gute Freundin von Hanna Höch), Natalija Gontscharowa, Gabriele Münter (1877-1962), Marianne von Werefkin, Nell Walden und Elke Laske-Schüler. Die LeserInnen werden auch mit vergleichsweise Unbekannten, wie Jacoba von Heemskerck (1876-1923) oder Magda Langenstrass-Uhlig, die mit 36 Jahren ans Bauhaus geht, bekannt gemacht. Eine sehr interessante Biographie hat Hilla von Rebay(1890-1967). Sie geht 1925/26 in die USA und arbeitet dort für Salomon Guggenheim beim Aufbau von dessen Sammlung gegenstandsloser europäischer Kunst, wird Gründungsdirektorin des gleichnamigen, heute weltberühmten Museumsin New York. Gleichzeitig ist sie ihr ganzes Leben selbst künstlerisch tätig und unterstützt viele Künstler in Europa. 1946 übersetzt sie das Buch „Über das Geistige in der Kunst“ ins Englische. In einem zweiten Teil (ab S. 346) werden Informationen zu weiteren 21 Künstlerinnen veröffentlicht.
Im Ausstellungskatalog werden insgesamt 300 Kunstwerke von Vertreterinnen des Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus und der Neuen Sachlichkeit versammelt: Die progressiven Kunstströmungen des frühen 20. Jahrhunderts aus weiblicher Perspektive also. Dieser Katalog zur Ausstellung ist sehr ansprechend gestaltet, Grundlage für die Ausstellung war das Buch von Karla Bilang von Ende 2013, wie auch die Kuratorin Ingrid Pfeiffer bei der Vernissage hervorhob.
Isa Bickmann berichtet auf arthistoricum.net wie ein Raunen durch den Raum ging, als die Kuratorin bei der Pressekonferenz zur Ausstellung einiges zur Ausbildungs- und Ausstellungssituation von Künstlerinnen um die Jahrhundertwende berichtete; ganz so, als hätte es die Aufklärungsarbeit der letzten 30 Jahre nie gegeben (Link zum Blogeintrag) (2).
An diesem Buch – man darf es Standardwerk nennen - kommt jetzt jedenfalls niemand mehr vorbei, auch wenn noch viel zum Leben und Schaffen avantgardistischer Künstlerinnen zu erforschen bleibt. Dies macht dieser nicht ganz preisgünstige Band auch deutlich. Von Rebays Wirken als Künstlerin und Kunstmanagerin etwa wurde lange Jahre verschwiegen und erst 20 Jahre nach ihrem Tod wiederentdeckt und bekannter.
Ingrid Pfeiffer, Max Hollein (für die Schirn Kunsthalle Frankfurt) (Hrsg.): STURM-FRAUEN. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932; Wienand Verlag, Köln 2015, 354 Seiten, ca. 400 farbige Abb., ISBN 978-3-86832-277-4, 45 EUR
Die Ausstellung ist in Frankfurt/Main noch bis 7. Februar 2016 zu sehen.
(1)Themenportal Herwarth Walden und DER STURM mit vielen weiteren Informationen: http://www.arthistoricum.net/themen/portale/sturm/
(2) Um die die Jahrhundertwende gibt es zehn Kunstakademien und 12 Kunsthochschulen. Ferner die Städelschule in Frankfurt/Main und eine vergleichbare Einrichtung in Leipzig. Sie dürfen alle getrost als Bastionen der Frauenfeindlichkeit angesehen werden. Gleichberechtigung im Zugang gibt es auf dem Papier erst ab 1919.