Samstag, der 16. Januar 2016. Es ist ein stürmischer Tag in der Provinz Attica, die Athen umgibt. Auf der Autofahrt zu einem der aktuell größten Flüchtlingscamps des Landes sehen wir die Brandung hoch an den Strand schlagen. Eine von uns spricht unweigerlich aus, was alle im Auto denken: «Bei dem Wetter werden viele die Überfahrt nicht überleben.» Immer noch kommen täglich 3.500–4.000 Flüchtlinge in Griechenland an. Unsere Befürchtung bewahrheitet sich: Vergangene Woche starben wieder 45 Menschen, darunter 20 Kinder, bei der Überfahrt. Auch der Tod muss verwaltet werden. Die griechischen Provinzen versuchen, die Angespülten zu identifizieren, sie zu bestatten.
Bis Mazedonien die Grenzen für alle, die nicht aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak kommen, schloss, reisten die meistens Angekommenen sofort weiter auf der Balkanroute gen Norden Richtung Deutschland, Österreich, Schweden. Jetzt bleiben viele in Griechenland stecken. Deswegen gibt es Elenikon, das Camp auf dem Gelände des ehemaligen Athener Flughafens. Für die Olympischen Sommerspiele 2004 entstanden auf einem Teil des früheren Flughafengeländes Sportanlagen. Jetzt leben hier viele Iraner, somalische Familien und Pakistanis. Sie können unter den aktuellen Bedingungen nicht mehr vor noch zurück.
Drei junge iranische Studenten erzählen uns, dass sie je 4.000 Euro an Schlepper bezahlt haben, jetzt hätten sie keinen Cent mehr. Eine Fahrt nach Athen, um dort nach Arbeit zu fragen, ist unmöglich, da die Bewohner des Lagers Sachleistungen direkt vor Ort erhalten. Einer wurde beim Schwarzfahren erwischt und von der Polizei in Handschellen abgeführt, weil er die 70 Euro Strafe nicht zahlen konnte. Zurück in den Iran zu gehen, ist für die jungen Männer keine Option. Sie seien ständig aus politischen Gründen mit der Polizei in Konflikt geraten und auch gefoltert worden, erzählen sie. Asyl in Griechenland zu beantragen, ginge derzeit auch kaum. Das könne man nur Online über UNHCR, aber die wenigsten von ihnen hätten einen Internetzugang. Also harren sie im Camp aus.
Drumherum nichts. Drinnen beißender Geruch. Viele Fenster der ehemaligen Hockeyanlage fehlen und sind mit Müllsacken verklebt. Sie flattern im Wind. Frauen verkriechen sich mit den Kindern in den wenigen Ecken. Es gibt nichts Freundliches, Fröhliches, Menschenwürdiges. «Doch», widerspricht ein Bewohner. Er trägt eine Halskrause. Er habe sich bei der Überfahrt im Schlauchboot an der Wirbelsäule verletzt, erzählt er. Die vier Frauen, die das Camp mit den rund 500 Insassen betreuen, seien «Engel», sagt er. Er wolle, dass wir das wissen. Eine weitere Helferin treffen wir in der Krankenversorgungsstelle des Lagers. Sie käme immer gegen Nachmittag ins Lager, weil ihre Organisation tagsüber die Griechinnen und Griechen ohne Krankenversicherung betreuen würde. Davon gibt es immer noch einige Millionen, die genauso wie die Flüchtlinge auf die Versorgung durch Hilfsorganisationen angewiesen sind, erzählt uns die Ärztin.
Ein Jahr nach der Regierungsbildung unter Premier Alexis Tsipras ist die humanitäre Lage im Land immer noch angespannt. Drei ganze Tage haben wir in verschiedenen Ministerbüros Gespräche geführt, mit Partnerinnen und Partnern unseres Athener Büros Gesundheits-, Sozialpolitiken und Verwaltungsreformen diskutiert. Vor allem haben wir aber viel von dem gehört, wie Mitglieder von Syriza und der Regierung das Jahr 2015 erlebt haben und für sich heute einordnen.
Als vor einem Jahr Syriza die Wahlen in Griechenland gewann und gemeinsam mit der rechtspopulistischen ANEL die Regierung bildete, war in der europäischen – vielleicht weltweiten – Linken, der teilweisen Kritik am Koalitionsbündnis zum Trotz, der Jubel groß. Während Rechte, Konservative und Sozialdemokraten sich zu fürchten begannen, projizierte manch Linker all seine Hoffnungen auf das kleine, krisengeplagte und sich fest in der Hand seiner Gläubiger befindliche Land am Rande Europas und sah den Beginn einer dauerhaften Machtverschiebung in Europa bevorstehen. Syriza selbst zählte eher zu den Nüchternen. «Es kommt darauf an, ob wir die Zeit haben werden, einige wichtige Maßnahmen umzusetzen und einen Schuldenschnitt zu bekommen», sagte Alexis Tsipras zwei Abende vor der Wahl bei einem Treffen mit VertreterInnen linker Parteien aus Europa, die den Wahlkampf von Syriza unterstützt hatten. Wir alle wissen, dass die Zeit nicht blieb. Übrig blieb auch wenig von den Projektionen, stattdessen unkte so mancher in Europa, die Regierung Tsipras habe durch ihre Einwilligung zum Memorandum of Understanding, linke Bewegungen in Europa verraten. Das waren im Übrigen viele von denen, die im Januar besonders laut jubelten. Nur einige wenige sagten ehrlich: Wir haben Griechenland mit seinen Gläubigern, allen voran mit der deutschen Regierung, allein gelassen. Wir haben nicht geschafft, Druck auf die europäischen Regierungen auszuüben, eine breite Front der Solidarität zu organisieren, um damit Kräfteverhältnisse zu verschieben.
So wie Griechenland in der Flüchtlingsfrage in Europa weitgehend allein gelassen wird, geschieht das auch in den sozialen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Durchsetzung der EU-Auflagen. Es lohnt sich aber, genauer hinzusehen, um zu erkennen, dass der Vorwurf, die Regierungspartei habe sich schon gänzlich von ihren Wurzeln und den sozialen Bewegungen entfernt, nicht trägt. So wurde – beides gegen die Stimmen des Koalitionspartners ANEL – die Staatsbürgerschaft für Migrantenkinder und die Homoehe eingeführt. Die humanitäre Krise im Land wurde entschlossen angegangen, unter anderem. mit konkreten Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. So geht es bei dem gegenwärtig heiß umstrittenen Rentenpaket nicht nur um Kürzungen bei besonders hohen Renten, sondern auch um die Einführung einer Mindestrente.
Zu Beginn unseres Gespräches mit Theano Foutio, Ministerin für soziale Solidarität, sagte sie: «Es gab keinen Ausweg aus dem lästigen Sparprogramm, trotzdem und auch deshalb sitze ich hier.» Millimeter für Millimeter kämpfen sie und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegen die Auflagen der Troika. Das erfordert Zähigkeit. So genehmigte Brüssel zum Beispiel lange nicht, dass die griechische Regierung Schulessen für 200.000 der 600.000 Schulkinder ausgibt. Dass ein Staat für die Ausgabe von Schulessen eine Genehmigung in Brüssel einholen muss, bleibt das stärkste Bild für die anhaltende Gängelung durch die Gläubiger Griechenlands während unseres Besuches. Theano Fotiou freut sich trotzdem. Die noch fehlenden Mittel werde sie durch eine Crowdfunding-Initiative einwerben, berichtet sie weiter. Kommt uns erstmal ungewöhnlich vor: Eine Ministerin, die Crowdfunding macht? Theano Fotiou ist aber nicht zu bremsen. 145.000 Familien hätten inzwischen eine Solidarkarte erhalten. Dies sei eine Chipkarte, die vom Staat zum Einkauf von Lebensmitteln ausgegeben werde. Zusätzlich gibt es freie Stromkontingente und Mietzuschüsse. Wichtig zu erwähnen ist ihr, dass Banken und Mobilfunkanbieter sich inzwischen dem Projekt angeschlossen haben und den Karteninhabern und -inhaberinnen Programme zur Stundung ihrer Schulden angeboten haben. Bei Übernahme des Ministeriums hätte sich außerdem herausgestellt, dass Gelder aus EU-Fonds für soziale Ausgaben von den Vorgängerregierungen nicht abgerufen worden seien. Auch diese würden sie jetzt zur Armutsbekämpfung einsetzen.
Ähnlich interessante Gespräche führten wir über eine Reform zur Angleichung der über 300 unterschiedlichen Arten von Krankenversicherungen und eine grundlegende Verwaltungsreform. Uns wird deutlich: Hier wollen Leute bis in die Ministerebene hoch mit uns über ihre Arbeit, über offene Fragen, Fehler und Erfahrungen sprechen. Die politischen Akteure haben im letzten Jahr gelernt und das sagt jeder ganz offen: Ohne eine engere Zusammenarbeit in Europa zu den einzelnen Politikfeldern werden wir es nicht schaffen, selbst kleinere Reformprojekte umzusetzen.
Ja. Griechenland und die Regierung Tsipras sind in der Realpolitik angekommen. Es weht kein Hauch von Revolution durch Athens Straßen. Es mag sein, dass in wenigen Monaten die kleine Hoffnung auf ein linkes Griechenland stirbt. Noch aber ist das nicht entschieden. Denn es gibt sie, die vielen kleinen Beispiele der Solidarität derjenigen, die selbst nichts haben, mit Obdachlosen oder den Flüchtlingen. Wichtig für Syriza ist, dass die parteiinterne Debatte um den zukünftigen Kurs so lebhaft bleibt wie in 2015 und zu Ergebnissen führt. Und wichtig ist auch, dass Griechenland nicht allein gelassen wird. Darin sehen wir unsere Aufgabe. Ganz egal, wie wir die Politik Syrizas aktuell im Einzelnen bewerten.
Solidarität jetzt erst recht! Der Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung ruft zu Spenden für das öffentliche Krankenhaus in Rhodos auf.
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