Seit 1990 soll, so Ulrich Mählertvor kurzem in einem Aufsatz, statistisch gesehen, nahezu jeden Werktag ein Buch erschienen sein, das die Geschichte der DDR zum Thema hat. Trotzdem, so Karsten Krampitz in der Einleitung seines neuen Buches, gilt das 1995 von Konrad Jarausch formulierte Paradox auch heute noch: Dieses besteht darin, dass das Regime ohne die Mitarbeit der Bevölkerung nicht lange hätte überleben können, und doch gleichzeitig das Gros der „kleinen Leute“ versucht habe, sein Leben außerhalb der Reglementierung zu führen. Diese Doppelbödigkeit auszuloten ist ein Ziel dieses Buches. Krampitz, der auch als Schriftsteller profiliert ist, wählt dazu mehr oder minder öffentliche Ereignisse des Jahres 1976. Sie reichen von der Repression gegen kritische Literaturschaffende über die Erschießung eines italienischen kommunistischen Fernfahrers am Grenzübergang Hirschberg bis zum Doping im Leistungssport (1976 ist die Sommerolympiade in Montreal, bei der die DDR vierzig Goldmedaillen erringt). Weitere Themen sind die Ausbürgerung von Wolf Biermann, das immerhin drei Jahre aufrechterhaltene Hausverbot gegen Robert Havemann (über den sich im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde unglaubliche 120.000 Blatt Papier befinden) oder die von der SED nicht handhabbare Debatte um den in jenen Jahren in Westeuropa sehr wichtigen Eurokommunismus. Den fürchtet die SED, und, auch so ein Paradox, trotzdem wird die Rede von Santiago Carillo, des Chefs der 1976 noch illegalen spanischen KP im „Neuen Deutschland“ ungekürzt abgedruckt. In ihr hatte er die kommunistische Weltbewegung mit einer Religion verglichen – aber er tat dies auf einer Konferenz der sozialistischen und Arbeiterparteien Europas, die in Ost-Berlin tagte – als letzte gilt, an der die die kommunistischen Parteien Osteuropas und die eurokommunistische Parteien Westeuropas und geschlossen teilnehmen. Ein längerer Text findet sich zum Gegenstand der Dissertation von Krampitz, der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz. Hier hebt der Autor weniger die Person oder die Begleitumstände hervor, als die Langzeitfolgen des öffentlichen Protestes und der internen Kritik für die weitere, krisenhafte Entwicklung der DDR.
Das Buch ist keine klassische „Alltagsgeschichte“ der DDR dieses Jahres, dafür sind die beschriebenen Ereignisse zu sehr Teil des politischen Diskurses. Der Autor und sein Verlag bieten aber eine Chance, neue Milieus für das Thema zu interessieren. Ein Großteil der Aufsätze wurde zu Beginn des Jahres auch in einer Serie im „Neuen Deutschland“ dokumentiert, worauf sich Krampitz der unerwartet scharfen Kritik in Diskussionen stellte.
Krampitz diskutiert sein Buch in den nächsten Wochen noch zweimal in Berlin: Am 30. Mai in der Hellen Panke (mehr), und auf Einladung der RLS, zusammen mit Ralf Hoffrogge, am 21. Juni 2016 im BAIZ (mehr). Eine weiterefindet am Dienstag, 31. Mai 2016, 20 Uhr im K-Fetisch, Wildenbruchstr. 86 in Berlin (U7-Rathaus Neukölln) statt. Er steht für Veranstaltungen gerne zur Verfügung (Kontakt).
Karsten Krampitz: 1976. Die DDR in der Krise, Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 176 Seiten, 18 EUR