Nachricht | Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Europa - Westeuropa Wahl in Spanien: Gibt es eine portugiesische Lösung?

Für eine ungehorsame Regierung der Hoffnung. Kommentar von Mario Candeias.

Das Zweiparteiensystem ist schon seit den letzten Wahlen Geschichte. Aus den Fehlern der letzten Wahl, bei der Podemos und die Vereinigte Linke (Izquierda Unida, IU) getrennt angetreten waren, wurde gelernt: Das spanische Wahlsystem begünstigt bevölkerungsarme, ländliche Regionen und Regionalparteien, benachteiligt kleine landesweite Parteien. Podemos gab vor diesem Hintergrund dem Druck der Bewegung und der IU nach und bildete zusammen mit den diversen linken regionalen Plattformen und Bündnissen, der IU und Equo das Wahlbündnis Unid@s Podemos. Doch die Ablösung der PSOE als zweit-stärkste Kraft ist nicht gelungen. Es gibt nicht einmal eine potenzielle Mehrheit von Mitte-Links. Die weitere Reorganisation des politischen Feldes stagniert. Seit dem 15. Mai 2011 ging es von den Plätzen in die Nachbarschaften, weiter in die Parlamente und in Kommunalregierungen: rebellische Nachbarschaften und rebellische Städte. Aber nun? Eine Minderheitsregierung der rechten PP ist denkbar. Neuwahlen hätten verheerende Wirkung auf die Wahlbeteiligung, die bereits jetzt auf einem historischen Tiefstand angelangt ist. Theoretisch ist auch eine Minderheitsregierung von PSOE und Unid@s Podemos möglich – die portugiesische Lösung sozusagen. So oder so stehen zentrale Fragen an:

 1. Es geht es um die Zukunft der Sozialdemokratie und die Frage einer möglichen Mitte-links-Regierung. Die PSOE ist zerrissen. Ihre Führung wollte unbedingt die Koalition mit Podemos vermeiden, schaffte aber keine Regierungsbildung mit der rechts-liberalen Ciudadanos-Partei. Parteichef Sanchez ist seither angeschlagen. Seine innerparteiliche Konkurrentin Díaz, Parteichefin der sozialistischen Hochburg Andalusien will eine Koalition mit der regierenden rechten PP. Allerdings ist auch sie geschwächt, da die PSOE die Position als stärkste Kraft in Andalusien verloren hat. Die noch existierenden Linken in der PSOE wollen es mit Podemos versuchen, sind aber zu schwach in den Führungsetagen der Partei. Dort fürchtet man, in einer Mitte-Links-Regierung an der Seite von Podemos zu verblassen. Zudem wartet die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit dem „Recht zu Entscheiden“ für die nach Unabhängigkeit strebenden Katalanen, Basken, u.a.? Bislang stellt die alte Sozialdemokratie die Integrität der „spanischen Nation“ über alle anderen politischen Fragen. Auf dieser Basis wird es keine Koalition mit Unid@s Podemos geben, denn dort sind ganz wesentlich Plattformen und Bündnisse aus den nach Unabhängigkeit strebenden Gebieten tragend vertreten. In einer Koalition mit der im Korruptionssumpf versinkenden PP, die wie keine andere für einen harten Austeritäts- und Repressionskurs steht, würde zwar eine vorübergehende „Rettung der Nation“ (Felipe Gonzales) im Sinne des einheitlichen Nationalstaates bedeuten, aber auch den langsamen Tod der PSOE. Die Partei hat starke Verluste erlitten, ist aber in eine zentrale geschichtliche Position gerückt: sie kann entscheiden, ob der alte Weg fortgesetzt wird, das Land weiter unter den Kürzungen ausblutet und das europäische Projekt in dramatischem Tempo an Bindungskraft verliert; oder ob sie Teil einer gesellschaftlichen Transformation in Spanien und Europa mit ungewissem Ausgang werden will.

 2. Es geht um die Zukunft Europas: Bei einer möglichen Mitte-Links-Regierung im spanischen Staat bestünde zumindest die Möglichkeit des Umschlags von Quantität in Qualität: mit Griechenland, Portugal und dann Spanien könnten nach dem Schock des Brexit drei Anti-Austeritätsregierungen die Kräfteverhältnisse innerhalb der europäischen Institutionen zumindest partiell in Frage stellen. Es geht um die Rückgewinnung der Souveränität, nicht des Staates, sondern der popularen Klassen, auf allen Ebenen der Politik, kommunal, regional, staatlich wie supranational. Ein solcher konstitutiver Prozess ist bereits auf dem Weg, von den Kommunen bis zur europäischen Ebene, sowohl in den als auch gegen die existierenden Institutionen. Ein Beispiel sind die rebellischen Kommunen im spanischen Staat, die versuchen, Kompetenzen neu auszufechten oder etwa über Schuldenaudits eine Neuverhandlung und Streichung von Schulden zu erzwingen. Ein weiteres Beispiel ist der katalanische Unabhängigkeitsprozess, der einen konstitutiven Prozess in Katalonien und damit auch im spanischen Staat zu erzwingen sucht. Analog ist vielleicht die Debatte der Madrider Plan B Initiative über eine Mitte-Links-Regierung (bzw. einen Block südeuropäischer Mitte-Links-Regierungen) zu denken, um über eine „einseitige“ Neudefinition des Verhältnisses zur EU einen Neukonstitutionsprozess in der EU zu erzwingen - eine Neugründung, die die positiven Elemente der EU verteidigt und aufhebt. Dies wäre zu ergänzen mit einem europäischen Verständigungsprozess, wie ihn unterschiedliche europäische Plattformen bereits begonnen haben.

 3. Die Zukunft eines transformatorischen Projekts: als Linke in die Institutionen zu gehen, die Regierung zu übernehmen, ob in Griechenland, Barcelona oder Madrid, führt in ein politisches Limbo, sofern es nicht gelingt die Institutionen aufzusprengen, sie zu öffnen, für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsinitiativen, Solidarstrukturen aus der Zivilgesellschaft, eine starke Partizipation aller popularen Klassen zu verankern. Dabei gilt es über die eigene Klassenspezifik des Mosaiks der politisch aktiven Teile der Bevölkerung hinaus zu gehen, marginalisierte Gruppen aktiv einzubeziehen, Bewegungen dazu zu drängen, sich einzumischen und den produktiven Konflikt zu suchen. Experimente mit partizipativen Verfahren, der Dezentralisierung von Entscheidungsmacht und Ressourcen, der Bildung von Nachbarschaftsräten gibt es in den Rebel Cities. Sie gilt es auszuweiten, um nicht von den Altparteien und der Korruption, von der Macht des Kapitals und der Medien zerrieben zu werden, die Machtressource der rebellischen Nachbarschaften und der solidarischen Teile der Bevölkerung zu aktivieren. Vom Scheitern der ersten Syriza-Regierung sollte gelernt werden. Um die rebellischen Nachbarschaften als Machtressource zu nutzen, müssen sie aufgebaut werden. Errejon erklärte zwar, nach den Wahlen solle Podemos von der Wahlkampfmaschine in eine Bewegung transformiert werden. Wie das angesichts der zeitraubenden Regierungsbildung und den Untiefen einer staatlichen Verwaltung geschehen soll ist mehr als fraglich. Dennoch stellt sich die Frage der gesellschaftlichen Mobilisierung als Überlebensfrage.

 Denn obwohl die unverzichtbare Rolle von gesellschaftlichen Bewegungen in der Linken weithin anerkannt ist, dominiert die verbreitete Vorstellung eines linear aufsteigenden politischen Organisationsprozesses: am Anfang steht der Protest und die Bewegung, darauf folgt der Aufbau einer neuen und/oder der Umbau alter linker Parteien, die schließlich antritt, um Wahlen für sich zu entscheiden, die Macht zu erobern und die „richtige“ Politik umzusetzen. Bewegungen haben ihren Platz, aber die Vorstellung von Machteroberung bleibt altmodisch, parlamentszentriert, etatistisch. Doch dieses traditionelle Verhältnis zur Regierung „ist nicht mehr tragfähig. Der Staat kann nicht bereitstellen, was Menschen benötigen“ (Karitzis 2015)

Stattdessen müsste klar sein, dass die Übernahme der institutionellen Regierungsmacht nicht der Moment der Ablösung des Bewegungsmoments ist. Mit dem Regierungsantritt müsste vielmehr der Bewegungsmoment noch verstärkt, Selbstorganisierung in allen Bereichen gestärkt werden. Es müssten neue verbindende Praxen zwischen den unterschiedlichen Funktionen von Regierung, Partei, Bewegung und gesellschaftlicher Selbstorganisationen entwickelt werden - statt stellvertretend für die Bewegungen und die Wähler zu agieren und von Fall zu Fall die Bewegungen anzurufen, um für die Regierung zu mobilisieren.

Zentral wäre dabei nicht nur die Gewährleistung der Autonomie der Bewegungen, sondern auch der Partei gegenüber der Regierung. Syriza drohte von Anfang an „die Gefahr einer vollständigen Vereinnahmung durch Regierungsverpflichtungen, unter Aufgabe des wichtigsten Bestandteils der bisherigen Erfolgsstrategie der Partei“, so Elena Papadopoulou (2015), Staatssekretärin im Finanzministerium. Dagegen gelte es, "die eigene Präsenz im sozialen Feld aufrechtzuerhalten und sogar auszubauen“ (ebd.). Podemos als wichtigste Partei im evtl. neuen Regierungsbündnis hat dafür keine geeignete Struktur, extrem hierarchisch, fragil, mit geringer innerparteilicher Demokratie. Hier kann die Vereinigte Linke mit ihrer Erfahrung eine stabilisierende Rolle spielen. Die aus den kommunalen Plattformen entstandenen Bündnisse, die als Teil von Unid@s Podemos angetreten sind, verfügen wiederum über enge Beziehungen zu den Bewegungen und Nachbarschaftsräten. Darauf liesse sich aufbauen.

Es bedarf dazu eigener „stabiler Institutionen“ (Porcaro) jenseits des Staates, die heute zur Partei und morgen zur Linken Regierung einen Gegenpol bilden können. Es gilt eine „materielle Macht“ (Giovanopoulos) auszubilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie generiert, um gegenüber den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten - der oft zitierte Plan C. Die bereits existierenden und zu stärkenden Solidaritätsstrukturen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein.

Nur in der Verbindung von populärer Gegenmacht und linker Regierung entwickelt sich eine echte Machtoption. Es braucht die rebellischen Nachbarschaften, ihren zivilen Ungehorsam und es braucht eine rebellische, ungehorsame Regierung - besser mehrere.