Nachricht | Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - Soziale Bewegungen / Organisierung - Westasien - Türkei Putschversuch und Staatsstreich in der Türkei

Es schien, als sei die Zeit der Militärputsche in der Türkei abgelaufen. Der 15. Juli 2016 versuchte das Gegenteil zu beweisen und scheiterte. Trotzdem ist die parlamentarische Demokratie de facto ausgesetzt.

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Militärputsche und Putschversuche sind in der türkischen Geschichte keine Seltenheit. Das Militär verstand sich als Bewahrer der Türkischen Republik und ergriff 1960, 1971 und 1980 die Macht. Zuletzt fand 1997 ein «sanfter Putsch» der Militärs statt, als sie eine Regierung unter Führung der islamischen Refah-Partei zur Auflösung forcierten. Anders als in den früheren Putschen ergriffen die Militärs 1997 nicht direkt die Macht, sondern beschränkten sich darauf, die Refah-Partei von der Regierungsführung zu drängen. Dies schien darauf hin zu deuten, dass die Zeit der Militärputsche abgelaufen ist und in Zukunft weniger wahrscheinlich sein würde.

Nur wenige Jahre später (2002) kam mit der islamisch-konservativen AKP eine der Refah-Nachfolgeparteien an die Macht. Die AKP hat, um sich das Schicksal der Refah-Partei zu ersparen, die politische Macht und die Eigenständigkeit der Armeeführung systematisch eingedämmt. In großen Schauprozessen ab 2007 wurden vermeintliche Putschpläne der Militärs zum Anlass genommen, hunderte Militärs festzunehmen. Die Armeeführung wurde unter AKP-Kontrolle gebracht und so die Gefahr eines erfolgreichen Putsches weitgehend ausgeschlossen. In den Folgejahren waren sich politische BeobachterInnen weitgehend einig darin, dass es so bald nicht zu einem Putsch oder Putschversuch kommen würde. Für fast 10 Jahre schien diese Prognose zu stimmen.

Die Gefahren für die AKP-Regierung verlagerten sich weg vom Militär, hin zu anderen, neuen Gegnern. Die islamische Gülen-Bewegung, ein treuer Verbündeter der AKP bei der Machtsicherung im Staate, und die AKP zerstritten sich über die Frage, wer welchen Anteil im Staatsapparat erhalten sollte. Die Gülen-Bewegung hatte sich insbesondere bei der Polizei und in der Justiz festgesetzt und nutzte diese Institutionen im Machtkampf gegen Erdogan und die AKP. So ist es wenig überraschend, dass die AKP wiederum versuchte, diese Institutionen wieder zurück zu erobern und die Gülen-Bewegung aus ihnen zu verdrängen. Inzwischen ist dieser Machtkampf weitgehend entschieden und die Gülen-Bewegung stellt keine reale Bedrohung mehr für die AKP-Regierung dar.

Mit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 schien sich die türkische Geschichte zu wiederholen. Allerdings zeigt es sich recht bald, dass die Putschisten nicht ausreichend Unterstützung im Militär und in den übrigen Sicherheitsorganen mobilisieren konnten und die Armeeführung sich ebenfalls dem Putsch verweigerte. Ein weiterer, entscheidender, Unterschied zwischen dem Putschversuch 2016 und dem erfolgreichen Militärputsch 1980 liegt bei der Massenbasis der Regierungspartei AKP. Anders als die regierenden Parteien vor 1980 hat die AKP eine große und stabile Basis von etwa 40 Prozent der Bevölkerung, die seit 2002 recht konstant die AKP gewählt haben. Erdogan und die AKP haben diese Menschen gegen die Putschisten auf die Straße mobilisiert und diese damit noch weiter unter Druck gebracht. Nach wenigen Stunden wurde der Putschversuch niedergeschlagen und die Putschisten gaben auf. So taucht die Frage auf, ob die Organisatoren des Putschversuchs die Macht- und Loyalitätsverhältnisse im Militär und Staat völlig falsch eingeschätzt haben oder trotz der schlechten Aussichten einen letzten Versuch wagen wollten, bevor die Armee vollständig unter AKP-Kontrolle fällt.

Erdogan und die AKP-Regierung nutzen den fehlgeschlagenen Putschversuch nun zu einem Staatstreich. Der Staatsapparat wird von allen Kräften «gesäubert», die nicht gänzlich AKP-getreu sind. Über 60.000 Staatsbedienstete wurden entlassen, darunter auch Zehntausende LehrerInnen und WissenschaftlerInnen. Mehr als 15.000 Menschen wurden festgenommen, über 8.000 von ihnen verhaftet. Menschenrechtsorganisationen berichten von Folter an gefangengenommenen Putschisten. 1500 Institutionen (Vereine, Gewerkschaften, Schulen, Stiftungen uvm.) wurden geschlossen. Für drei Monate wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, wodurch die Bürgerrechte stark eingeschränkt werden und die Regierung durch Verordnungen vorbei am Parlament regieren kann. Erdogan hat bereits angekündigt, dass der Ausnahmezustand möglicherweise verlängert wird. Die parlamentarische Demokratie ist so de facto ausgesetzt. Erdogan und die AKP werden den Ausnahmezustand nutzen, um das von ihnen gewünschte Präsidialsystem weiter voranzutreiben und alle Konkurrenten um die politische Macht auszuschalten oder zumindest einzudämmen.

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