Nachricht | International / Transnational - Krieg / Frieden - Europa - Rosa-Luxemburg-Stiftung Frankreich: Arrêtez – Hört auf!

Es reicht. Der ständige Terror wird auch die französische Linke verändern.

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Autorin

Johanna Bussemer,

Tristesse et colère – Trauer und Wut – heißt es heute Nacht auf den Facebook-Accounts meiner französischen Freunde. Abermals sind Menschen Opfer einer terroristischen Attacke geworden, diesmal mindestens 84 im südfranzösischen Nizza. Noch sind die politischen Hintergründe unklar. Noch weiß niemand, ob es sich um einen mehr oder weniger organisierten terroristischen Akt oder um einen Einzeltäter handelt.

Eigentlich ist das jedoch fast nebensächlich. Denn klar ist: Frankreich wird weiterhin von einer Welle der Gewalt erschüttert, die nach Paris – zählt man die eng mit den Pariser Attentaten verzahnten in Brüssel im April dazu – beinah alltäglich zu werden scheint. Klar ist auch: das Attentat von Nizza wird das Land weiter verändern.

Als ich gestern am frühen Abend die Bilder von der alljährlichen Militärparade zum 14. Juli – dem seit 1789 gefeierten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, Symbol der Geburtsstunde der französischen Demokratie – auf der Pariser Champs Élysées sah, dachte ich noch: Wie merkwürdig ist es, dass egal was einem Land widerfährt, wie sehr sich unsere Welt verändert, manche Bilder immer gleich bleiben. Ich erinnerte mich daran, dass in meiner Kindheit in den 1980iger Jahren der in Frankreich offen zur Schau gestellte Militarismus und der Umgang mit Nationalsymbolik der größte wahrnehmbare Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland gewesen ist, in der dies nach 1945 kaum noch oder zumindest sehr verzagt geschah.

Was es bedeutet «links» zu sein, schien mir in Frankreich aus diesem Grund auch immer klarer als in Deutschland. War man in Frankreich links, dann war man gegen dieses post-koloniale, militaristische, in weiten Teilen von erzkatholischen Werten geprägte Frankreich. Man las Rimbaud, Foucault und Simone de Beauvoir. Die Gewerkschaften und sozialen Proteste waren stärker als in Deutschland, die 35-Stunden-Woche unantastbar. Es gab echte linke Parteien und, da es nach dem Zweiten Weltkrieg keinen totalen Zusammenbruch der Rechten wie in Nazideutschland gegeben hatte, auch immer im Parteiensystem etablierte Rechte, gegen die es zu kämpfen galt.

Die terroristischen Attacken in Frankreich können die französische Linke jedoch auf lange Zeit ins Wanken bringen. Denn es gehörte unter anderem zu ihren Identitätsmerkmalen, die französischen Verbrechen in Nordafrika und zum Beispiel das Massaker von Paris, bei dem 1961 mehr als 200 friedlich für die Unabhängigkeit ihres Landes demonstrierende Algeriern getötet wurden, zu kritisieren. Und natürlich ist es eine grobe und auch absehbare und langjährige Unterlassung der französischen Innenpolitik, die jungen aus Nordafrika stammenden Attentäter, deren Identität sich genau aus dieser grausamen Geschichte Frankreichs speist, nicht integriert zu haben. Diese sitzen nun dem «Islamischen Staat» oder anderen terroristischen Aktivitäten auf, die in eine Linie mit Dallas, Bagdad und Istanbul zu stellen sind.

Marine Le Pens rechter Front National (FN) hingegen weiß natürlich jedes dieser Ereignisse geschickt für sich zu nutzen. Aus den sexualisierten, gewalttätigen Übergriffen der Kölner Silvesternacht schmiedete sie rasch einen modernen, weißen und rassistischen Pseudofeminismus. Bei den Kommunalwahlen im Dezember 2015, die noch stark unter dem Eindruck der Pariser Attentate standen, erreichte der FN in vielen ländlichen Regionen Frankreichs spielend um die 40 Prozent. Bastionen gegen diese Entwicklungen blieben Ballungsräume wie an der Côte d`Azur, in denen es immer viel Einwanderung gab und gibt. «Dort wo viel Einwanderung stattfindet, wissen die Menschen, dass das gut funktionieren kann», sagten viele.

Doch die Gewissheit, dass ein gelebtes friedliches Miteinander auch das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt, wird von den Attentaten unterhöhlt. Frankreich wird seit letztem November im Ausnahmezustand regiert. Polizei und Militär sind überall präsent. Die sozialen Proteste gegen das Loi travail – das neue Arbeitsgesetz, bekannt geworden als die im ganzen Land aktive Bewegung «Nuit debout» –  wurden von der Polizei oft mit grausamer Gewalt niedergeschlagen. Der politisch schwache Sozialdemokrat Hollande regiert mit starker Hand.

Frankreich verteidigt sich. Nach innen und nach außen. Damit verändert sich auch das gestern noch antiquiert erscheinende Bild der Militärparade und wird zum Bild eines Landes, das sich im Kriegszustand befindet. Es wird nach Nizza noch schwerer werden, die Wut in eine Debatte über die sozialen Ursachen dieses Zustandes umzuwandeln.

Johanna Bussemer ist Leiterin des Europa-Referats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie hat immer wieder Zeiten ihres Lebens in Frankreich verbracht.