Das in Paris unterzeichnete Klimaabkommen, in dem sich die „Weltgemeinschaft“ verpflichtet, die globale Erwärmung auf „deutlich unter zwei Grad Celsius“ zu beschränken, tritt überraschend schnell in Kraft. Viel früher, als es sogar Optimisten für möglich gehalten hätten, denn das nötige Quorum von 55 Ländern, die für 55 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sind, ist erreicht. Einerseits.
Andererseits tritt ein Großteil eben dieser „Weltgemeinschaft“ weiter auf das Wachstumsgaspedal. Zwar kommt der Ausbau der erneuerbaren Energien durchaus voran; inzwischen wird sogar mehr erneuerbare als fossile Kraftwerkskapazität installiert. Jedoch steigt die – wachstumsgetriebene - Nachfrage nach Energie noch immer an; und eine drastische Drosselung der Verbrennung fossiler Brennstoffe ist nicht in Sicht.
Einerseits sonnt sich die deutsche Regierung auf der internationalen Bühne in ihrer Rolle als Klimaschutzvorreiter, und schmückt sich mit allerlei Lorbeeren. Andererseits kassiert sie mit der zweiten Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Frühjahr 2016 einen der effektivsten und demokratischsten Ausbaumechanismen eben dieser Energien. Einerseits verabschiedet Kanada ein Gesetz, das den Preis von Treibhausgasemissionen deutlich nach oben treiben soll. Andererseits forciert die kanadische Regierung mit den Teersanden einen der klimaschädlichsten Energieträger überhaupt, inklusive der Pipelines, die diesen fossilen Reichtum zu den Abnehmern bringen sollen. Einerseits verabschiedet die globale Luftfahrtindustrie einen Plan, bis Mitte des Jahrhunderts ‚emissionsneutral’ zu sein. Andererseits meint eben dieser wohlklingende Plan, dass nicht weniger, sondern mehr geflogen wird. Verdeckt wird dies mithilfe der Idee der Offset-Mechanismen, mit denen es möglich ist, dass sich die Emittenten mit Zertifikaten aus oftmals fragwürdigen Klimaschutzprojekten im Globalen Süden von ihrer Klimaschuld freikaufen.
Never trust a COP?
Wo steht die Klimagerechtigkeitsbewegung ein Jahr nach Paris und wie ist die Stimmung vor COP22?
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Das sind nur ein paar Beispiele, die die Komplexität des Prozesses verdeutlichen, der mit Paris noch längst nicht in seine finale Zielgerade eingeschwenkt ist. Diese widersprüchlichen Entwicklungen sind der Kontext, in dem wir den UN-Klimagipfel COP 22 in Marrakesch und das, was wir von ihm erwarten können, verstehen müssen.
Konkrete Weichenstellungen statt Sonntagsreden
Im Rahmen der internationalen Klimazivilgesellschaft, sprich, der NGOs und Umweltverbände – die seit Jahren, manche seit Jahrzehnten, diese Gipfel begleiten - wird die COP 22 gern als „Aktions-COP“ bezeichnet, nachdem der Pariser Klimagipfel die „Entscheidungs-COP“ war. Mit anderen Worten: Das inhaltlich noch äußerst schwachse Vertragswerk muss nun mit konkreten politischen Maßnahmen und Verpflichtungen gefüllt werden. Hier müssen die Unterzeichnerstaaten des Pariser Abkommens beweisen, dass sie in der französischen Hauptstadt und in den vielen Monaten seitdem nicht nur Sonntagsreden gehalten haben. Hier müssen sie zeigen, dass Paris mehr ist als ein bloßer diplomatischer Erfolg, sondern ein tatsächlicher Erfolg für die Menschheit – so wie es die vielen enthusiastischen Stimmen im Freudentaumel nach Unterzeichnung des Vertragswerks riefen.
Was heißt das genau? Erstens bedeutet das, dass die Staaten genau festlegen müssen, welche Modalitäten für die Reduktion von Emissionen gelten sollen. Zwar hat sich ein Großteil der Staaten unverbindliche Klimaziele gesetzt, die sogenannten INDCs. Die aber reichen in der Summe längst nicht aus, um auch nur ansatzweise das Zwei-Grad-Limit, geschweige denn das 1,5-Grad-Limit einzuhalten. Angesichts der wachsenden Kluft zwischen Ziel und tatsächlichem Emissionsausstoß steigt zudem der Druck, im großen Stil auf riskante und unsichere Technologien zu setzen, die das CO2 wieder aus der Atmosphäre holen sollen.
Zweitens geht es weiterhin darum, darüber zu verhandeln, wer die Hauptlast für Emissionsreduktion und die inzwischen unvermeidbare Anpassung an die Folgen des Klimawandels schultern muss. Die Zielmarke hierfür liegt bei 100 Milliarden Dollar, die ab 2020 Jahr für Jahr in den Globalen Süden fließen sollen – ein Wert, den die Verursacherstatten versuchen, mit allerlei Rechenkünsten und einigen realen Zahlungen zu erreichen, von dem sie aber de facto noch sehr weit entfernt sind.
"Loss & Damage" als zentrale Gerechtigkeitsfrage
Drittens haben die ärmsten und verwundbarsten Länder in Paris einen weiteren Themenkomplex im internationalen Klimaregime verankert, der weit über die Themen Emissionsreduktion und Anpassung hinausgeht: die Frage, wer für die bereits eintretenden klimawandelbedingten Schäden und Verluste aufkommt. Diskutiert wird das unter der Überschrift „Loss & Damage“, fest verankert in Artikel 8 des Pariser Abkommens. Konkret geht es darum, dass der Klimawandel kein Zukunftsphänomen ist, sondern schon heute Menschen die Lebensgrundlage zerstört – dadurch dass Dürren Landwirtschaft unmöglich machen, der ansteigende Meeresspiegel die Grundwasservorräte unwiederbringlich versalzt oder – wie bei den pazifischen Inselstaaten - ganze ganze Staatsgebiete im Meer versinken. Brisant ist diese Frage vor allem deshalb, weil es hierbei um Schäden weit jenseits der jährlichen 100 Milliarden Dollar geht sowie um den Verlust von Werten und die Übernahme von Verpflichtungen, die sich gar nicht in Geld berechnen lassen. „Loss & Damage“ ist ganz grundlegend Ausdruck der ökologischen Schuld, die der globale Norden gegenüber dem globalen Süden beziehungweise die die globalen Eliten gegenüber der übrigen Mehrheit angehäuft haben.
Einer der Gründe, warum wir in Marrakesch präsent sein werden, obwohl wir unsere Skepsis gegenüber den offiziellen Verhandlungsprozessen mitnichten aufgegeben haben, ist es diese Debatte zu verfolgen. Denn ohne Anerkennung der ökologischen Schulden wird es keine Klimagerechtigkeit, und ohne diese auch keinen Klimaschutz geben. In diesem Sinne: Auf nach Marrakesch!
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UN-Klimagipfel
Unser Dossier zu COP 22 in Marrakesch
Wir sind vor Ort, beobachten die Verhandlungen, begleiten die Klimagerechtigkeitsbewegung, diskutieren mit verschiedenen AkteurInnen zentrale Themen und berichten kritisch.