Ein "Handbuch deutscher Zeitgeschichte von 1945 bis 2000", das die Themenbereiche "Gesellschaft - Staat - Politik" behandeln will, ist nicht leicht zu realisieren. Denn über weite Strecken des genannten Zeitraumes gab es jeweils zwei Gesellschaften, zwei Staaten und zwei Politiken, die sich deutlich unterschieden. Dies ist den Herausgebern bewußt, und sie haben deshalb die Zielsetzung des Handbuchs mit den Worten charakterisiert, "die globale und theoriefundierte Kenntnis und Darstellung der Entwicklungslinien der beiden deutschen Gesellschaften bis 1989/90 sowie die Transformation der deutschen Gesellschaft danach" zu vermitteln. Nicht weniger als vierzig Autoren aus West und (vor allem) aus Ost, die unterschiedlichen Generationen angehören, waren in das Projekt einbezogen. Im Zentrum steht "die politische Geschichte Deutschlands sowie die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung".
Das Handbuch, das "eine analytische und keine chronologisch-kommentierte Zeitgeschichtsforschung" präsentieren will und dessen Beiträge als "Ergebnis einer historischen Gesellschaftsanalyse" charakterisiert werden, ist in drei Abschnitte aufgeteilt: "Historischer Überblick", "Schwerpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung in beiden deutschen Staaten" (Deutschlandproblematik, politische Systeme, Rechtssysteme sowie Opposition und Widerstand) und "Entwicklung der Politikfelder". Die Problematik einer "Darstellung von deutscher Geschichte angesichts der Existenz zweier deutscher Staaten" thematisiert Jörg Roesler gleich zu Beginn seines ausführlichen Einleitungsessays. Dabei entwickelt er den Ansatz einer "Geschichte beider deutscher Staaten als Bestandteil einer deutschen Nachkriegsgeschichte" unter dem Primat ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Er stellt eine - im wesentlichen übereinstimmende - Periodisierung der Entwicklung der beiden deutschen Staaten vor. Dabei arbeitet er für jede Phase die Unterschiede, die Gemeinsamkeiten und die wechselseitigen Beziehungen und gegenseitigen Bezugnahmen zwischen der Bundesrepublik und der DDR heraus.
Diese Vorgehensweise erscheint durchaus überzeugend. Störend ist jedoch, daß Roesler in vielerlei Hinsicht Wertungen vertritt, die durchaus problematisch sind. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist für ihn ein "Anschluß". Er begründet dies mit einer staatsrechtlichen Definition, für deren Beleg er ein eigenes Zitat anführt. Für ihn gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen Bundesrepublik und DDR, und die Politik Stalins nach 1945 wird von ihm ohne Einschränkungen als defensiv angesehen. Merkwürdig ist auch eine auf 1989/90 bezogene Formulierung, daß die Sowjetunion "die Schutzfunktion" aufgab, "die sie bisher gegenüber ihren Verbündeten in Osteuropa übernommen hatte". Die Aufgabe der Breschnew-Doktrin kann sicherlich nicht als Ende eines Schutzes interpretiert werden, es sei denn eines Schutzes der regierenden Kommunisten vor der eigenen Bevölkerung.
Ähnliche Probleme im Umgang mit der DDR-Vergangenheit haben auch andere Autoren mit einer DDR-Biographie. Wilfriede Ottos Beitrag ist ein gutes Beispiel für die Unsicherheit mit politischen Wertungen. So finden sich bei ihr immer wieder Formulierungen, die ein positives Urteil über die SED enthalten, wie folgende Sentenz belegt: "In ihren Grundsätzen und Zielen vom April 1946 bekannte sich die SED ausdrücklich zu demokratischen Forderungen und zu einem demokratischen Weg zum Sozialismus." Die rüden Methoden, mit denen die SED ihre politischen Vorstellungen anschließend durchsetzte, werden mit eher euphemistischen Formulierungen beschrieben: "Eigenständige politische Ansatzpunkte der bürgerlich-demokratischen Parteien gerieten jedoch nach 1948 mit politischem Geschick, Bevormundung und Pressionen mehr und mehr in das Fahrwasser der SED-Politik." Ähnliche, leicht beschönigende Beschreibungen sind in diesem Beitrag immer wieder anzutreffen: "Die DDR trat mit einer demokratischen Verfassung an, verzichtete jedoch auf einen regulären Wahlakt." An anderer Stelle wiederum sind die Urteile entschiedener und angemessener, so wenn Wilfriede Otto feststellt, daß "der Wahlvorgang im Oktober 1950 das Verfassungsrecht" verletzte und damit "ein weichenstellendes Demokratiedefizit in der DDR implantiert worden" sei. Sehr viel eindeutiger fallen die Urteile Volkmar Schönbergs über das Rechtssystem in der DDR aus. Er verweist auf die Problematik des Artikels 6 Absatz 2 der DDR-Verfassung, mit dessen Hilfe "fast jede Kritik an der herrschenden Politik und nicht genehme politische Gesinnungen strafrechtlich verfolgt" werden konnten. Ebenso entschieden wie unanfechtbar ist auch seine Feststellung, daß "in der DDR zu jeder Zeit die Möglichkeit bestand, Recht und Justiz zur machtpolitischen Disposition" zu stellen beziehungsweise verfügbar zu machen.
Am besten gelungen erscheinen die Beiträge über die "Entwicklung der Politikfelder". Hierin werden fast alle Teilgebiete der Politik - angefangen mit der Außenpolitik über die Verteidigungs- und Militärpolitik, die Wirtschafts- und Agrarpolitik, die Arbeits- und Sozialpolitik, die Familien-, Jugend- und Bildungspolitik, die Wissenschafts-, Forschungs-, Kultur- und Sportpolitik, die Wohnungs-, Verkehrs- und Umweltpolitik bis zur Kirchen-, Flüchtlings- und Ausländerpolitik - im deutsch-deutschen Vergleich in knapper, aber überzeugender Form behandelt. Dies hat es bisher in dieser Form nicht gegeben. Insofern leistet das Handbuch Pionierarbeit.
Beigefügt ist dem Handbuch eine CD-ROM. Sie enthält eine ausführliche Zeittafel, eine umfassende Bibliographie sowie ein annotiertes Personenverzeichnis, das die in den Beiträgen des Handbuchs erwähnten Personen der Zeitgeschichte mit biographischen Angaben aufführt. Die CD-ROM ist eine durchaus nützliche Ergänzung des Handbuchs. Das Gesamturteil über dieses Projekt über die "Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000" fällt zwiespältig aus. Die Beschränkung auf Deutschland erscheint auch im Zeitalter der Globalisierung legitim, und der Versuch, die beiden deutschen Nachkriegsgeschichten zusammenzuführen, verdient Anerkennung. Die Anlage des Buches hat jedoch zu erheblichen Redundanzen geführt. Störender als diese sind aber unverkennbare Probleme etlicher Autoren in der Urteilsbildung. Die Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik hat sich stets an demokratischen Grundprinzipien orientiert und hieraus ihre Bewertungen abgeleitet. In vorliegendem Band haben sich nicht alle Autoren an dieser Vorgabe orientiert, und sie vermitteln ein Geschichtsbild, das den unaufhebbaren Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur verwischt. Udo Wengst
Clemens Burrichter/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Herausgeber): Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft - Staat - Politik. Ein Handbuch. Karl Dietz Verlag, Berlin 2006. 1357 S., 98,- [Euro].
Text: F.A.Z., 14.06.2006, Nr. 136 / Seite 8
Pressemeldung | Probleme der Urteilsbildung
Deutsch-deutsche Zeitgeschichte im Handbuch: Unterschiede zur Diktatur werden sogar verwischt (F.A.Z., 14.06.2006)