Publikation Bildungspolitik - Gesellschaftstheorie Von Honig und Hochschulen

Dreizehn gesellschaftskritische Interventionen. Zehntes DoktorandInnenseminar der RLS

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Reihe

Manuskripte

Herausgeber*innen

Stefan Kalmring, Grit Jilek, Stefan Müller,

Erschienen

November 2007

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Nur online verfügbar

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Inhalt

Vorwort

ANIKA WALKE: Jüdischer Überlebenskampf und offizielle sowjetische Kriegserinnerung. Biographische Erzählungen im Kontext von kollektivem Gedächtnis und Erinnerungspolitik

CHRISTOPHER NSOH: EU-Extra-Territorial Camps: Transit Processing Centres in Ukraine and Regional Protection Areas in Libya as Instruments for Migration Management

PATRICIA RENDÓN GALVÁN: Die ‚anderen’ Medien in Kolumbien

MATTHIAS LEANZA: Die Thematisierung von Depressionen in den Printmedien – Zum Verhältnis von Gouvernementalität und Inklusion

TORSTEN FELTES: Die Macht der Zahlen. Anmerkungen zum Wissenschaftsverständnis unserer Zeit

SANDY EL BERR: Vom Ökoheiligen zum Umweltzerstörer und zurück: Indigenes Wissen in der Entwicklungszusammenarbeit

JAMILA SMANALIEVA: Honigproduktion in Deutschland und Kirgisistan

GRIT JILEK: Jüdische Autonomie – Historische Tradition und innerjüdische Verwandlungen in der Moderne

JANNE MENDE: Antirassismus als Selbstermächtigung? Rassismus und Anti-Bias-Training aus Kritisch-Psychologischer Sicht

STEFAN MÜLLER: Die (mindestens) acht Probleme der Dialektik

STEFAN KALMRING: Anschlussmöglichkeiten an Marx? Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer produktiven Beschäftigung mit einem sozialphilosophischen Klassiker

ERSIN YILDIZ: Zur politischen Theorie der Frankfurter Schule

MICHAEL GEIGER: Naturwissenschaftsunterricht und Zivilgesellschaft


Vorwort

Die vorliegenden Beiträge, die anlässlich des 10. interdisziplinären Doktorand/innen-Kolloquiums der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden sind, wurden allesamt in kritischer Absicht verfasst. Dass sie anecken, dass sie dem Zeitgeist widerstehen, ist kein unbeabsichtigtes Ergebnis. Es gehört vielmehr zum Wesen einer kritischen Wissensproduktion, scheinbar selbstverständliches aufzubrechen, stillschweigende Voraussetzungen zu hinterfragen, das Allgemeine mit dem Konkreten zu konfrontieren und das Individuelle mit dem Universalen, minoritäre Blickwinkel eine Stimme zu geben, Irritationen zu provozieren und damit Widerspruch zu ihren eigenen Einsprüchen hervorzurufen. Tut sie das nicht, hat sie ihren Gegenstand, oder aber ihren Zugriff (noch) nicht gefunden. Ihr Beruf besteht darin, die schlechte und leider verfestigte soziale Praxis der bestehenden Gesellschaften auf verschiedenen Ebenen in der Absicht zu reflektieren, Spalten im unwohnlichen Bau der kapitalistischen Wirklichkeit zu finden, die helfen können, hinauszufinden oder ihn wenigstens fürs erste so zu verändern, dass er etwas wohnlicher wird. Kritische Wissenschaft kollidiert folglich mit den Interessen all jener, die beharrlich am bestehenden Zustand der Welt festhalten. Der versachlichte Mechanismus kapitalistischer Ökonomien drängt zur Anpassung und Selbstverleugnung. Kein Wunder also, dass eine emanzipativ gesinnte Wissenschaft nur zu oft nicht nur von denen als unangebracht abgetan wird, die unmittelbar von den bestehenden Verhältnissen profitieren, sondern auch von jenen, die unter ihnen leiden.

Was uns auch immer die Vertreter/innen eines immer noch dominierenden Neoliberalismus glauben machen wollen, Anlässe für Gesellschaftskritik gibt es zuhauf. Phänomene sozialer Ausgrenzung, eine verfestigte Massen- und Dauerarbeitslosigkeit, autoritärstaatliche Tendenzen und ökologischer Verwerfungen sind genauso zu nennen, wie Geschlechterdiskriminierungen, ein virulenter Rassismus und Antisemitismus oder auch die Abkopplung ganzer Weltregionen aus dem Weltmarkt. Angesichts solcher Problematiken kann es sich Kritik nicht leisten, selbstgenügsam zu sein. Sie will und muss praktisch werden. Die Zeiten, in denen jedoch die Frankfurter Schule oder auch die Kritik der Politischen Ökonomie ein bevorzugtes Anrecht auf die Formulierung der Kritik und der an sie anschließenden Praxis hatten, scheinen jedoch mehr oder weniger vorbei zu sein – eine angemessene Aktualisierung, wie sie in einigen Beiträgen des vorliegenden Bandes versucht wird, ist deshalb umso notwendiger. Darüber hinaus werden unterschiedliche Ansätze herangezogen, um sie auf unterschiedlichen Feldern mit scharfer Klinge und spitzer Feder zur Geltung kommen zu lassen. Der Verlust des Übergewichts der ehemals dominierenden Ansätze muss dabei kein Mangel sein. Werden verschiedene Hebel an verschiedenen Stellen angesetzt, so gelingt es vielleicht eher, aus dem versteinerten Gehäuse ein paar Brocken herauszubrechen. Vielfalt in den Themen und Ansätzen ist als eine Stärke, nicht als Schwäche zu begreifen.

Sowenig ein Mangel an Anlässen für kritische Interventionen besteht, so prekär sind gegenwärtig die Bedingungen für ihre Artikulation, gerade auch an den Universitäten. Nicht nur die Vertreter/innen des alten ML, sondern auch jene kritischer und innovativer Ansätze sind nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern mit einem Federstrich aus den Universitäten entfernt worden. In Westdeutschland geht die im Zuge der Protestbewegung der 1960er Jahre an die Universitäten gespülte Generation der Hochschullehrer/innen mehr oder weniger geschlossen in Pension, ohne dass sie in größerem Umfang einen entsprechenden Nachwuchs im universitären Betrieb hätte platzieren können. Die in den letzten Jahren vorgenommenen Kürzungen im Bildungsbereich wurden gleich auch dazu genutzt, kritische Positionen weiter zu marginalisieren. Es gibt mittlerweile ganze sozialwissenschaftliche Fachbereiche und Institute, in denen der Neoliberalismus ganz ohne Gegenpositionen waltet. Aber schlimmer noch. Die im letzten Jahrzehnt durchgeführten Hochschulreformen, die Etablierung der Master- und Bachelor-Studiengänge, die Einführung von Studiengebühren, die Elite-Initiativen und die zunehmende Wettbewerbsorientierung der Universitäten haben die Freiräume in Forschung und Lehre extrem eingeengt. So wichtig der gegenhegemoniale Kampf um das universitäre Feld in den nächsten Jahren auch sein wird, der "log-in Effekt", den der Neoliberalismus für sich verbuchen konnte, wird nur schwer wieder rückgängig zu machen sein. Umso wichtiger ist es, eine kritische Wissensproduktion trotz einer mangelhaften Ausstattung mit Ressourcen auch außerhalb der Universitäten zu organisieren.

Die RLS kann und wird hier eine wichtige impulsgebende Institution sein, indem sie bei der Neuorganisation einer kritischen Bildungsarbeit, wie einer kritischen Wissenschaft, unterstützend wirkt. Die Aufgabe ist groß und scheint manchmal kaum zu bewältigen, dennoch muss sie angegangen werden.

Wir danken allen, die an der Entstehung des Sammelbandes mitgewirkt haben, dem Studienwerk der RLS, den Mitarbeiter/innen des Dietz-Verlags, den Autor/innen und auch den Dozent/innen, die renitent-beharrlich immer noch kritische Dissertationsprojekte betreuen.

Grit Jilek, Stefan Kalmring & Stefan Müller