Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - International / Transnational - Europa Machtwechsel im Kreml

Eine Wahlnachlese von Peter Linke, RLS-Büro Moskau.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Peter Linke,

Erschienen

März 2008

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Nur online verfügbar

Eine Wahlnachlese

Am 2. März 2008 wurde der 42jährige Dmitrij Medwedjew zum jüngsten Staatsoberhaupt Russlands seit 1917 gewählt. Für ihn votierten 52,5 Millionen Russinnen und Russen oder 70,28 % aller Wahlberechtigten.

In jedem westlichen Land wäre das Wahlergebnis Medwedjews eine Sensation gewesen. Allerdings kann angesichts der Tatsache, dass das Ergebnis lange vor dem Wahltermin feststand (wofür das weitgehende elektronische Medienmonopol des Kreml ebenso wie die politisch-psychologische Dominanz des so genannten Putin-Plans gesorgt hatten), davon nicht wirklich die Rede sein. Im allgemeinen Siegesrausch ging unter, dass für Medwjedew (wie seinerzeit für Wladimir Putin) nur eine hauchdünne Mehrheit der Wählerinnen und Wähler gestimmt hatte. Auch war es ihm nicht gelungen, das Resultat seines Ziehvaters, des amtierenden Präsidenten, aus dem Jahre 2004 (71,3 %), zu erreichen. Oder jene 75,3 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen, über die summarisch jene vier Kreml-Parteien („Einiges Russland“, „Gerechtes Russland“, „Zivile Kraft“ und „Agrarpartei“) verfügen, die seine Kandidatur unterstützt hatten. Für Beobachter, wie den Politologen Dmitrij Orlow Grund genug, in Medwedjew noch keinen „nationalen Führer“ zu sehen.

Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission lag die Wahlbeteiligung bei 69,8 Prozent, mit anderen Worten: an der Wahl beteiligten sich 74.849.260 Stimmberechtigte. Dies entspricht ungefähr dem Niveau der Präsidentschaftswahlen von 1996 (69,8 %) und 2000 (68,7 %) und liegt leicht über dem Ergebnis der letzten Duma-Wahlen 2003 (knapp 64 %) und Präsidentschaftswahlen 2004 (64,3%).

Im jüngsten Wahlkampf bestätigte sich eine grundlegende Tendenz russischer politischer Wirklichkeit: alle Anstrengungen der „Machtpartei“ zielten auf eine möglichst hohe Wahlbeteiligung. Auf den Straßen gab es so gut wie keine Portraits und Wahlaussagen Medwedjews, nur den Hinweis darauf, dass „am 2. März die entscheidenden Wahlen des Landes“ stattfänden.

Russische Experten begegnen den offiziellen Angaben zur Wahlbeteiligung mit Skepsis. „Die Obergrenze der Wahlbeteiligung war bereits bei den Duma-Wahlen vergangenen Dezember erreicht worden“, so der Politologe Dmitrij Oreschkin. Eine noch höhere Wahlbeteiligung sei für ihn Ausdruck erheblicher Einflussnahme seitens der Exekutive. Laut Oreschkin habe die Staatsmacht im gesamtnationalen Maßstab die Möglichkeit, ihr genehme Kandidaten mit einem Stimmen-Extra von 8 bis 12 Prozent unter die Arme zu greifen (Internetportal NEWSRU.COM).

Journalisten und Aktivisten oppositioneller politischer Parteien und gesellschaftlicher Organisationen sowie Menschenrechtler begannen noch während der Stimmabgabe über diverse Verletzungen des Wahlgesetzes in verschiedenen Regionen des Landes zu berichten.

Die meisten Beobachter bezeichnen das Abschneiden Gennadij Sjuganows als gelungen. Für den KPRF-Vorsitzenden stimmten 17,7 Prozent (13,2 Millionen Wählerinnen und Wähler). Gleichwohl lohnt es, zu vergleichen: 1996 erhielt der kommunistische Kandidat 40,3 Prozent der Stimmen und im Jahre 2000 – 29,2 Prozent. Bei den Duma-Wahlen im vergangenen Dezember freilich erreichte die KPRF lediglich 11,6 Prozent.

Am Vorabend der Wahlen hatten viele Beobachter das weitere politische Schicksal Sjuganows davon abhängig gemacht, ob er persönlich ein besseres Ergebnis, als die Partei insgesamt erzielen würde. Nunmehr sind alle der Meinung, die Wahlergebnisse hätten dem Vorsitzenden der KP noch einige ruhige Jahre beschert. Gleichzeitig festigten die Wahlen die Position seines eventuellen Nachfolgers Iwan Melnikow, der Sjuganows Wahlstab geleitet hatte.

Im Unterschied zur Gesamtpartei 2007 bekam Gennadij Sjuganow die meisten Stimmen in landwirtschaftlichen Gebieten sowie in Regionen, die in den 90er Jahren zum so genannten roten Industriegürtel gezählt wurden. Bei den letzten Duma-Wahlen hatte die KPRF in den großen Städten (und hier vor allen den regionalen Hauptstädten) ihre beste Ernte eingefahren. Nach Meinung des Wahlforschers Alexander Kynew sei dies der Tatsache geschuldet gewesen, dass die Parlamentskampagne auf das gebildete Elektorat abzielte, während Sjuganow am besten in den Randgebieten angekommen sei.

Der Kandidat der Liberaldemokratischen Partei Wladimir Shirinowskij erhielt 9,3 Prozent oder knapp 7 Millionen Stimmen und damit mehr als seine Partei während der letzten Duma-Wahlen, wodurch er seine Stellung als Kreml-freundlicher Nationalist festigen konnte.

Andrej Bogdanow, Vorsitzender der so genannten Demokratischen Partei, wirkte unfreiwillig wie die Karikatur eines „Demokraten“. Mit seiner wenig realistischen Forderung nach einer russischen EU-Mitgliedschaft dürfte er Russlands Liberalen einen Bärendienst erwiesen haben. Bemerkenswert, dass Bogdanow mit 1,3 Prozent (oder rund 970.000 Stimmen) deutlich unter jenen 2 Millionen Unterschriften lag, die er für seine Kandidatur zusammen bekommen musste. Gleichwohl bedeutet dies keine weitere Niederlage der Liberalen, da Bogdanow eher als Gegenfigur zu den bekannten, von den Wahlen ausgeschlossenen Rechtsliberalen Michail Kasjanow und Garri Kasparow in den Ring geschickt worden war.

Bereits heute lässt sich einschätzen, dass von Medwedjew keine schnelle Liberalisierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens des Landes, eine neue Tauwetter-Periode zu erwarten ist. Auch wenn sich die Gesellschaft damit abgefunden hatte, war ihr das Fehlen ernsthafter Wahlkonkurrenz in den elektronischen Massenmedien bitter aufgestoßen.

Ebenfalls eher unwahrscheinlich: eine Verbesserung der Beziehungen mit dem Ausland. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass mit dem eher unerfahrenen Medwedjew Russlands internationaler Status eine Abwertung erfährt. Mit seiner skeptischen Reaktion auf die Wahlergebnisse hat der Westen bereits deutlich gemacht, Medwedjew weit weniger Vertrauensvorschuss als seinerzeit Putin gewähren zu wollen.

Somit erweisen sich Medwedjews angeblicher Liberalismus und prowestliche Orientierung schon heute als Mythos. Russlands designierter Präsident ist ein typischer Vertreter der neuen russischen Bürokratie, die den Westen kennt, ohne dessen offizielles Wertesystem gleich verinnerlichen zu wollen. Als Nationalkonservative begegnen sie dem Westen mit Misstrauen, sehen in ihm eher einen Konkurrenten denn einen Verbündeten. Putin konnte es sich nicht verkneifen, dies Angela Merkel in aller Offenheit mitzuteilen, als sie als erste westliche Regierungschefin dem neuen russischen Führungsduo Medwedjew-Putin ihre Aufwartung machte: „Medwedjew wird es weniger nötig haben, seine liberalen Ansichten unter Beweis zu stellen. Er ist im positiven Sinne kein schlechterer russischer Nationalist als ich, und mir scheint, unsere Partner werden es mit ihm nicht leichter als mit mir haben.“

Einmal mehr hat Russland einen rechtgläubigen Präsidenten gewählt. Im Unterschied zu seinem Amtsvorgänger hat Medwedjew nie einen Hehl daraus gemacht, im Alter von 23 Jahren in einer St.-Petersburger Kirche getauft worden zu sein. Sein großes religiöses Interesse ist offensichtlich: Zunächst leitete er den präsidialen Rat für die Entwicklung der Beziehungen mit religiösen Organisationen, später das entsprechende Organ innerhalb der Regierung. In letzter Zeit wird sein Name im Zusammenhang mit Gesetzesentwürfen über die weitreichende Rückführung von einst verstaatlichtem kirchlichem Eigentum genannt, deren Realisierung die Russisch-orthodoxe Kirche über Nacht zu einem der größten Landbesitzer Russland machen würde. Ebenfalls sehr engagiert in religiösen Angelegenheiten: Medwedjews Frau Swetlana, der seit vergangenem Jahr die Leitung des gemeinschaftlich von Kirche und Staat realisierten Programms „Die geistig-ethische Kultur der heranwachsenden Generation“ obliegt, wofür sie von Patriarch Alexij II bereits  hohe kirchliche Auszeichnung erhalten hat.

Was also ist von Medwedjew zu erwarten? Vor allem sollte er als realer Präsident wahrgenommen werden, der das Land tatsächlich regiert. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass er jenes System, wie es unter seinem Vorgänger entstanden ist, nicht demontieren wird. Wahrscheinlich wird er das Putinsche Modell der Wechselbeziehungen von staatlicher Bürokratie und Wirtschaft weiter nutzen, auch wenn tiefgreifende personelle Veränderungen nicht ausgeschlossen werden können. Oder wie es der Politologe Wladimir Milow mit einem lachenden und einem weinenden Auge formulierte: „Veränderungen sind unausweichlich, Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren jedoch verfrüht...“

Peter Linke, RLS-Büro Moskau, 11.03.08