Wenn von einer Schule für Alle oder Gemeinschaftsschule die Rede ist, wird auch von einem Paradigma-Wechsel gesprochen. Gemeint sind Kriterien, die auf eine wesentliche Änderung der Schul- und Unterrichtsform und des Lehr- und Lernverständnisses zielen: von der Lernziel- zur Kompetenzorientierung, vom normativen zum individuellen Lernen, von homogenen zu heterogenen Gruppen, vom Frontalunterricht zu Projekten, von der äußeren Fach-Leistungsdifferenzierung zur Binnendifferenzierung, von der Integration zur Inklusion, von der Schule zur Lernlandschaft und vom Wissensvermittler zum Lernberater. Diese Merkmale dienen den Schulen in ihrer Transformation als Orientierung. Jenseits dessen aber gibt es auf der Metaebene kein verbindliches Konzept. Es liegt somit in der Verantwortung der einzelnen Schule, entlang ihrer Bedingungen ein Konzept und dessen Umsetzung in Richtung Gemeinschaftsschule zu entwickeln.
Um einen solchen Wechsel zu verstehen, braucht es Mut, in den offenen Raum zu denken. Gemeint ist, Überlegungen plausibel und nicht zwingend schlüssig zu finden, Erfahrungen als Ideenanregungen und nicht als Vorbild zu betrachten, Phantasie Ernst zu nehmen und einzubeziehen und sich aus dem Modus des Nach-Denkens in den Modus des Mit-Denkens zu begeben. Letztendlich geht es darum, sich in dem Verständnisraum des Netzwerkdenkens zu bewegen.
Die Herausforderung
In der Wissensgesellschaft fordert derComputer ein vernetztes, vom nummerischen Kalkül bestimmtes und offenes Denken. Wir übersetzen unser Wissen und unsere Fähigkeiten in ein numerisches Kalkül, das Programm, das die vorgegebenen Inhalte in Bits und Bytes zerlegt, um daraus wiederum unser Wissen als (Schrift-)Bilder auf den Bildschirm zu projizieren. Wir beauftragen dabei den Computer, selbständige Denkschritte zu gehen. Die Crux ist, dass ein numerische Kalkül nicht mehr bedeutungs- oder sinngebunden ist, wodurch Inhalte beliebig änderbar werden. Diese tiefgreifende Transformation unseres Denkens fragt zwangsläufig nach angepassten Lehr- und Lernmethoden.
Das deutsche Schulsystem ist für die Anforderungen der Wissensgesellschaft denkbar schlecht aufgestellt. Der normierte Zugang zur Bildung selektiert nicht nur übermäßig viele Schüler sondern legt Lernbereitschaft und -vermögen lahm. Tatsächlich stehen alle Funktionen der Schule derzeit auf dem Prüfstand. Als Folge wird in der wissenschaftlichen Diskussion, die auch in der KMK Einzug erhalten hat, ein Wechsel von der Lernziel- zur Kompetenzorientierung, also vom normativen zum individuellen Lernen als notwendig formuliert. Die Frage, ob diese Veränderungen in einem mehrgliedrigen oder eingliedrigen Schulsystem erfolgen sollen, ist in der politischen Auseinandersetzung noch nicht entschieden. Ein eingliedriges Schulsystem scheint aber das Konsequenteste.
Kompetenzorientierung und individuelles Lernen
Die Schule versteht ihre Aufgabe bis heute vornehmlich in der Reproduktion von Wissen, basiert also auf dem Konzept der Lernzielorientierung. Elisabeth Bonsen und Gerhard Hey gehen davon aus, dass diese Grundlage nicht mehr genügt: „1. Das Lernziel-Konzept verengt die didaktische Reflexion auf das kognitive Lernen. 2. Das didaktische Denken in der Kategorie operationalisierbarer Lernziele lenkt die Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Ergebnis und vernachlässigt dabei die Bedeutung und Reflexion des Lernprozesses selbst. 3. Lernzielorientierung verleitet dazu, sich intensiver um Wissenserwerb als um die intelligente Anwendung des Wissens zu bemühen.“ Angesichts der Wissensflut bzw -erneuerung, Variabilität, Interaktion und Verbildlichung scheint die Orientierung auf Kompetenzen den Anforderungen eines Leben Langen Lernens als Grundlage der Wissensgesellschaft besser gerecht zu werden. Entsprechend begründen Bonsen und Hey die Fähigkeit 1. zur intelligenten Nutzung mit dem „ Lernen der Anwendung von Erlerntem durch den Erwerb von Sachkompetenz;“ 2. zum Wissensmanagement mit dem „Lernen des selbständigen Erarbeitens von Wissen durch den Erwerb von Methodenkompetenz;“ 3. zur Selbstreflexion mit dem „Lernen der Reflexion von Affekten und dem Herstellen einer Verbindung mit der Kognition durch den Erwerb von Selbstkompetenz;“ 4. zur Kooperation mit dem „Lernen der Diskussion, des Aushandelns und der Empathie durch den Erwerb von Sozialkompetenz.“ Sie weisen darauf hin, dass Emotionen und Sozialverhalten, als integraler Bestandteil des Lernens begriffen , „das Urteils-, Entscheidungs- und Orientierungsvermögen unterfüttern“.
Kompetenzorientierung heißt auch eine Abkehr von einer defizitären Pädagogik, die mit dem Verständnis von Erziehung als „Füllen eines unbeschriebenen Blattes“ (Locke) den normativen Zugriff begründet. Allerdings widerspricht dies dem Verständnis von Lernen, demzufolge Lernen einer relativ stabilen Änderung des Verhaltens gleichkommt. So heißt Lernen, sich von A nach B zu entwickeln, wobei A gegeben ist. Das bedeutet für die Pädagogik, mit den Ressourcen der Menschen zu arbeiten. Auch die Etymologie von Lernen/Lehren verweist auf die indogermanische Wurzel *lais- = Spur, Bahn, Furche, also auf einen zu gehenden Weg. In allem verspricht eine Fokussierung des Schulauftrags auf das Lernen eine nachhaltige Annäherung an die Bedingungen der Wissensgesellschaft. Mit der Hinwendung zur Kompetenzorientierung wird die Zielorientierung nicht ersetzt ihr aber zweckgebunden untergeordnet.
Schule um den Lern- und nicht um den Wissensbegriff zu entwickeln, erfordert einen Kurswechsel im Lehrplan. Anstelle normierter Operationalisierungen werden in Zusammenarbeit mit Schülern und Eltern individuelle Lernpläne erstellt. Rahmenpläne und Lernbausteine geben hierfür Orientierungen.
Die Orientierung auf Kompetenzen ist nicht schulformabhängig. Aber für eine Gemeinschaftsschule ist diese Orientierung genauso konstitutiv wie die folgenden Merkmale.
Heterogene Gruppen, Projekte, Binnendifferenzierung, Lernlandschaft und Lernbegleiter
Unter heterogenen Lerngruppen wird ein leistungsunabhängiges, längeres gemeinsames, jahrgangsübergreifendes Lernen verstanden. Beispielhaft wird auf die Selbstverantwortete GS Winterhude in Hamburg verwiesen, in der Kinder in Stammgruppen altersgemischt zusammenkommen und von einem Lehrerteam einschließlich der StammlehrerIn betreut werden. Im Wechsel erfolgen individuelles Lernen und Lernen in der Gruppe. Letzteres findet überwiegend in Projekten statt, in denen gemeinsam entlang übergeordneter Fragestellungen ein Stoff erarbeitet wird. Regelmäßig werden in Planungs-, Bilanz- und Zielgesprächen Lernziele abgesteckt und reflektiert. Diese werden ebenso wie die Lernprozesse selbst in Logbüchern dokumentiert. Neben dem Logbuch erstellen die SchülerInnen ein Portfolio, in dem sie ihre Zertifikate sammeln. Eine Umstellung auf Zensuren erfolgt in Klasse 9. Diese Schule versteht sich als inklusive in der alle Kinder entsprechend ihren Möglichkeiten beschult werden und folglich alle Abschlüsse formal erreichen können.
Egal wie das konkrete Konzept aussieht, das Selbstverständnis des Lehrers wird sich den veränderten Bedingungen anpassen. An die Stelle des wissenden und Wissen vermittelnden Pädagogen tritt der selbstlernende, beratende und helfende Pädagoge als Lernberater, der sich als Teil eines sozialen Netzwerkes versteht. Gemeinschaftsschulen öffnen sich nach außen und wirken in den Sozialraum. Als Lernlandschaft angelegt beherbergen sie die Möglichkeit Anlaufpunkt aller Generationen zu sein.
Der Anfang
Tiefgehende Veränderungen brauchen das Ein-Verständnis der Akteure, dass dann gegeben ist, wenn es Spiel-Raum der An-Passung und die Möglichkeit des Mit-Machens, die Partizipation am Geschehen gibt.
Berlin geht diesen Weg der Freiwilligkeit und startet, laut Koalitionsvertrag, 2008/09 mit der ersten Pilotphase. Ende 2006 verfasste die GEW-Berlin einen Aufruf, aus dem der Runde Tisch entstand. Er setzt sich aus Mitgliedern der Parteien und Fraktionen, der Wissenschaft, Lehrer, Eltern, Interessierte zusammen und unterstützt den Prozess durch Erfahrungsaustausch und Öffentlichkeitsarbeit.
Anders wie die GS Winterhude, deren Umgestaltung ihrer Schule als Projekt der Lehrer und Eltern begann, wird in Berlin die Einführung top down gestaltet. Dies hat den Charme, dass die notwendige Öffnungsklausel im Schulgesetz, die die äußere Fachleistungsdifferenzierung zur Disposition stellt, als ein Schritt in die Fläche gelesen werden kann. Dennoch: Zivilgesellschaftliche Basisarbeit wird genauso benötigt wie eine staatlich garantierte Umsetzung.
1)Elisabeth Bonsen, Dr. Gerhard Hey: Kompentenzorientierung– eine neue Perspektive für das Lernen in der Schule - Internet: http://www.bebis.de/zielgruppen/auszubildende/rlp_berbil/kompetenzorientierung.pdf
2)Gesamtschule Winterhude - http://www.gs-winterhude.hamburg.de
3)Der Runde Tisch/GEW - http://www.rt-gemeinschaftsschule-berlin.de
Lena Tietgen, M.A. Erziehungswissenschaft
Die Autorin arbeitet als Freie Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt der Entwicklung von Gemeinschaftsschulen. Im Oktober erscheint ihre Studie „...auf den Weg gemacht...“ bei der Rosa Luxemburg Stiftung/Berlin. Parallel setzt sie sich im Rahmen der Arbeit an ihrer Dissertation mit den Konsequenzen der Neuen Technologien für den Erkenntnisprozess, das Lernen und den (deutschen) Bildungsbegriff auseinander. Sie erfüllte sich ein Leben Langes Lernen und kann neben dem Studium der Erziehungswissenschaft, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur (M.A:) auf die Ausbildung und Berufserfahrung als Erzieherin und Metallografin zurückblicken.