Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung - Kapitalismusanalyse Der Zusammenhang von Krise und Gesellschaftsumbruch in der Debatte der Linken

Die Ursachen, Verlaufsformen und Folgen der gegenwärtigen Krise sind aus kritischer, linker Sicht zunächst vor dem Hintergrund der marxistischen Denk- und Analysetradition zu diskutieren. Die ursprüngliche Grundannahme des Marxismus besteht darin, daß die Geschichte nach historischen Gesetzmäßigkeiten verläuft, die als eine Aufeinanderfolge ökonomischer Gesellschaftsformationen gesellschaftlichen Fortschritt, eine Höherentwicklung der Menschheit zur Folge haben, die am Ende in eine nach-kapitalistische, kommunistische Gesellschaft mündet. Von Erhard Crome

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Autor

Erhard Crome,

Erschienen

Februar 2009

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Die Ursachen, Verlaufsformen und Folgen der gegenwärtigen Krise sind aus kritischer, linker Sicht zunächst vor dem Hintergrund der marxistischen Denk- und Analysetradition zu diskutieren. Die ursprüngliche Grundannahme des Marxismus besteht darin, daß die Geschichte nach historischen Gesetzmäßigkeiten verläuft, die als eine Aufeinanderfolge ökonomischer Gesellschaftsformationen gesellschaftlichen Fortschritt, eine Höherentwicklung der Menschheit zur Folge haben, die am Ende in eine nach-kapitalistische, kommunistische Gesellschaft mündet.

Bereits in der Deutschen Ideologie betonten Marx und Engels (1845/46): „Alle Kollisionen der Geschichte haben... ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform“,[1] die sie später „Produktionsverhältnisse“ nannten. Die bürgerliche Gesellschaft bringt es zu einer beträchtlichen Steigerung der Produktion und der Produktivität. Sie schafft die industrielle Produktion, eine im Vergleich zu allen früheren Gesellschaften ungleich reichere Welt an Waren, Dienstleistungen sowie Kultur und erstmals den „Weltmarkt“, wodurch die „Geschichte sich vollständig in Weltgeschichte verwandelt“.[2] Dieser Prozeß wird von Kapital und Arbeit getragen, in dem sich eine Klasse der Kapitalisten und eine der Arbeiter aus dem Produktionsprozeß heraus gegenseitig bedingen und zugleich einander ökonomisch, sozial, kulturell und politisch gegenüberstehen. In der Entwicklung der Produktivkräfte werde eines Tages eine Stufe eintreten, auf welcher die Produktivkräfte „Destruktivkräfte (Maschinerie und Geld)“ werden.[3] Dann gelte es, die Herrschaft der Kapitalistenklasse, die über diese Produktiv-/Destruktivkräfte verfügt, in einer Revolution zu stürzen. Die Revolution sei nicht nur nötig, „weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“[4] Diese neue Gesellschaft nannten sie „Kommunismus“. Er „unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.“[5] Der Gedanke, daß es möglich sei, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Produktion und die gesamte gesellschaftliche Entwicklung nach einem einheitlichen Plan zu gestalten seien, soll hier nicht weiter erörtert werden. Nach dem Scheitern des Realsozialismus ist zumindest die Frage offen, wer denn das Subjekt einer solchen gesamtgesellschaftlichen Bewußtheit sein soll – die „Partei der Arbeiterklasse“ jedenfalls nicht. Gleichwohl bleibt die Grundannahme der historischen Linken, daß es eine andere Gesellschaft jenseits des Kapitalismus geben sollte, die besser eingerichtet ist als dieser.

Die Vorstellung von dem Primat der Ökonomie und der aus ihrer Dynamik abgeleiteten Annahme eines grundlegenden Gesellschaftsumbruchs umriß Marx wenig später (1847) wie folgt: „Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“[6]

Zwölf Jahre danach, in dem später vielfach, gleichsam als „Klassiker“ zitierten Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), formulierte Marx diesen Gedanken wie folgt: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.“ Daraus leitete er ab: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“. Und weiter: „die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“[7]

Seit dem Scheitern der europäischen Revolutionen von 1848/49 waren Marx und Engels überzeugt: „Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krise. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“[8] Also warteten sie auf die wirtschaftliche Krise, die die Revolution bringen werde. Als diese dann 1857 ausbrach, machte sich Marx an die Ausarbeitung seiner ökonomischen Studien; von Oktober 1857 bis März 1858 arbeitete er im Grunde Tag und Nacht. Das voluminöse Manuskript wurde erst Jahrzehnte später, 1939/1941 unter dem Titel: „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“ veröffentlicht; eine überarbeitete Variante, die Marx selbst zur Publikation brachte, war dann die schon zitierte „Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1859. Marx war in seinen Studien zur Analyse des Kapitalismus vorangekommen, nur die erwartete oder ersehnte Revolution war nicht aus der Krise gefolgt.

So war es denn konsequent, daß Engels im Anti-Dührung (1878), an dem Marx insbesondere an den ökonomischen Teilen mitgearbeitet hatte, von einem „Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung“, von „Anarchie der gesellschaftlichen Produktion“[9] unter kapitalistischen Bedingungen ausging, dann jedoch einen zyklischen Prozeß der kapitalistischen Produktion bzw. Reproduktion beschrieb: „Die Ausdehnung der Märkte kann nicht Schritt halten mit der Ausdehnung der Produktion. Die Kollision wird unvermeidlich, und da sie keine Lösung erzeugen kann, solange sie nicht die kapitalistische Produktionsweise selbst sprengt, wird sie periodisch. Die kapitalistische Produktion erzeugt einen neuen ‚fehlerhaften Kreislauf‘.“ Damit wird die Grundannahme, daß dieser „Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung“ die kapitalistische Produktionsweise und damit Gesellschaft eines Tages sprengen werde, aufrechterhalten, aber nicht mehr an die Erwartung der Revolution, des gesellschaftlichen Umbruchs aus einer konkreten Krise heraus gebunden. Es entsteht ein zyklischer Verlauf der kapitalistischen Produktion und Reproduktion, den Engels dann so beschreibt: „In der Tat, seit 1825, wo die erste allgemeine Krise ausbrach, geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisierter Völker und ihrer mehr oder weniger barbarischen Anhängsel so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen. Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar, das bare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet, die Fabriken stehn still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zuviel Lebensmittel produziert haben, Bankrott folgt auf Bankrott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte wie Produkte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Warenmassen unter größerer oder geringerer Entwertung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen.“ Fazit: „In den Krisen kommt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung zum gewaltsamen Ausbruch.“[10]

Im dritten Band des Kapitals, den Friedrich Engels aus Marx‘ hinterlassenen Manuskripten zusammengestellt und 1894 veröffentlicht hatte, wird dieser zyklische Verlauf wieder aufgenommen: „Es verhält sich mit diesem industriellen Zyklus so, daß derselbe Kreislauf, nachdem der erste Anstoß einmal gegeben, sich periodisch reproduzieren muß. Im Zustand der Abspannung sinkt die Produktion unter die Stufe, die sie im vorigen Zyklus erreicht und wofür jetzt die technische Basis gelegt ist. In der Prosperität – der Mittelperiode – entwickelt sie sich weiter auf dieser Basis. In der Periode der Überproduktion und des Schwindels spannt sie die Produktivkräfte aufs höchste an, bis hinaus über die kapitalistischen Schranken des Produktionsprozesses. Daß es in der Periode der Krise an Zahlungsmitteln fehlt, ist selbsteinleuchtend.“[11] Dabei werden drei Punkte hervorgehoben, die auch angesichts der Krise von 2008/09 bemerkenswert sind:

1.      „Auf den ersten Blick stellt sich... die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar.“ Dahinter verbergen sich jedoch „wirkliche Käufe und Verkäufe, deren das gesellschaftliche Bedürfnis weit überschreitende Ausdehnung schließlich der ganzen Krisis zugrunde liegt.“

2.      „Das ganze künstliche System gewaltsamer Ausdehnung des Reproduktionsprozesses kann natürlich nicht dadurch kuriert werden, daß nun etwa eine Bank, z.B. die Bank von England, in ihrem Papier allen Schwindlern das fehlende Kapital gibt und die sämtlichen entwerteten Waren zu ihren alten Nominalwerten kauft. Übrigens erscheint hier alles verdreht, da in dieser papiernen Welt nirgendswo der reale Preis und seine realen Momente erscheinen, sondern nur Barren, Hartgeld, Noten, Wechsel, Wertpapiere. Namentlich in den Zentren, wo das ganze Geldgeschäft des Landes zusammengedrängt, wie London, erscheint diese Verkehrung; der ganze Vorgang wird unbegreiflich; weniger schon in den Zentren der Produktion.“ (Mit anderen Worten: was in der Finanzsphäre als irrational erscheint, hat durchaus drastische Auswirkungen auf die ‚Realwirtschaft‘, wie es heute so schön heißt.)

3.      „Unwissende und verkehrte Bankgesetzgebung... kann diese Geldkrise erschweren. Aber keine Art Bankgesetzgebung kann die Krise beseitigen.“[12]

In einer Fußnote merkt Friedrich Engels an, daß unter der Voraussetzung des wirklich hergestellten Weltmarktes „die meisten alten Krisenherde und Gelegenheiten zur Krisenbildung beseitigt oder stark abgeschwächt“ wurden. Die Konkurrenz auf den inneren Märkten schwächt sich ab. Die Maßnahmen konzentrieren sich auf die äußeren Märkte, sind jedoch nichts „als die Rüstungen für den schließlichen allgemeinen Industriefeldzug, der über die Herrschaft auf dem Weltmarkt entscheiden soll. So birgt jedes der Elemente, das einer Wiederholung der alten Krisen entgegenstrebt, den Keim einer weit gewaltigeren künftigen Krise in sich.“[13]

Damit wird im Kern ausgesagt, daß der Kapitalismus nicht in der Lage sein wird, seine immer wieder aufbrechenden Krisen zu vermeiden, und daß jede Krise eine neue, tiefere Krise zur Folge haben wird, letztlich also die Ablösung des Kapitalismus auf die Tagesordnung rücken wird. So war die ursprüngliche Gewißheit des marxistischen Denkens, der Kapitalismus werde notwendig an seinen inneren Widersprüchen scheitern, reproduziert und mit der Analyse der Krisenzyklen verbunden, dies jedoch als langfristige Tendenz, nicht als aktueller Vorgang beschrieben.

Überhaupt hatte Engels im Alter davor gewarnt, von den ökonomischen Tatsachen direkt auf die politischen und gesellschaftlichen Vorgänge zu schließen: „Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen.“[14] Noch deutlicher betonte er dies zu der Zeit, nachdem er den dritten Band des Kapitals zusammengestellt hatte: „Wir sehen die ökonomischen Bedingungen als das in letzter Instanz die geschichtliche Entwicklung Bedingende an... Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.“[15]

In seiner Einleitung zu Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ hob Friedrich Engels (1895) die Eroberung der Macht durch das Proletariat auf demokratischem Wege hervor. Die Bedingungen für den Klassenkampf hätten sich geändert. „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten.“[16] Das Verhältnis zu Gesetz und Ordnung habe sich gleichsam verkehrt. „Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die ‚Revolutionäre‘, die ‚Umstürzler‘, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand.“ Es „bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.“ Das heißt, die Parteien der bestehenden Ordnung kommen der sozialistischen Partei (damals der Sozialdemokratie) nur bei, indem sie die Gesetze brechen.[17]

 

Wenn wir das bisher Ausgeführte zusammenfassen, so folgt: Das ursprüngliche Konzept von Marx und Engels geht davon aus, daß der Kapitalismus von immer wiederkehrenden Krisen gekennzeichnet ist, die im einzelnen jeweils bewältigt werden können; die Ursachen für diese Krisen können jedoch nicht beseitigt werden, weil sie im Wesen des Kapitalismus selbst, in der „Anarchie der Produktion“ und der fortschreitenden Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die in Widerspruch zur privatkapitalistischen Aneignung steht, liegen. Das Verständnis der Wirtschaftskrisen geht davon aus, daß Finanzkrisen Ausdruck der Bewegung des Kapitalismus ist, jedoch ihren Kern in der wirklichen Produktion und Reproduktion („Realwirtschaft“ würde man heute sagen) haben. Durch eine falsche Politik kann die Krise verschärft werden, was im Umkehrschluß bedeutet: eine sachgerechte, kluge Politik kann sie mildern und zu ihrerBewältigung beitragen. Es gibt jedoch keine Politik, die Finanz- und Wirtschaftskrisen im Kapitalismus überhaupt ausschließen kann. Langfristig wird der Kapitalismus jedoch an seinen eigenen, inneren Widersprüchen scheitern und es wird eine andere Gesellschaft an seine Stelle treten – „Kommunismus“ genannt (Deutsche Ideologie) oder „Sozialismus“ (Anti-Dühring). Die Eroberung der Macht durch das Proletariat wird als Bedingung dafür angesehen. Während diese zuerst an das Aufbrechen der Wirtschaftskrisen gekoppelt gedacht war, wird sie schließlich an den politischen Raum, die Gewinnung von Mehrheiten und die organisatorische Kraft der Arbeiterklasse, ihrer Partei und ihrer Organisationen gebunden.

 

In einer Zuschrift an den Parteitag der deutschen Sozialdemokratie (Oktober 1898) griff Eduard Bernstein den Engelsschen Hinweis in der oben zitierten Einleitung auf die „gesetzlichen Mittel“ auf und betonte: „Politisch sehen wir das Privilegium der kapitalistischen Bourgeoisie in allen vorgeschrittenen Ländern Schritt für Schritt demokratischen Einrichtungen weichen. Unter dem Einfluß dieser und getrieben von der sich immer kräftiger regenden Arbeiterbewegung hat eine gesellschaftliche Gegenaktion gegen die ausbeuterischen Tendenzen des Kapitals eingesetzt, die zwar heute noch sehr zaghaft und tastend vorgeht, aber doch da ist und immer mehr Gebiete des Wirtschaftslebens ihrem Einfluß unterzieht. Fabrikgesetzgebung, die Demokratisierung der Gemeindeverwaltungen und die Erweiterung ihres Arbeitsgebiets, die Befreiung des Gewerkschafts- und Genossenschaftswesens von allen gesetzlichen Hemmungen, Berücksichtigung der Arbeiterorganisationen bei allen von öffentlichen Behörden vergebenden Arbeiten kennzeichnen diese Stufe der Entwicklung... Kein Mensch hat die Notwendigkeit der Erkämpfung der Demokratie für die Arbeiterklasse in Frage gestellt. Worüber gestritten wurde, ist die Zusammenbruchstheorie und die Frage, ob bei der gegebenen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und dem Reifegrad seiner Arbeiterklasse in Stadt und Land der Sozialdemokratie an einer plötzlichen Katastrophe gelegen sein kann. Ich habe die Frage verneint und verneine sie noch, weil meines Erachtens im stetigen Vormarsch eine größere Gewähr für dauernden Erfolg liegt, wie in den Möglichkeiten, die eine Katastrophe bietet.“[18]

Die vorangegangenen Aufsätze Bernsteins zum Thema: „Probleme des Sozialismus“ und das Buch: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ waren Kerntexte des „Revisionsmusstreits“ in der deutschen Sozialdemokratie Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts. Bernstein hatte betont, daß die Entwicklungen im Kapitalismus anders verlaufen seien, als es die ursprünglichen Annahmen des Marxismus (er spricht – wohl genauer – von der „Marx-Engelsschen Lehre“[19]) erwarten ließen. Die „Konzentration des Kapitals“ und die Polarisierung der Gesellschaft in immer weniger Kapitaleigentümer und ein wachsendes Heer von Arbeitern seien ausgeblieben und der Klassenkampf habe sich nicht beständig verschärft. Der Staat erweise sich weniger als bloßes Instrument der Klassenherrschaft, sondern verwandle sich mit der Demokratisierung in ein Instrument, das das Proletariat zur Durchsetzung seiner Interessen nutzen kann. Der Aufstieg der Arbeiter in die Mittelschichten verändere ihre soziale Stellung, was auch eine Veränderung ihrer politischen Haltung und ihres Wahlverhaltens zur Folge habe. Insofern solle sich die Sozialdemokratie nicht auf die Revolution vorbereiten, sondern gesellschaftliche Reformen auf parlamentarischem Wege anstreben und dabei mit anderen, nicht-sozialistischen Parteien zusammenarbeiten.

So bezeichnete es Bernstein als „durchaus unwissenschaftlich, den Standpunkt eines Politikers oder Theoretikers schlechthin nach der Auffassung zu bestimmen, die er von der Schnelligkeit des Ganges der gesellschaftlichen Entwicklung hat“. Dann gilt: „Wenn der Glaube an die jedesmal in Kürze zu erwartende revolutionäre Katastrophe den proletarisch-revolutionären Sozialisten macht, so sind es die Putsch-Revolutionäre, die vor allem auf diesen Namen Anspruch haben.“[20] Gleichwohl lautete das Fazit seiner Untersuchung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen der kapitalistischen Länder Europas am Ende des 19. Jahrhunderts: „Wenn nicht unvorhergesehene äußere Ereignisse eine allgemeine Krise herbeiführen – und das kann, wie gesagt, jeden Tag geschehen – so ist kein zwingender Grund vorhanden, auf ein baldiges Eintreten einer solchen aus rein wirtschaftlichen Gründen zu folgern.“[21] Auch aus heutiger Sicht scheint es einleuchtend, daß das eine zutreffende Beschreibung war. Nur: Was ist „eine allgemeine Krise“? Was sind „äußere Ereignisse“? Mit einer Bemerkung, die bereits in seiner Zuschrift an den Parteitag stand, führte er allerdings seine eigene, wissenschaftlich begründete Argumentation ad absurdum, nämlich mit der Frage, ob denn der Arbeiterklasse bzw. der Sozialdemokratie „an einer plötzlichen Katastrophe gelegen sein“ könne. Damit wurde die Frage nach der Krise und der auf sie reagierenden Politik wieder zu einer Frage des Willens, nicht des tatsächlichen Ganges der wirtschaftlichen Entwicklung.

Es war eine der ersten großen Aktivitäten Rosa Luxemburgs, nachdem sie nach Deutschland gekommen war, eine scharfe Polemik gegen diese Positionen Bernsteins zu führen. Ausführlich setzte sie sich mit den von ihm geltend gemachten neuen Faktoren der Anpassung des Kapitalismus an die neuen Bedingungen seiner Existenz auseinander. Ihr Hauptvorwurf lautete dann (1899) so: „Die Bernsteinsche Theorie steht vor einem Entweder-Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die ‚Anpassungsmittel‘ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder es sind die ‚Anpassungsmittel‘ wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft.“[22]

Auch Karl Kautsky wies die gesamte Argumentation Bernsteins zurück; sie diene nur den politischen Gegnern der Sozialdemokratie. Eine „Zusammenbruchstheorie“ hätten Marx und Engels nie entwickelt; bereits der Terminus sei eine Erfindung Bernsteins.[23] Die „Marx-Engelssche Theorie“ sei vielmehr die, „die im Kommunistischen Manifest zuerst systematisch dargelegt, später in den einzelnen Schriften unserer Meister weiter entwickelt, begründet, in einzelnen Punkten rektifiziert wurde. Diese Theorie sieht in der kapitalistischen Produktionsweise den Faktor, der das Proletariat in den Klassenkampf gegen die Kapitalistenklasse treibt, der es immer mehr zunehmen läßt an Zahl, Geschlossenheit, Intelligenz, Selbstbewußtsein, politischer Reife, der seine ökonomische Bedeutung immer mehr steigert und seine Organisation als politische Partei sowie deren Sieg unvermeidlich macht, ebenso unvermeidlich aber auch das Erstehen der sozialistischen Produktion als Konsequenz dieses Sieges.“[24] Die Aufgabe der Partei bestehe nicht darin, das Proletariat mitten im Kampfe zu entmutigen, damit „nicht das Bewußtsein der großen historischen Aufgaben verloren geht, die dem Proletariat gestellt sind“.[25]

Es kam bekanntlich anders. Die Führung der sozialdemokratischen Partei und die Reichstagsfraktion stimmten – schließlich bis auf Karl Liebknecht – den Kriegskrediten zur Führung des ersten Weltkrieges zu. Kautsky hielt den Internationalisms für eine Sache, die für den Frieden, nicht zum Krieg tauge. Am Ende des Krieges wurden der Kaiser gestürzt und die Republik ausgerufen, die Führung der Sozialdemokratie jedoch zeigte deutlich, daß ihr „an einer plötzlichen Katastrophe nicht gelegen“ war, ließ ihre eigene, lang erwartete Revolution niederschlagen und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 durch Reichswehroffiziere ermorden. Eduard Bernstein schrieb im Nachwort zur Nachkriegs-Neuausgabe seines Buches: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, „die Zerrüttung des deutschen Wirtschaftslebens und die Erschütterung der sozialen Ethik durch den Weltkrieg“ seien „der sozialen Arbeit so überaus ungünstig gewesen“, denn sonst „hätte sich in noch viel glänzenderer Weise gezeigt, wie eine Revolution unblutig verlaufen und großes Reformwerk verrichten kann“. Vor allem sei es „den Bolschewisten“ gelungen, „Teile der politisch weniger geschulten deutschen Arbeiterschaft“ zu gewinnen, was „schwere Schädigungen über das deutsche Wirtschaftsleben“ brachte und ein „die Geister verbitterndes Eingreifen der bewaffneten Macht“ nach sich zog.[26] Welch eine euphemistische Umschreibung des Verrats der SPD-Führung! Kautsky schrieb nach dem ersten Weltkrieg, in Rußland werde die Kommunistische Partei keine Rolle mehr spielen, sobald „das Proletariat als Klasse die politische Macht erobert hat“. „Den Sieg wird die Sozialdemokratische Partei erringen, deren Rahmen weit genug ist, das ganze klassenbewußte Proletariat zu umfassen. Ihr wird die Aufgabe zufallen, die politische Macht, die sie gewinnt, zur sozialistischen Umgestaltung auszunutzen.“[27]

Der erste Weltkrieg und seine Folgen stellten für die nun unterschiedlichen und sich nicht nur theoretisch und politisch – wie 1898/99 – sondern sehr handgreiflich feindlich gegenüberstehenden Kräfte – Kommunisten und Sozialdemokraten – auch analytisch eine Herausforderung dar. Karl Ballod formulierte in der Nachkriegsausgabe seines Buches Der Zukunftsstaat. Produktion und Konsum im Sozialstaat. (Das Buch war ursprünglich 1898, zur gleichen Zeit, da der „Revisionismusstreit“ ausgetragen wurde, erschienen, unter dem Pseudonym „Atlanticus“, weil Ballod sich damals als Hochschullehrer nicht getraute, bei den Sozialdemokraten unter seinem bürgerlichen Namen zu publizieren.) In der Einleitung zu der Neuausgabe identifizierte er den Weltkrieg als die Krise: „Bürgerliche Nationalökonomen wiesen mit besonderem Stolz darauf hin, daß die Wirtschaftskrisen nicht, wie Marx es erwartet hätte, immer schlimmer geworden wären, sondern daß sie im Gegenteil sich immer mehr abgeschwächt hätten. Ja doch – bis die aufgespeicherten, zur Krisis hindrängenden Kräfte sich in der furchtbarsten Krisis der Weltgeschichte, in dem Weltkrieg, Luft machten, der doch gerade von den bürgerlichen Nationalökonomen als ein Wirtschaftskrieg im eigentlichen Sinne des Wortes hingestellt wird, und der weit, weit mehr Werte vernichtet hat als alle vorangehenden Wirtschaftskrisen.“[28] Seine Folgerung, weshalb er das Buch neu gefaßt hatte, war: Marx hatte Recht, und jetzt rückt der Sozialismus auf die Tagesordnung – dies auszuarbeiten, insbesondere die Vorzüge einer sozialistischen Wirtschaft auf großbetrieblicher Grundlage, war der erklärte Zweck des Buches. Hier ist jetzt nicht von Interesse, daß Sozialismus ein Ziel war, das die damalige Sozialdemokratie in Deutschland weder realisieren wollte noch konnte. Interessant ist, daß das Krisenverständnis weit über den zuvor gewohnten ökonomischen Rahmen hinausreichte: Der Weltkrieg wird wahrgenommen als die Krise selbst, als der Gipfelpunkt aller je gekannten Krisen der Neuzeit.

Lenin hatte in seiner folgenreichen Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus bereits während des Krieges (1916) begründet, daß „der Imperialismus“ bereits das Endstadium des Kapitalismus sei. Er müsse charakterisiert werden „als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus“.[29] Kurze Zeit später setzte er hinzu: „Es ist begreiflich, warum der Imperialismus sterbender Kapitalismus ist, den Übergang zum Sozialismus bildet: das aus dem Kapitalismus hervorwachsende Monopol ist bereits das Sterben des Kapitalismus, der Beginn des Übergangs in den Sozialismus.“[30] Die russische Revolution von 1917 wurde als der notwendige Ausgang aus dem Krieg und jenem sterbenden Kapitalismus empfunden. Eine verkürzte Kapitalismus-Analyse unter Berufung auf Marx sollte den Begründungszusammenhang für die historische Notwendigkeit jener Revolution liefern, und sie sollte zugleich der Ausgangspunkt sein für einen weltweiten Übergang zum „Sozialismus“: „Die soziale Revolution kann nicht anders vor sich gehen als in Gestalt einer Epoche, in der der Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Ländern mit einer ganzen Reihe demokratischer und revolutionärer Bewegungen verbunden ist, darunter auch mit nationalen Befreiungsbewegungen der unentwickelten, rückständigen und unterdrückten Nationen.“[31] Nun kam aber bekanntlich die erwartete Revolution im Westen, insbesondere in Deutschland nicht, von der die russischen Revolutionäre sich Erleichterung erwartet hatten. Zugleich aber mußten sie sich und den Kommunisten in der ganzen Welt, die dann in der Kommunistischen Internationale organisiert waren, Mut zusprechen. Den versuchten sie dann, durchaus anknüpfend an Marx, aus den historischen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte herzuleiten.

Das fand dann – durchaus, wie oben zitiert, Begrifflichkeiten, wie sie sich bei Engels und Bernstein finden, aufgreifend – seinen Ausdruck in dem Konstrukt von einer „allgemeinen Krise des Kapitalismus“, die von den „zyklischen Krisen“ des Kapitalismus – die ja in der kapitalistischen Welt weiter stattfanden und weiter sehr aufmerksam beobachtet und analysiert wurden – zu unterscheiden war. Die „allgemeine Krise“ sei mit dem Imperialismus entstanden und mit dem ersten Weltkrieg und der russischen Oktoberrevolution offen ausgebrochen. Schöpfer dieser These war Eugen Varga, jahrelang der wichtigste Wirtschaftsexperte der Kommunistischen Internationale. Varga war zu seiner Zeit tatsächlich einer der besten Analytiker der Entwicklung des Kapitalismus und der kapitalistischen Weltwirtschaft. Seine Analysen und die seiner Mitarbeiter boten ziemlich exakte marxistische Untersuchungen der einzelnen Länder und der Weltwirtschaft als Ganzes, die oft genauer waren, als die der zeitgenössischen bürgerlichen Konjunkturforschung. Diese konkreten Studien wurden jedoch der Grundannahme von der „allgemeinen Krise“ untergeordnet. In ihrer Lehrbuchform lautete deren Definition dann später, die „allgemeine Krise des Kapitalismus“ sei eine „umfassende System- und Gesellschaftskrise des niedergehenden Kapitalismus. Die a. K. erfaßt alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens: Ökonomie, Politik, Kultur, Ideologie, Moral usw. Sie umfaßt jenen historischen Zeitabschnitt der Existenz des Kapitalismus, in dem sich der Prozeß seines Niedergangs und seiner revolutionären Ablösung durch den Sozialismus und Kommunismus im Weltmaßstab gesetzmäßig vollzieht.“[32]

Die ersten Ausarbeitungen Vargas zu dem Thema waren in seiner Schrift: Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft enthalten, die für den III. Kongreß der Komintern 1921 erarbeitet wurde.[33] Bereits in den 1920er Jahren gehörte die Annahme von der „allgemeinen Krise“ zum Standard-Repertoire; und in seinem letzten großen Werk Der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts, das 1961 erschien, resümierte er: „Die Kapitalkonzentration und der weitere rasche technische Fortschritt in den entwickelten kapitalistischen Ländern werden zu einer zunehmenden chronischen Massenarbeitslosigkeit und zur Verschärfung des Klassenkampfes führen. Das Bestreben, die Existenz der kapitalistischen Ordnung zu verlängern, wird in gewissem Maße das Kapital zu bestimmten Zugeständnissen an die Arbeiterklasse nötigen. Die Zyklen werden zu einer Verkürzung tendieren, da beim gegenwärtigen Stand der Technik der moralische Verschleiß des fixen Kapitals schneller eintritt und der Bau von Fabriken sowie die Erneuerung und Erweiterung des fixen Kapitals rascher vonstatten gehen als früher. Davon zeugt die Wirtschaftskrise, die 1960 in den USA eingesetzt hat. Die Wirtschaftskrisen werden tiefer sein, als sie es in den ersten fünfzehn Jahren nach dem zweiten Weltkrieg waren. Die überaus komplizierten Verhältnisse des historischen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus gestatten es nicht, konkrete Prognosen zu stellen. Man kann jedoch mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß das 20. Jahrhundert das letzte Jahrhundert der Existenz des Kapitalismus ist. Ende dieses Jahrhunderts wird es entweder überhaupt keinen Kapitalismus mehr geben oder es werden nur geringe Reste davon übrig geblieben sein. Das zwanzigste Jahrhundert wird in die Geschichte der Menschheit als das Jahrhundert eingehen, in dem der Kapitalismus zugrunde geht und der Kommunismus triumphiert.“[34] Es bleibt hinzuzufügen, daß die Annahme vom baldigen Ende des Kapitalismus in der Welt seit den 1970er Jahren nicht mehr zum offiziellen ideologischen Kanon gehörte des Realsozialismus; die Theorie von der „allgemeinen Krise“ wurde zwar weitergeschleppt, aber nicht mehr zu Terminzwecken verwandt.

 

Resümierend bleibt festzustellen: Die Erinnerung an diese Positionen macht noch einmal deutlich, daß aus einer Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung keine sichere Aussage zu einer Perspektive der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen abzuleiten ist, auch wenn die Ergebnisse einer solchen Untersuchung in einem wirtschaftswissenschaftlichen Sinne durchaus zutreffend sein können. (Letzteres kann man in den Texten von Varga nachlesen.) Das gilt auch für heutige Darstellungen, die aus wirtschaftlichen oder technischen Vorgängen bzw. Zusammenhängen Aussagen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit künftiger gesellschaftlicher Veränderungen ableiten wollen. Noch wichtiger ist jedoch ein anderer Punkt: Die Analytiker der Komintern bzw. der regierenden kommunistischen Parteien haben vor allem jene Fakten und Daten gesucht, die ihre vorweggenommene These vom möglichst baldigen Untergang des Kapitalismus stützen sollten, und daher andere Linien übersehen oder nicht sehen wollen. Letztlich hatten sie das ganze 20. Jahrhundert hindurch die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität des kapitalistischen Systems unterschätzt. Konzepte, wie unter den Bedingungen der Krise deren Folgen begegnet werden kann – der Satz im Kapital, Bd. 3, daß eine schlechte Politik die Krise verschärfen kann, eine gute sie also mildern könnte, war ja bekannt – kommen aus der kommunistischen Tradition selbstredend nicht. Sie warteten ja auf die Krise, die den Untergang des Kapitalismus bringt. Demgegenüber hatten die Sozialdemokraten den „Sozialismus“ aus ihrem Programm genommen und verstanden sich nur noch als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ (Fritz Tarnow, SPD-Parteitag 1931).

  


[1]              Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 73.

[2]              Ebenda, S. 37.

[3]              Ebenda, S. 69.

[4]              Ebenda, S. 70. Hervorhebung im Original.

[5]              Ebenda.

[6]              Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in: MEW, Bd. 4, S. 130.

[7]              Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, S. 8f.

[8]              Karl Marx, Friedrich Engels: Revue, in: MEW, Bd. 7, S. 440.

[9]              Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: MEW, Bd. 20, S. 253.

[10]             Ebenda, S. 257.

[11]             MEW, Bd. 25, S. 506f.

[12]             Ebenda, S. 507.

[13]             Ebenda, S. 506.

[14]             Brief Engels‘ an Joseph Bloch, 21./22. September 1890, in: MEW, Bd. 37, S. 465.

[15]             Brief an W. Borgius, 25. Januar 1894, in: MEW, Bd. 39, S. 207. Hervorhebungen im Original.

[16]             MEW, Bd. 22, S. 523.

[17]             Ebenda, S. 525.

[18]             Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart: Verlag J.H.W. Dietz 1899, S. VI, VII.

[19]             Ebenda, S. 23.

[20]             Ebenda, S. 25.

[21]             Ebenda, S. 82.

[22]             Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution, in: Dies.: Politische Schriften, Leipzig: Reclam Verlag 1969, S. 18. Hervorhebung im Original.

[23]             Karl Kautsky: Bernstein und das Sozialdemokratische Programm, Stuttgart: Verlag J.H.W. Dietz 1899, S. 42.

[24]             Ebenda, S. 48.

[25]             Ebenda, S. 195.

[26]             Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart: Verlag J.H.W. Dietz 1921, S. 274.

[27]             Karl Kautsky: Die proletarische Revolution und ihr Programm, Stuttgart: Verlag J.H.W. Dietz 1922, S. 79.

[28]             Karl Ballod: Der Zukunftsstaat. Produktion und Konsum im Sozialstaat, Stuttgart: Verlag J.H.W. Dietz 1919, S. 8.

[29]             W.I. Lenin: Werke, Bd. 22, Berlin: Dietz Verlag 1971, S. 307.

[30]             W.I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in: Ders.: Werke, Bd. 23, S. 104. Hervorhebungen im Original.

[31]             W.I. Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den ‚imperialistischen Ökonomismus‘, in: Ders.: Werke, Bd. 23, S. 53. Hervorhebung im Original.

[32]             Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin: Dietz Verlag 1985, S. 32.

[33]             E.S. Varga, Ausgewählte Schriften 1918-1964, Erster Band, Berlin: Akademie-Verlag 1979, S. 177-280.

[34]             E.S. Varga, Ausgewählte Schriften 1918-1964, Dritter Band, Berlin: Akademie-Verlag 1979, S. 99f.