Publikation Staat / Demokratie - Deutsche / Europäische Geschichte - Geschichte Im Mittelpunkt steht der Mensch. Die allgemeinen Menschenrechte und die europäische Linke

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Friedrich Schorlemmer,

Erschienen

Mai 2009

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Nur online verfügbar

Friedrich Schorlemmer: Rede zur Eröffnung des Rosa Luxemburg Büros in Brüssel am 10. Dezember 2008

Ich freue mich, an diesem denkwürdigen Tag hier zu sein und 60 Jahre nach Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hier sprechen zu können. Ich werde über die Allgemeinen Menschenrechte und die Europäische Linke sprechen. Dabei muss man an die Vergangenheit erinnern und beschreiben, an welchem Punkt der Erkenntnis wir als linke Demokraten gegenwärtig stehen. Meine Ausführungen widme ich Anna Politkowskaja und all jenen Menschen, die für das freie Wort etwas, auch sich selbst, riskieren.

Es sind dreißig goldene Tauben zur Erinnerung an je einen Artikel der Menschenrechte unterwegs, angefertigt von einem Künstler aus Augsburg. Christian Führer aus Leipzig brachte mir für vier Wochen die Taube zu Artikel 19. Ich gab sie nach einer Zeit an meinen langjährigen Freund Armin Schubert weiter, der sie seinerseits an Außenminister Steinmeier weiterreichte, zur Erinnerung an Artikel 19 der Menschenrechte: „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen in allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“

Die LINKE und die Menschenrechte

Es ist ein langer, schmerzhafter, ein von innen und außen umstrittener Weg, der zu folgenden präzis formulierten, gut durchdachten, höchst anspruchsvollen programmatischen Sätzen der LINKEN zum Thema Menschenrechte geführt hat, und leider erst nach dem Scheitern des sowjetisch geprägten Sozialismusmodells möglich wurde: „Freiheit und soziale Sicherheit, Demokratie und Sozialismus bedingen einander. Gleichheit ohne individuelle Freiheit endet in Entmündigung und Fremdbestimmung. Freiheit ohne Gleichheit ist nur die Freiheit für die Reichen. Auch der Mensch ist nicht frei, der seine Mitmenschen unterdrückt und ausbeutet. Ziel des demokratischen Sozialismus, der den Kapitalismus in einem transformatorischen Prozess überwinden will, ist eine Gesellschaft, in der die Freiheit des anderen nicht die Grenze, sondern die Bedingung der eigenen Freiheit ist.“[1] Und im Chemnitzer Programm ist zu lesen: “Freiheit ist für uns die Möglichkeit, das eigene Leben und die Gesellschaft – selbst und gemeinsam mit anderen – zu gestalten. Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung. Freiheit, Gleichheit und Solidarität bilden den Inhalt von Gerechtigkeit.“[2]

Solche Sätze kommen historisch nicht unschuldig daher. Die Skepsis der politischen Gegner resultiert aus (bitteren) Erfahrungen. Leidtragende und Hinterbliebene von Menschenrechtsverletzungen früherer kommunistischer Systeme reiben sich die Augen. Sie empfinden eine solche Wandlung als zynisch oder unglaubwürdig. Manche meiner Freunde verstehen nicht, dass ich zu den Linken gehe. Dabei hat die neue LINKE bzw. die PDS die massiven Menschenrechtsverletzungen nicht relativiert, sondern sich vielfältig und differenziert dazu verhalten; sei es zu politischen Verfolgungen, zur Mauer, zu Ideologisierung und Zensur, zur Staatssicherheit, zu den vielfältigen Einschränkungen von Freiheitsrechten oder zum Umgang mit Religionen, Kirchen und Gläubigen. So beteuerte sie im Mai 2007: „Wir haben aus der Geschichte gelernt: Respekt vor den Ansichten Andersdenkender ist Voraussetzung von Befreiung. Wir lehnen jede Form von Diktatur ab und verurteilen den Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus. Freiheit und Gleichheit, Sozialismus und Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit sind für uns unteilbar.“

Das in sich fragile neoliberale kapitalistische Weltsystem braucht gerade jetzt eine starke, die Menschen überzeugende, linke, demokratische, eine national wie international einigungswilligere und einigungsfähigere Linke. Freiheit und Gerechtigkeit in Solidarität, individuelle und soziale Menschenrechte, bleiben die Eckpunkte für jegliches politisches Handeln. Aber die Würde des Menschen wird angetastet, weltweit, täglich und vielfältig. Es ist Zeit, sich mit aller Kraft, aller Einsicht, mit aller Hoffnung gegen alle Aussichtslosigkeit für die Einhaltung von Menschenrechten national und international einzusetzen, als einzelne, als unabhängige Gruppen, als Länder mit ihren Regierungen und ihrer Opposition.

Menschenrechte sind Widerstandsrechte

Es gibt Fragen, in denen wir Demokraten uns einig sein müssen, wenn wir wirklich Demokratie wollen. Die Menschenrechte sind eine Basis, für die wir trotz unterschiedlicher Akzente kämpfen sollten, angesichts von so viel Hunger und Ungerechtigkeit, Kriegsleid und horrender Profite der Rüstungslobbies (wer Menschenrechte hoch hält, muss Streubomben und Landminen verbieten), angesichts des Mangels an sauberem Wasser, des Wachstums der Wüsten und der „effizienten“ Ausbeutung der Natur, angesichts von Willkür (Abu Ghraib, Guantánamo und fast jedes russische Gefängnis) und des „Rechts der Stärke“ als unangemessene und unwirksame Reaktion auf den weltweit agierenden Terrorismus (statt der „Stärke des internationalen Rechts“), angesichts von Intoleranz, Militanz, Terror und Überlegenheitsposen der mächtigen und reichen Nationen und Kulturkreise, angesichts des Verlusts menschenrechtlicher Grundsätze selbst in Demokratien, angesichts der Macht einer renditebesessenen Anlegergesellschaft über eine menschengerechte und nachhaltige Politik und angesichts der Freiheit der Habenden gegen die Unfreiheit der Nichthabenden. Es ist Zeit, dies im Blick zu behalten und gleichzeitig aber auch zu sehen, wie großartig es ist, dass wir die Erklärung der Menschenrechte haben.

Menschenrechte sind Widerstandsrechte gegen Formen der Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Dem Vorenthalten von Menschenrechten ist ebenso entgegenzuwirken wie ihrer Instrumentalisierung in Propagandaschlachten. Es ist z.B. eine Instrumentalisierung, wenn „Menschenrechte und Demokratie“ gesagt wird, aber „Öl“ gemeint ist oder wenn Kriege mit durchsichtigen Lügen gerechtfertigt werden, wenn die UN-Charta übergangen und einzelne Nationen unter Zustimmungsdruck gesetzt werden, wie kurz vor dem Irakkrieg geschehen. Können Sie sich erinnern, wie die US-Amerikaner 14 Nationen im Sicherheitsrat, darunter Mexiko, bestechen wollten?

Wer für Menschenrechte kämpft, muss stets das Geschick des einzelnen Menschen im Blick haben, aber ebenso den politisch-strukturellen Rahmen, in dem sich das Leben in Gemeinschaft vollzieht. Freiheitsrechte gibt es nicht, ohne dass sich Freie für die Freiheit anderer einsetzen, die um ihre Grundrechte betrogen werden. Menschenrechte bedürfen der Solidarität derer, die in den Genuss der Menschenrechte gekommen sind, mit all jenen, denen sie gröblichst vorenthalten werden, ob im Reiche Lukaschenkos oder im Reich der Mitte, ob unter Mugabe oder in US-Gefangenenlagern.

Eine politische Reliquie

Ich habe eine politische Reliquie, die ich gut verwahre. Es ist ein kleines Büchlein, das ich immer in Handreichweite hielt, eine internationale Berufungsinstanz für das, was ich in dem Land, in dem ich lebte, für politisch richtig und notwendig hielt und was ich zu machen versuchte. Als ich 22 Jahre alt war, 1966, wurde dieses kleine Büchlein „Die UNO. Kleines Nachschlagewerk“ im Dietz-Verlag gedruckt. Wer weiß, was die sozialistischen Staaten für „Buchreligionen“ waren, weiß: Was gedruckt wurde, war entweder gültig oder gefährlich; manchmal war auch das Gültige gefährlich. In dem Buch findet man auf Seite 166 ff. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 als Resolution 217/III mit 48 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen annahm.

Gleich in der Präambel wird klar, wie es zu dieser Erklärung kam, nämlich aufgrund der Missachtung der Menschenrechte, die zu Akten der Barbarei geführt und das Gewissen der Menschheit tief verletzt hatte. Offenbar muss der Mensch vor dem Menschen geschützt werden. Es sollte eine Welt geschaffen werden, in der Menschen frei von Furcht und Not sind und Rede- und Glaubensfreiheit genießen. Es scheint wesentlich zu sein, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen.

Laut Präambel braucht es den Glauben „an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person“, einen Glauben, der sich nicht mehr auf eine höchste übermenschliche Autorität bezieht und auch nicht mehr auf eine hohe menschliche Autorität, wie etwa die im Vatikan, im Kreml oder im Weißen Haus. Es braucht einen Glauben im Sinne einer Sehnsuchtskraft, einer Orientierungsmacht, die als ein dem Menschen innewohnendes Gesetz wirkt und als Boje in den Stürmen der Zeit „tief verankert“ ist. Diese Orientierungsmacht kann aber jederzeit ausreißen: Nichts kann uns sicher machen, dass das, was in Deutschland zwischen 1933 und 1945 passierte, sich nicht wiederholt. Deshalb bedarf es der Wachsamkeit aller Demokratinnen und Demokraten.

In der Präambel werden zunächst die Grundrechte des Menschen, die sich aus seiner Würde herleiten, aufgezählt. Immer im Blick ist dabei die zurückliegende Barbarei, ehe in Artikel 22 das Recht des Menschen auf soziale Sicherheit, in Artikel 23 das Recht auf Arbeit, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, befriedigende Entlohnung, soziale Fürsorge und Schulbildung benannt werden. Interessant: Der Mindestlohn ist hier schon festgeschrieben!

Im Mittelpunkt steht der (einzelne) Mensch

In der Verfassung der DDR stand: „Im Mittelpunkt steht der Mensch“, der Mensch im Mittelpunkt aller Bemühungen. Wir lebten in einem so wunderbaren Staat, der uns auf wunderbare Weise bewahrte und gleichzeitig streng bewachte, einem Staat, der mit seinen Organen den im Kollektiv eingebundenen und aufgehobenen Menschen nie aus dem Blick ließ.

Reiner Kunze schrieb darüber 1969 ein Gedicht. Diese einfachen Zeilen hatten, genauso wie die Lieder von Barbara Thalheim, eine befreiende Wirkung in einem Land, in dem man solche Zeilen und Lieder nicht erwartete. Der Text von Reiner Kunze heißt „Ethik“: „im mittelpunkt / steht / der mensch / nicht / der einzelne“.

Im Mittelpunkt (der Menschenrechtserklärung) steht der einzelne Mensch – kein Abstraktum, Produzent oder Konsument, kein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, schon gar nicht der Mensch als Teil eines Kollektivs, einer Klasse, einer Kirche, einer Rasse, einer Nation, wo das Kollektivgebilde alles und der Einzelne nichts ist, oder nur noch ein Rädchen, Spielball, Salz, Dünger oder Nachbeter. Bei den Menschenrechten geht es immer um den einzelnen Menschen, seine prinzipielle, allem vorausgehende Gleichwertigkeit, seine gleiche Würde, sein gleicher Anspruch auf Leben, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Religion, Herkunft, Begabung, Besitz oder Stellung. Der Arme ist ganz Mensch, ebenso wie der Alte, die Kranke und das Kind. In diesem Sinne geht die Gleichheit nicht nur der Freiheit voraus, sondern ist Bedingung für die Freiheit. Gleichheit nicht im Sinne von Gleichheit aller Leute. Wir sind Ungleiche und doch gleich Gewürdigte, und daraus ergibt sich ein Recht auf Entfaltung. So bleiben universelle und universale Menschenrechte im Sinne von „gleiches Lebensrecht für alle“ eine Utopie, eine motivierende, universelle, alles umfassende Utopie.

Die Proklamation universeller Geltung enthält ein Problem: Wer verbürgt sich für diese Menschenrechte, wie werden sie in positives, einklagbares Recht umgesetzt, wie werden sie gesichert, und wie wird schließlich verhindert, dass sie durch unterschiedliche Bewertung zum Kampfplatz werden?

Widersprüche zwischen den einzelnen Menschenrechten

Menschenrechte haben in sich selbst einige ungelöste und unlösbare Probleme. Erstens, Menschenrechte gehen implizit von einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen aus. Das ist aber in der Praxis nicht durchsetzbar, sind doch die Menschen aus verschiedenen Gründen immer sehr verschieden. (Man stelle sich vor, lieber Lothar Bisky, die wären alle so wie wir beide. Das wäre furchtbar langweilig, obwohl wir beide nicht langweilig sind. So ist Gleichheit nicht gemeint. Gleichheit in Vielfalt! Zwischen den getrennten Kirchen spricht man von „versöhnter Verschiedenheit“. Das wäre auch etwas für die LINKE!). Ziel kann nie die administrierte Gleichheit oder Gleichförmigkeit sein, sondern nur der gleiche Grundanspruch für Ungleiche. Dieser Grundanspruch bleibt so lange abstrakt, bis es Subjekte gibt, die diesen verteidigen, und Gemeinschaften, die ihn kodifizieren und danach streben, ihn in einklagbares Recht zu übersetzen.

Der zweite, noch gewichtigere Grundwiderspruch steckt in den Menschen selber. Der Mensch steht im Mittelpunkt des höchsten Rechts, des Menschenrechts. Damit kann der Mensch eine anthropozentrische Sichtweise auf die Welt einnehmen, die Menschenleben immer höher als anderes Leben und anderes Sein wertet und die sich immer auf die Gegenwart bezieht. Dass dies auch in Konkurrenz zu anderen Werten stehen kann, bleibt ausgeblendet (z.B. verbrauchen wir heute zu viel Energie und bauen darauf, dass sich die Nachfolgenden schon etwas einfallen lassen).

Die Herkunft der Menschenrechte aus europäisch-atlantischer Geistes-, Kultur- und Politikgeschichte und der Bill of Rights der amerikanischen Verfassung machen deutlich, welch’ hohen emanzipatorischen Wert der Begriff der Menschenrechte erlangen sollte und bis heute hat (was freilich die US-Amerikaner nicht daran hinderte, bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Sklaverei beizubehalten, und die Engländer nicht, bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg Kolonien zu unterhalten).

Marx‘ Waffe der Kritik

Auch wenn es in der weltumspannenden Hymne heißt „die Internationale erkämpft das Menschenrecht“, vernachlässigte die kommunistische Weltbewegung den menschenrechtlichen Grundimpuls sträflich. Sie hielt einzig das soziale Menschenrecht im Blick, das von Staats wegen gewährleistet werden sollte. Bürgerliche (individuelle) Freiheitsrechte behandelte die kommunistische Weltbewegung in Theorie und politischer Praxis (der festgefügten Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus und einer Allmachtspartei) nach Gutdünken und mit Willkür – oder ertränkte sie gar ganz.

Karl Marx kritisierte in seiner berühmten Einleitung von „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ auf eine sprachlich griffige und denkerisch imposante Weise zunächst die Religion. Er leitete aus der Kritik des Himmels die Kritik der Erde ab, verwandelte sie als die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts und die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. Er erkannte mit der Kritik der Religion an, was durch Luthers Entdeckung des Einzelnen und seinem Ausbruch aus knechtischen Verhältnissen in die Welt gekommen war. Der Protestantismus sei freilich nicht die „wahre Lösung“, aber doch die „die wahre Stellung der Aufgabe“.

Was in einem sozialistischen Sinne Emanzipation ist, fasste Marx unübertroffen in jenen Sätzen zusammen, die zum Katechismus der menschlichen Emanzipationsgeschichte gehören (abgesehen von der darin enthaltenen Gewaltoption): „Die Waffe der Kritik kann (…) die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert [also am Menschen gezeigt wird] und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entscheidenden positiven Aufhebung der Religion, also nicht die Abschaffung sondern die positive Aufhebung. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ [3] Genossen, das müsst ihr herbeten können!

Am Menschen, am Einzelnen wird demonstriert, was die Theorie in der Praxis ist. Sozialismus ist nur so, wie er von den Menschen in der Praxis erfahren wird. Es geht nicht bloß um die Negation der Religion, in der der Mensch als Gotteskind, als höchstes Wesen angesehen wird, über dem freilich ein höheres Wesen steht, das ihn will und bestimmt. Der Mensch selbst ist das Höchste. Wenn der Mensch für den Menschen das höchste Wesen ist, dann ist dies ein gegenseitiger Prozess der Hochschätzung des anderen, der Höchstbewertung des Menschen, der sich keinem höheren Wesen unterwirft. Er ist dazu aufgerufen, alle (äußeren) Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch nicht Mensch sein kann, wo er ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Marx ging es um die äußeren Verhältnisse. Der Grundirrtum der Praxis der sozialistischen Weltbewegung war, dass Marx im Wesentlichen auf die äußeren Verhältnisse setzte und die inneren Widersprüche, außer in Darstellungen auf dem Theater, kaum mitdiskutierte. Man erinnere sich daran, wie lange Franz Fühmann, der Dichter, dafür ackern musste, dass Schriften von Sigmund Freud „in unserer Deutschen Demokratischen Republik” erscheinen konnten.

Es wirken aber nicht nur die äußeren, sondern auch die „innere Verhältnisse“, inneren Widersprüche und Antriebe, Macht- und Geltungsgelüste, destruktive Triebüberschüsse und frühkindlichen Schädigungen mit Langzeitwirkungen, unbearbeitete, später ausgelebte Traumata, Rivalitäten und Obsessionen. Ich hatte gerade neulich eine Debatte mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz. Er deutete die gegenwärtige Finanzkatastrophe wesentlich mit biographischen Schädigungen der Manager. Er hat recht. Die Manager sind krank. Aber sie finden ein System vor, in dem sie ihre „Krankheit“ ausleben können. Politisch-ökonomische Strukturen sind die „andere Seite“. Wie sagte Brecht: „Caesar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?”[4]

Zurück zu Marx’ wunderbarem Imperativ. Marx war überzeugt, die Emanzipation des Menschen müsse und könne von Deutschland ausgehen. So konnte er schließen: „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.“

An die Stelle des dritten Standes, anstelle der Masse notleidendender Menschen trat bald die Partei, die sich zur Avantgarde erklärte und die Herrschaft nach ihrem Gutdünken übernahm. Der emanzipatorische, menschenrechtliche, freiheitliche, menschheitlich-solidarische Gedanke blieb auch in der Kaderpartei bei einzelnen „Genossen“ wach. Aufrechte Kommunisten duldeten nicht, dass andere wieder geknechtet und entwürdigt wurden. (Ich denke an die, die in Spanien gegen Franco kämpften. Viele, die überlebten, sind unter Stalin umgebracht worden. Erich Mielke war nicht darunter.)

Dass der Mensch als Mensch gleiches Recht und gleiche Würde und gleichen Wert hat, ist ein Postulat, das auf Zustimmung angewiesen ist. Es gilt assertorisch und bedarf keiner weiteren Begründung, ist aber auch zu keiner weiteren Begründung fähig. Deshalb einigte man sich darauf, Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht zu interpretieren, denn die Interpretation ruft weitere Interpretationen hervor, die den Grundsatz relativieren und den unantastbaren Satz entwerten. Es muss Sätze geben, die einfach gelten.

Wer sanktioniert die Menschenrechte?

Die Menschenrechte sind nicht von einer außerhalb des Menschen liegenden Instanz legitimiert. Das ist ihre Größe, auch ihre prinzipielle „Anschlussfähigkeit“ für Nicht-Religiöse wie für Anhänger unterschiedlicher Religionen dieser Erde. Genau darin liegen aber auch ihre Grenze und eine Gefahr begründet. Denn wer ist das autoritative Subjekt, das die grundlegenden Menschenrechte als universell und universal geltende Rechte anordnet und sanktioniert?

Dieses Problem wirft bereits das Buch „Exodus” im zweiten Buch Mose auf. Der charismatische Führer Mose stieg zum Zeitpunkt einer kritischen Situation, auf der Suche nach einer höheren Autorität für die Lebensregeln, auf den Berg Horeb (Sinai) und kehrte nach einer längeren Schweigezeit mit der Zehn-Gebote-Tafel zu seinem entbehrungsmüden Volk zurück. Mit Entsetzen sah er, dass dieses sich in der Zwischenzeit eine eigene Autorität geschaffen hatte: Ein goldenes Kalb war gegossen worden und wurde nun umtanzt.

Selbstunterwerfungen unter Reichtum und Macht, unter die Autorität der Goldbarren, ist ein allgegenwärtiges Muster. Das Problem ist, dass wir vieles ändern würden, wenn wir unendlich wären. Wären wir unendlich, würden wir sagen: „Das nicht noch mal!”. Aber wir sind endlich. Auf einem Holzschild von Überlebenden von Ravensbrück steht „Wir vergessen Euch nicht!“. Jetzt sind die Überlebenden nicht mehr da. Das Schild verrottet. Es gibt keine Menschen mehr, die sagen: „Wir vergessen euch nicht!”

Der Staat und die Menschenrechte

Die Zivilisationskatastrophe des Zweiten Weltkrieges führte ausgerechnet oder logischerweise zur Ausformung der UNO-Charta und später zur Erklärung der Menschenrechte. Sie wurde unterzeichnet, um eine allgemeine Rechtsgrundlage für die Ahndung künftiger Angriffskriege und Menschenrechtsverletzungen zu haben, sei es durch Einzelne, Staaten oder Blöcke. Wie schwierig das heute und damals rechtsphilosophisch legitimierbar ist, liegt auf der Hand und wird jeden Tag neu deutlich, wenn wir an die Prozesse gegen die Verantwortlichen der Massaker in Jugoslawien, Ruanda oder Darfur denken. Wenn man sieht, wie sich Karadzic verteidigt oder wie sich Milosevic verteidigte, erkennt man, dass es schwer sein kann, Verbrechen rechtsstaatlich zu ahnden. Ähnliches gilt für das Kidnapping Adolf Eichmanns. Formal gesehen war das Kidnapping ein Völkerrechtsbruch, aber Eichmann straflos in Argentinien zu beherbergen war es ebenso. Der Prozess gegen den eiskalten Bürokraten des Holocaust verlief dann zwar rechtstaatlich, macht aber das Dilemma nationaler Souveränität deutlich, das Eichmann erlaubte, seinen Anklägern zu erwidern, er habe „nur gehorcht“ und „seine Pflicht“ getan.

Die Frage bleibt, wie weit Staaten in die Rechtssysteme anderer Staaten eingreifen dürfen, inwieweit sie das, was dort „legal” war, nachträglich verurteilen dürfen. Hans Filbinger ging so weit zu sagen: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Hier haben wir ein Problem. Wer ist legitimiert, auf welcher Rechtsgrundlage, an welchem Ort wen zu verurteilen? (Heute will man die Piraten vor Somalia nicht festnehmen. Sie haben keine andere Lebensperspektive. Keiner weiß, nach welchem Recht und auf wessen Kosten sie festgenommen und inhaftiert werden sollen.)

Menschenrechte bleiben die einzige Boje der Weltzivilisation. Die Liste des Scheiterns der Menschenrechte ist lang: Korea- und Vietnamkrieg, Kongo- oder Nahostkriege, Afghanistan- und Irakkriege. Trotz des vielen Scheiterns wollen wir Menschenrechtsverletzungen überall auf der Erde sensibel, wach und entschlossen auf der Spur bleiben.

Schwerste Menschenrechtsverletzungen gehen nicht nur auf organisiertes gegenseitiges Töten von Soldaten zurück, sondern auch auf die überhand nehmenden „Kollateralschäden“. Der Begriff, seit den Balkankriegen üblich geworden, ist eine zynischer Verschleierungsterminus. Gelten die allgemeinen Menschenrechte noch, wenn die Toten in New York unendlich viel mehr gelten als die (ungezählten) unschuldigen Toten im Krieg in Afghanistan gegen die Taliban? Wer legt einer Großmacht die rechtlichen und strafrechtlichen Zügel an, wenn das Recht der Stärke gilt und ein Lager wie Guantánamo aufgebaut und unterhalten werden konnte? Auch die durchaus zweifelhafte Praxis der Todesstrafe legitimiert die Vereinigten Staaten nicht gerade dazu, Hauptanwalt der Menschenrechte zu sein. Obama tritt ein schwieriges Erbe an bei dem Versuch, den „amerikanischen Traum“ im besten Sinne wieder zu beleben, wenn er es überlebt.

Menschenrechte sind keine ideologisch-moralische Schimäre, wenn sie sich auf die Schwachen und deren Rechte richtet, also auf Kinderrechte, das Recht auf Brot, Minderheitenrechte, Frauenrechte, etc. Das oben bereits genannte Quasi-Apriorische der Menschenrechte macht ihre Schwäche aus und erfordert eine erneute Aneignung durch jede Generation mit ihren Überzeugungen sowie staats- und gesellschaftsbegründenden Gesetzen. Die grundlegenden Menschenrechte beanspruchen einen geradezu liturgischen Glaubensstatus, wieder und wieder wiederholt und eingeschärft, um auf lange Zeit gelten zu können und vor allem, um sich in immer wieder heraufziehenden Konfliktsituationen (z. B. in ethnischen Konflikten) bewähren zu können. Die Menschenrechte sind stets fragil und müssen von jeder Generation neu angeeignet werden.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben dies wohl nach der nazistischen und rassistischen Barbarei klar erfasst über alles den feierlichen Satz, den Artikel 1 gestellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der Staat ist verpflichtet, die Würde des Menschen zu schützen, nicht der Bürger ist dazu da, die Autorität des Staates zu schützen und zu stützen und ihm gehorsam zu sein. Der Staat ist eine Hilfseinrichtung für das höchste Wesen Mensch, dessen Würde als unantastbar gelten soll.

Artikel 1, Absatz 2 benennt sogleich das Problem, das darin besteht, dass der Staat als Abstraktum etwas schützen soll, was zunächst auch abstrakt erscheint, nämlich „die Würde des Menschen“. So heißt es dann in Artikel 1, Absatz 2: „Das deutsche Volk bekennt sich darum [weil die Würde des Menschen unantastbar ist] zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Wie viele Deutsche kennen diese beiden Sätze? Wie viele wissen, was sie bedeuten? Hier wird plötzlich das deutsche Volk in seiner Gesamtheit in Anspruch genommen, als eine Bekenntnisgemeinschaft, die unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als Grundlage für ein gedeihliches menschliches Zusammenleben und für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt ansehen!

Die Einübung von Menschenrechten

Menschenrechte sind und bleiben eine permanente Bildungs- und Aneignungsherausforderung. UNESCO-Projektschulen gehören in besonderer Weise dazu, wie auch Kinder- und Jugendgalerien, z.B. die in Brandenburg von Armin Schubert. Kinder setzen und drucken hier zentrale Sätze der Menschenrechtserklärung, Buchstabe für Buchstabe, Blatt für Blatt. Dabei vollzieht sich eine Internalisierung der Grundwerte. Auch Theaterspielen kann eine Form der Aneignung sein. Wer einmal in „Antigone“ oder in „Andorra“ mitgespielt hat, geht verwandelt und geprägt daraus hervor. Einen nicht unerheblichen Anteil haben auch christliche Kirchen, wenn sie als offene und entschiedene Gemeinschaften im Geiste des Menschensohns aus Nazareth wirken und Türöffner für eine Kultur der Barmherzigkeit sind, die allen Menschen gilt.

Aber noch wichtiger als alle intentionale Erziehung ist das, was junge Leute alltäglich in ihrer Umwelt sehen, hören und erfahren. In dem Wort „bekennen“ erschließt sich die ganze Problematik. Das Wort „bekennen“ kommt aus der religiösen Sprache. Credo heißt „ich bekenne“. Etwas bekennen heißt für etwas zeugen, sich einsetzen und mit Leib und Seele dazu zu stehen. Wenn sich das deutsche Volk nicht mehr dazu bekennt, kann alles hohl und leer werden, bis es verdorben, verdreht und vergessen ist. Menschenrechte bestehen also nur so lange, wie sich eine Gemeinschaft von Menschen, in einem Staat organisiert, der Geltung dieser Menschenrechte verpflichtet fühlt und diese als Grundlage ihres Zusammenlebens und der Völkergemeinschaft anerkennt. Sowie eine solche innere Anerkennung ausbleibt, hat es der Staat schwer, die Menschenrechte durchzusetzen. Er hat es aber wiederum auch leicht, die Grundnormen zu vernachlässigen oder gar, wenn es opportun erscheint, sie zu durchbrechen.

Das können wir in diesen Tagen in Griechenland verfolgen. Da hat sich lange etwas angestaut. Die Jugendlichen glauben nicht mehr an die Lösungskompetenz ihres demokratischen Systems. Die Polizei ist mental immer ganz autoritär bestimmt. Wenn die Militärs wiederkommen, ist die Polizei die erste, die die Diktatur durchsetzen wird. Man braucht eben auch eine zuverlässige, demokratisch denkende Polizei.

Ich denke auch an unsere deutschen Debatten um die Aufweichung des Asylrechtsparagrafen, um die Durchsuchungsmöglichkeiten mit dem neuen BKA-Gesetz, an den zurecht so verspotteten „Otto-Katalog“, an Freiheitsrechte einschränkende Terrorprävention, aber auch an die sogenannte aktive Sterbehilfe. Ohne den Glauben an die unverletzliche Gültigkeit der Menschenrechte durch die Bürgerinnen und Bürger und ohne den aktiven Einsatz und die Wachsamkeit der Bürger für die konkrete Wahrung der grundlegenden Menschenrechte sind die Menschenrechte täglich gefährdet.

Ein weiteres fundamentales Problem ergibt sich durch das Mit-, Neben- und Gegeneinander von sogenannten bürgerlichen (individuellen) und sozialen Menschenrechten. Zugespitzt: Wie verhält sich das Recht auf Freiheit zum Recht auf Brot? Wie beides machtpolitisch gegeneinander ausgespielt werden kann, hat Dostojewski in seiner Legende vom Großinquisitor eindrücklich beschrieben. Da schickt der Großinquisitor den vom Himmel herabkommenden Jesus wieder zurück, weil man ihn und seine Grundauffassung vom Menschen einfach nicht brauchen kann, wenn es konkret um Macht und um Wohlstand sowie um die dafür nötige Unterwerfung geht. Ein Großinquisitor muss immer wieder kreuzigen und setzt sich als Machtrealist immer wieder an die Stelle des Erlösers mit dem sanften, barmherzigen, vergebungsbereiten, versöhnungsfähigen, gewaltlosen, verständnisvollen, freimütigen, offenen, gänzlich unverschlagenen Blick des Menschensohnes. Die dümmsten Kälber wählen sich ihre Schlächter selber.

Drei Fälschungen marxistischer Klassiker

Die Linke, insbesondere die marxistisch geprägte, bolschewistisch ideologisierte, als ML fixierte Weltanschauungsgemeinschaft krankte an drei grundlegenden Fälschungen ihrer eigenen heiligen Schriften, ihrer höchsten Berufungsinstanz, den sogenannten Klassikern. Die erste Fälschung bestand in einer zunächst unbedeutend klingenden Verschiebung eines Adjektivs: „Die Freiheit ist eine bürgerliche Schaukel“. Bei Marx heißt es schlicht: „Die bürgerliche Freiheit ist eine Schaukel“. Aber jener Satz beschädigte das leuchtende Wort „Freiheit“ und unterwarf es ganz und gar der Allmacht und dem totalitären Wahrheitsanspruch der Partei, die sich angeschickt hatte, die Massen anzuführen und dabei „im Interesse der Sache“ so gut wie kein Verbrechen ausließ.

Die zweite Fälschung bezog sich auf das Individuum, das auf den Kern der Menschenrechte verweist, eine Fälschung, die unbegreiflich bleibt, hatten doch alle das kommunistische Manifest hoch- und runter gelesen und dabei etwas überlesen, was folgenreich sein sollte und in der DDR erst durch das „Abendlicht“ von Stephan Hermlin publik wurde. Bei Marx und Engels heißt es: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“[5] Und was stand in der Ideologie, in Lehrbüchern und was setzte sich in den Köpfen derer fest, die die regelmäßigen Rotlichtbestrahlungen und ML-Seminare zu besuchen hatten? „Die freie Entwicklung aller ist die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden.“ Das ist die verhängnisvolle Vorordnung des Kollektivs vor den Einzelnen und der Masse vor dem Subjekt – ganz zu schweigen davon, dass Marx und Engels eine Assoziation vorschwebte, die eine freie Entwicklung aller (Einzelnen) zum Ziel hat.

Und die dritte verhängnisvolle Fälschung ging auf Friedrich Engels zurück, der die elfte Feuerbachthese scheinbar nur sprachlich glättete, indem er ein „aber” einfügte. Bei Marx heißt es: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an sie zu verändern.“ Im Marx´schen Sinne wird eine unterschiedliche Interpretation nicht völlig negiert, wohl aber die Aufgabe der Philosophie zugespitzt, dass sich ihr Denken in weltverändernder Absicht vollzieht. Daraus wurde in der Praxis, dass der Marxismus-Leninismus (-Stalinismus) die einzige wissenschaftliche Weltanschauung sei und alles andere nur ein philosophisches Vorgeplänkel darstelle, einschließlich jener simplifizierenden, grob kategorisierenden Gegenüberstellung von Materialisten und Idealisten, der Teilung in fortschrittliche und bürgerliche Philosophie etc. Ergebnis war weithin eine Philosophie als Parteischolastik.

Es sei noch erwähnt, weil nicht ganz unerheblich, dass die in der dritten Feuerbachthese ausgesprochene Wahrheit auf die kommunistische Bewegung selber nicht angewandt wurde, dass nämlich die Umstände von Menschen verändert werden und dass „der Erzieher selbst erzogen werden muss“. Daraus wurde später die Formel, dass die Partei immer Recht habe, dass die Lehre von Marx allmächtig und wahr sei (nach Lenin) und damit auch die roten Parolen. Und das alles in einem Sozialismus, der nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings zum „real-existierenden Sozialismus“ erklärt wurde und, jeglichen utopischen Charakters entkleidet, zu einer diktatorischen Machtformation der Geschichte degenerierte, bisweilen als unverhohlener „Stasiismus“.

Verheerend wirkte die Marx’sche These, dass das menschliche Wesen kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum sei. „In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Damit widerspricht Marx bereits in den Feuerbachthesen seinen eigenen Reflexionen über das Individuum in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, die in der DDR nicht von ungefähr bis 1968 im Giftschrank lagen!

Rosa Luxemburgs Warnungen an die eigene Partei

Rosa Luxemburg wollte die Humanisierung der menschlichen Beziehungen, die Abschaffung von Krieg und Ausbeutung, sah andererseits in ganzer Klarheit, wohin es führt, wenn es zu einer Diktatur einer Handvoll Personen kommt, wenn die selbsternannte Macht der Sowjets als einzig wahre Vertretung hingestellt wird und allgemeine Volkswahlen ausgeschlossen werden:

„Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein (…). Eine Elite der Arbeiterschaft, die von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten wird, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft, eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Hand voll Politiker.“[6]

Rosa Luxemburg nennt in ihrer Schrift zur russischen Revolution Ross und Reiter, Lenin und Trotzki (von Stalin konnte sie noch nichts wissen). Und sie hält es von ihrem Menschenbild und ihrem Selbstverständnis als politisch aktive Frau für eine unbestreitbare Tatsache, „dass ohne eine freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist.“ Parteiprogramme nennt sie nur „wenige große Wegweiser“, die die Richtungen anzeigen. Zum Sozialismus gehöre eben, dass er sich seiner Natur nach nicht oktroyieren lässt, dass es unbedingt der öffentlichen Kontrolle bedarf.

Daran schließt jene angeblich an den linken Rand ohne Einordnung hingeschriebene Bemerkung, die im Januar 1988 zu einer großen Verhaftungsaktion führen sollte: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei, mögen sie noch so zahlreich sein, ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus, der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“

Rosa Luxemburg ist außerordentlich hellsichtig, was die Versuchungen der Macht anlangt, was den schnellen Verlust von Menschenrechten und die klugen Köpfe an der Spitze betrifft, die nur noch „kritiklose Bewunderung und eifrige Nachahmung“ erwarten. Sie vertraut auf die kritische Urteilsfähigkeit der Massen und sieht sich vor die Aufgabe gestellt, „sich kritisch mit der russischen Revolution in all ihren historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen.“ Sie sieht, wie schnell die Macht die Grundrechte, für die man gekämpft hatte, verschlingt.

Sozialistisches oder linkes Denken muss immer ein machtkritisches Denken bleiben, das sich nicht bloß auf den politischen Konkurrenten oder Gegner richtet, sondern Selbstkritik einschließt. „Gewiss“, schreibt sie „jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden, die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll. Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische, politische Leben der breitesten Volksmassen.“

Was dann aber am 14. Dezember 1918, vor 90 Jahren, in der „Roten Fahne“ stand, ist nichts anderes als ein Versuch des Spartakusbundes (im Namen der Volksmassen), die alleinige Macht auch auf gewaltsamem Wege zu erreichen. Der Spartakusbund sei „das sozialistische Gewissen der Revolution und die politische Macht, und zwar die ganze politische Macht.“ Diese Macht ziele auf die Diktatur des Proletariats und deshalb „auf die wahre Demokratie.“ Dieser letzte Gedanke bestimmte das sowjetische Sozialismusmodell und erklärte die Diktatur der Guten kurzerhand zu wahren Demokratie.

Neben diesem Überlegenheitspathos und diesem verhängnisvollen Alleinvertretungsanspruch steht dann, ganz unverbunden, jener große Satz: „Die proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt, auf dem Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen durch Niederlagen und Siege zur vollen Klarheit und Reife durchringen.“

Rosa Luxemburg und die Einheit der Menschenrechte

Das Erbe dieser hellsichtigen und auf Freiheit und Selbstentfaltung jedes Einzelnen und aller zugleich ausgerichteten sozialistischen Denkerin gilt es zu bewahren, ohne sie zu heroisieren. Es sind ihre Gefängnisbriefe, die den Menschen hinter der Revolutionärin so eindrücklich zeigen. Sie hätte wohl, wäre sie nicht 1919 ermordet worden, spätestens 1933 aus Deutschland hätte fliehen müssen und wäre spätestens 1937 erschossen worden oder im Gulag gestorben. Diesen Wahrheiten muss man sich stellen.

Wir haben in Rosa Luxemburg eine Berufungsinstanz für die Einheit von individuellen und sozialen Menschenrechten vor uns. Wenn die LINKE von Menschenrechten spricht, darf sie niemals vergessen, was im Namen der Befreiung der Menschheit ausgerichtet wurde. Menschenrechte müssen strikt bewahrt werden, als etwas Strahlendes, in dem Glauben, dass sie gelten, dass sie bleiben und dass sie gesetzliche Gestalt gewinnen können.

Die ungeheuerlichsten Verbrechen wurden im Namen dieser großen Emanzipationsidee verübt. Stalin steht auch für systemische Probleme. Man muss sich als linker Demokrat den Werken von Schalamow, Rybakow, Tendrjakow und auch Solschenizyn oder dem „Schwarzbuch des Kommunismus“ stellen. Erst jetzt wird öffentlich, welche ungeheuren Verluste und Verbrechen bei Maos legendär-mythisierten „langem Marsch“ 1934/35 zu beklagen sind, von der Kulturrevolution oder dem Terror der Roten Khmer ganz zu schweigen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die bürgerlich-liberale Geisteswelt in Vielem mit der demokratisch-sozialistischen verbinden, hatte sie doch im Kampf gegen den Nationalsozialismus zusammengestanden und aus der Zersplitterung der Kräfte im Kampf gegen Franco gelernt.

Albert Camus Warnungen an die Linke

Mit großer gedanklicher Klarheit und menschlicher Unbestechlichkeit hat Camus das festgehalten, was oft beim Gebrauch oder bei der Benutzung des Wortes „Menschenrechte“ auseinanderfiel, nämlich das Recht auf Freiheit und das Recht auf Brot. Camus verweist auf die „Morgenröte der ersten Freiheit und die gewaltigste Hoffnung, die diese Welt je gekannt hat.“ Camus beklagt, dass diese gewaltigste Hoffnung der Welt „in der tüchtigsten Diktatur der Welt verknöcherte.“ Freiheit und Brot sind gleich hohe Werte; der eine Wert geht ohne den anderen verloren. „Denn selbst wenn die Gesellschaft sich mit einem Schlag verwandeln und jedermann anständige, behagliche Lebensbedingungen bieten sollte, es aber an der Freiheit mangelte, wäre sie noch immer eine Barbarei.“ Ein menschenrechtliches Pathos, wie es einem Linken in Europa noch heute gut anstünde: „Für uns alle kann heute nur eine einzige Parole gelten: in nichts nachgeben, was die Gerechtigkeit betrifft, und auf nichts verzichten, was die Freiheit angeht.“[7]

Camus weiß genau, dass Freiheiten stets erkämpft werden müssen und dass das Caesarentum in allen möglichen historischen Verpuppungen wiederkommt, ja, dass die Trennung von Freiheit und Gerechtigkeit der Trennung von Kultur und Arbeit gleichkommt. Camus hält an den bürgerlichen (individuellen) Freiheiten ebenso fest wie an den sozialen Ansprüchen, die ein Mensch auf Leben erheben kann und muss:

„Die Freiheit wählen, das heißt nicht, gegen die Gerechtigkeit wählen, wie man uns dies weismacht. Im Gegenteil, man wählt die Freiheit heute nur auf der Ebene derer, die allenthalben allein leiden und kämpfen, dort und nur dort. Man wählt sie zugleich mit der Gerechtigkeit und wahrhaftig, in Zukunft ist es für uns nicht mehr möglich, die eine ohne die andere zu wählen. Wenn jemand euch euer Brot entzieht, beraubt er euch gleichzeitig eurer Freiheit, aber wenn jemand euch eurer Freiheit beraubt, dann wisst, dass euer Brot bedroht ist, denn es hängt nicht mehr von euch und eurem Kampf ab, sondern von der Eigenmächtigkeit irgendeines Herren. Je mehr die Freiheit in der Welt an Boden verliert, desto mehr wächst das Elend und umgekehrt (…). Die Unterdrückten wollen nicht nur von ihrem Hunger befreit sein, sondern auch von ihren Herren. Sie wissen genau, dass sie den Hunger nur dann wirklich loswerden, wenn sie ihre Herren, alle ihre Herren, in Schach halten.“[8]

In seinem Gespräch über die Bewertung des Ungarnaufstandes 1956 schreibt er unter der Überschrift „Der Sozialismus der Galgen“ etwas über die Aufgabe der Linken, die nicht auf der Leimrute von Formeln kleben dürfe und den Versuchungen jeglicher Ideologie entsagen soll. „Die Linke ist schizophren und muss Heilung suchen – in unerbittlicher Kritik, Übung des Herzens, Festigkeit der Überlegung, und auch in ein wenig Bescheidenheit (…). Keines der Übel, die der Totalitarismus (in erster Linie gekennzeichnet durch die Einheitspartei und die Abschaffung jeglicher Opposition) zu beheben vorgibt, ist schlimmer als der Totalitarismus selber.“ Ohne Freiheit gibt es keinen Sozialismus, es sei denn, den Sozialismus der Galgen. An dieser schlichten Wahrheit, an diesen Erkenntnissen hat der real-existierende Sozialismus vorbeigelebt, hat sich überlebt und das Wort links mit sich heruntergerissen.

So gehört es geradezu zu den tragischen Irrtümern und Versäumnissen, dass die Linke, wo sie an der Macht war, wie alle anderen mehr an der Macht interessiert war als an den Prinzipien, um deren Willen sie die Macht ergriff. Die kommunistische Weltbewegung, formiert im Sowjetblock wie im chinesischen Riesenreich, nahm sich prinzipiell der Forderung nach Gleichheit aller an, räumte aber alle, die Macht und Parteilinie im Weg standen, gnadenlos und regellos aus dem Weg. Die „sozialistischen Länder“ (mit und ohne Anführungsstriche!) ließen sich gewissermaßen die Menschenrechte als ein Kampfthema im Kalten Krieg aufdrängen, weil sie wegen ihrer Angst vor Machtverlust die bürgerlichen Freiheiten einschränkten und als antisozialistisch denunzierten. Die Priorität des Friedens geriet im Wettrüsten auch zur propagandistischen Formel.

Menschenrechte in der Zeit der Entspannungspolitik

Es wäre falsch, wenn man in Abrede stellte, welche besonderen Anstrengungen die sozialistischen Länder (insbesondere in der Nach-Stalin-Ära) gemacht haben: Dass alle eine bezahlbare Wohnung und Arbeit bekommen, dass alle an Bildung, Kultur und Sozialeinrichtungen teilhaben, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen im Sinne der Reichtumsverteilung von unten nach oben abgeschafft wird, dass die Verfügungsmacht über die Produktionsmittel im Wesentlichen in gesellschaftlicher (praktisch aber in staatlicher) Hand liegt, dass Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern ohne alle Rassenschranken oberstes Prinzip wird.

Diese Prinzipien waren ideologisch und propagandistisch besetzt, und die Liste der Einschränkungen ist nicht nur lang, sondern auch schmerzhaft. Wie willkürlich wurden politische Prozesse angezettelt und geführt, wie menschenverachtend war der Strafvollzug, wie entwürdigend die Zensur, wie eingeschränkt die Freiheit des Denkens, der Versammlung, der Vereinigung, des Redens, Schreibens, Druckens und Sprechens. Wie wenig Entfaltungsraum hatte der Einzelne und wie stark war die innerparteiliche Opposition gegen die Vorgaben einer Partei, deren Repräsentanten nicht gerade als das geistige Zentrum der Nation gelten konnten, schon gar nicht das gerontokratische Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Die Menschenrechte waren nicht mehr aus der Welt zu bringen und wurden während der Verhandlungen zur Entspannungspolitik zum Zankapfel schlechthin. Bereits im deutsch-deutschen „Grundlagenvertrag“ vom 21. Dezember 1972 wird im Artikel 2 darauf verwiesen, dass die beiden deutschen Staaten „sich von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, insbesondere der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung.“[9]

In einem einzigen Artikel ist das ganze Problem, das bis zum Zusammenbruch des Sowjetblocks im Vordergrund stand, enthalten, nämlich das Nebeneinander der Souveränität, die Achtung der Unabhängigkeit, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen (was als „Selbstbestimmungsrecht“ definierte wurde) und die grenzüberschreitende Geltung unveräußerlicher Menschenrechte. Man argumentierte, die kommunistische (Partei-) Herrschaft falle unter das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Der Kampf um die Menschenrechte setzte sich in jahrelangen zähen KSZE-Verhandlungen fort und führte 1975 zur „Schlussakte von Helsinki“. Der Westen gewann besonders dadurch bei den Völkern des sogenannten Warschauer Vertrages an Anziehungskraft, weil er sich für die Einhaltung der Menschenrechte stark machte. Die Sowjetunion hatte, ebenso wie die DDR, die „Schlussakte von Helsinki“ einschließlich „Korb III“ unterschrieben.[10] Man sah sich durch das Prinzip der Nichteinmischung abgesichert, unterschätzte aber den starken Freiheitswillen der Bürger in den sozialistischen Ländern, der nun publik wurde durch die intellektuellen Zirkel in Budapest, Moskau, Warschau, Prag und Berlin, durch die sich formierende Arbeiterbewegung in Polen, durch die „Charta 77“ in der Tschechoslowakei und durch die unabhängige Friedens- und Menschenrechtsbewegung in der DDR. Die innere Delegitimierung der Staaten des Ostblocks erfolgte nicht zuletzt durch die Verweigerung von Menschenrechten, insbesondere des politischen Selbstbestimmungsrechts, einschließlich aller bürgerlichen Freiheiten, zu denen der freie Zugang zu anderen Ländern und Informationen gehörte.

Eine Reflexion der heutigen Situation: Offenbar schätzen Menschen die Demokratie mehr, je länger sie ihnen vorenthalten wird und je unerträglicher Reglementierungen werden. In der Freiheit kommt bald Gleichgültigkeit und Beliebigkeit auf, und Demokratie wird von der Mehrheit in dem Maße bejaht, wie sie Wohlstand ermöglicht. So fällt die Entscheidung zwischen Freiheit und Brot fast immer zugunsten des Brotes aus, egal, wie es beschafft wurde.

Um zu wissen, in welch innerlich marodem Zustand die DDR seinerzeit bereits war, muss man sich die Verschärfung des Strafgesetzbuches von 1979 und die darin enthaltenen Sanktionen ins Gedächtnis rufen, insbesondere die Paragrafen über sogenannte landesverräterische Nachrichtenübermittlung.[11] Nach diesen konnten sogar das Verbreiten von Nachrichten, die nicht der Geheimhaltung unterlagen, aber zum Nachteil von DDR-Interessen waren, mit zwei bis zwölf Jahren Strafe belegt werden. Der Paragraf zu „Staatsfeindlicher Hetze“ (§106) drohte ein bis acht Jahre Haft für das Herstellen, Einführen, Verbreiten oder Anbringen von „Schriften, Gegenständen oder Symbolen zur Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, von Repräsentanten oder anderen Bürgern“ an. Es sind zudem Paragrafen über „Zusammenrottung“ (§217), „Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele“ (§218), „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ (§219) und „Öffentliche Herabwürdigung“ (§220) zu nennen. Politischer Willkürjustiz war hier Tor und Tür geöffnet. Das Strafgesetzbuch liest sich wie ein Horrorkatalog, gerade wenn man sich außerdem in Erinnerung ruft, wie die Haftbedingungen von (politischen) Häftlingen aussahen, wie sie psychisch gequält wurden. Viele von ihnen haben Langzeitschäden. Es seien schließlich die sogenannten Zersetzungsmaßnahmen gegenüber oppositionellen Personen und Gruppen genannt, die Mielke ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki erließ. Wer das in Erinnerung behält, ist froh, dieses System hinter sich zu haben. Jeden Tag bin auch ich darüber froh, ohne mir zu verschweigen, vor welchen Herkulesaufgaben wir heute stehen, Aufgaben, die einer starken demokratischen Linken so sehr bedürfen.

Das sozialistische Weltsystem, das sich als Alternative zum Kapitalismus etabliert hatte und zeitweise in einer Beinahe-Paritäts-Position zur westlichen Welt (im Wettkampf der Systeme) stand, ist nicht nur an seinen ökonomischen Problemen zugrunde gegangen, weil man versuchte, die Gesetze des Marktes einfach außer Kraft zu setzen, statt den Markt zu gestalten und zu bändigen. Es scheiterte auch am weitgehenden Verzicht auf die andere Hälfte der Menschenrechte, jener unverzichtbaren Freiheitsrechte. Man betrog sich selbst des kreativen Potentials der eigenen Gesellschaften.

Pathos für Menschenrechte

Es wäre allerdings demagogisch, den sozialistischen Ländern in toto und zu allen Zeiten vorzuwerfen, sie hätten alle Menschenrechte gänzlich außer Kraft gesetzt. Sie haben die Menschenrechte halbiert. Menschenrechte gelten nur ganz oder gar nicht. Es ist der Geist von Helsinki und es ist jene in den politischen Papierkorb geworfene großartige „Charta von Paris“ (1990)[12], die eine selbstbewusste und von ihren Erinnerungen und Erfahrungen getragene linke Menschenrechtsbewegung weiter im Blick behalten sollte, durch bittere Erfahrungen und wundersame Entwicklungen zugleich belehrt und motiviert. Und es ist die Bedeutung des Geistes der „Charta 77“ (1977), die noch heute alle Demokraten verbinden kann.

Wer für Menschenrechte kämpft, braucht solch ein Pathos, das sich freilich bei der politischen Verwirklichung immer wieder erdet, sowie man daraus ein einklagbares und durchsetzbares Recht zu formulieren versucht. Wer für Menschenrechte eintritt, braucht den Überschuss an Utopie, braucht ein Ideal, auf das er zugeht. Wege ergeben sich immer dann, wenn man sie geht.

Keiner (von uns) weiß, wo wir uns im kapitalistischen Weltsystem nach der Etablierung der Deregulierung, des Turbokapitalismus, des weltweiten Neoliberalismus wiederfinden. Der Kapitalismus befindet sich in einer schier unsteuerbaren Situation. Krisenzeiten sind immer Zeiten der Gefährdung von Menschenrechten. Alle spüren, dass wir uns auf einer schiefen Ebene befinden und noch nicht wissen, an welchem Punkt sie endet. Das schnelle Geld mündete in den schnellen Absturz. Die Gier wohnt allen inne und hat im Globalkapitalismus ein System gefunden, das sich als gigantisches Kartenhaus erweist, gegen die Armen und gegen reiche Länder, gegen einen friedlichen Interessenausgleich, gegen die Güter der Natur, gegen alle Einsicht im Blick auf die Klimakatastrophe, gegen die Gemeinsamkeit im Kampf gegen den Terrorismus und seine Ursachen. Wir brauchen wieder mehr Menschenrechtspathos in unseren Ländern und mehr UNO als Gemeinschaft der Völker auf der einen Erde. Mehr Demut. Auch Wut, die zu Mut wird. Trotz alledem.


[1] Programm der Partei die LINKE. Parteitag Dortmund, März 2007.

[2] Chemnitzer Programm der PDS. Parteitag Chemnitz, Oktober 2003.

[3] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1976.

[4] Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters. In: Kalendergeschichten, Reinbek 1983.

[5] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, Stuttgart 1959.

[6] Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974. Dieses und folgende Zitate, S. 335, 355f., 358, 359, 362, 451 und 447.

[7] Albert Camus: Verteidigung der Freiheit, Politische Essays, Reinbek 1974.

[8] In diesem großartigen Essay mit dem Titel „Brot und Freiheit“ macht Camus darüber hinaus klar, dass die Freiheit in erster Linie nicht aus Privilegien, sondern aus Pflichten besteht.

[9] Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Ost-Berlin, 21. Dezember 1972.

[10] Korb III: Grundsätze der Zusammenarbeit im humanitären und anderen Bereichen, Erleichterung von menschlichen Kontakten über die Blockgrenzen hinweg, Informationsaustausch (Teil der Schlussakte von Helsinki), Helsinki, 1. August 1975.

[11] Vgl. Strafgesetzbuch der DDR in verschiedenen Fassungen, www.verfassungen.de/de/ddr/strafgesetzbuch74.htm (2.3.2009).

[12] Charta von Paris für ein neues Europa. Treffen der Staats- und Regierungschefs, der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), Paris, 19.-21. November 1990.