Vortrag zum Gesellschaftspolitischen Forum der Rosa-Luxemburg-Stiftung:
„Was ist das Neue an der neuen Linken? Gesellschaftsanalyse aus Geschlechtersicht“
28. April 2007 in Berlin
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Übersicht über die Eckpunkte
Nach einer Präambel gibt es fünf Hauptkapitel (römische Zahlen).
I: Gemeinsam für eine andere Politik, in dem das Selbstverständnis der neuen Partei formuliert wird.
II: Eine andere Welt ist nötig, in dem die Verhältnisse in ihrer Widersprüchlichkeit beschrieben und bewertet werden.
III: Alternativen, das in acht Unterkapitel aufgeteilt ist.
IV: Für einen Richtungswechsel, in dem strategische Ziele formuliert werden.
V. Nachbemerkung, in dem offene Fragen für die weitere Debatte formuliert werden.
Wo kommt die Geschlechtersicht vor? Überblick und Kommentare
In der Präambel und im Selbstverständnis (Kapitel I) werden folgende Formulierungen verwendet:
„feministisch und antipatriarchal“, „das Aufbrechen traditioneller Rollen der Geschlechter begreifen wir als eine Chance für Individualitätsentfaltung“, „gegen patriarchale und rassistische Unterdrückung“ und „Wir treten ein für die Ziele der Frauenbewegung“.
Hier werden zwei Aspekte inhaltlich angesprochen: Geschlecht als individuelle Rolle und Geschlecht als Herrschaftskategorie. Mit dem Verweis auf die Unterstützung der Frauenbewegung wird auch eine gesellschaftliche Kraft der Veränderung benannt. Allerdings bleibt offen, welche Frauenbewegung gemeint ist (es gab mehrere Frauenbewegungen – so wird in III 5. von „Frauenbewegungen in Ost und West“ gesprochen) und welche ihrer Ziele verfolgt werden sollen (alle Frauenbewegungen waren heterogen).
In der Beschreibung und Bewertung der herrschenden Verhältnisse (Kapitel II) finden sich folgende Textstellen:
„Die überkommene Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die tief sitzenden patriarchalen Verhaltensmuster sind historisch überholt.“
„historisch überholt“ erweckt den Eindruck, dass beides ehemals eine Berechtigung gehabt hätte. Der Begriff „überkommen“ lässt Ursachen im Dunkeln.
„Trotz Gleichstellungsbemühungen ist die Privilegierung von Männern strukturell ungebrochen.“
Warum „von Männern“ (also individuell) und nicht „des Mannes“ (im Sinn von Geschlecht als Kategorie)? Der Begriff „strukturell“ dagegen deutet an, dass es nicht um individuelles Handeln geht.
In den Forderungen (Kapitel III) kommt Geschlecht sowohl in zwei eigenen Abschnitten als auch in anderen Unterpunkten vor. Besonders häufig im Teil 1. Arbeit.
„Arbeit im Haushalt, partnerschaftliche Fürsorge, Betreuung und Erziehung von Kindern, soziale Arbeit werden auch weiterhin vor allem von Frauen verrichtet.“
„Wir streben eine Gesellschaft an, in der jede Frau und jeder Mann eine existenzsichernde Arbeit ausüben kann. Erwerbsarbeit, Arbeit in Familien und Partnerschaften, Arbeit zur Mitgestaltung der Gesellschaft sowie die Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben muss allen Menschen möglich sein. Gesellschaftlich notwendige Arbeiten und die Chancen, am gesellschaftlichen Leben aktiv und mit Einfluss teilnehmen zu können, müssen gleich verteilt sein. Das wollen wir als neue Vollbeschäftigung.“
Es ist festzustellen, dass der Begriff Arbeit hier deutlich neu definiert wird. Allerdings sind die Reproduktionsarbeiten nicht vollständig aufgezählt. Es fehlt die Forderung nach Überführung von Teilen der Reproduktionsarbeit in öffentliche Arbeit. Was gleich verteilt sein soll, bleibt nebulös. Ebenso, warum hier der Begriff Chancen verwendet wird. Es scheint, als sollten doch nicht alle teilnehmen, sondern lediglich dieselbe Chance haben.
Arbeitszeitverkürzung kommt an zwei weiteren Stellen vor und wird auch dort mit der Geschlechterfrage in Verbindung gebracht.
Frauen kommen noch einmal im Abschnitt Arbeit vor:
„Angleichung der Löhne von Frauen an die der Männer.“
Spätestens hier wird deutlich, dass auch das vorher Gesagte zu Arbeit und Geschlecht einen wesentlichen Aspekt ungesagt lässt: Dass es eine geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarktes gibt. Daher ist die Angleichung der Löhne keine falsche Forderung, greift aber zu kurz. In den Berufen, in denen vorwiegend Frauen arbeiten (z.B. in der Pflege und in Kindergärten) ist das gesamte Niveau so niedrig, dass Männer dort gar nicht arbeiten. In vielen gehobenen Positionen sind Frauen in der Minderheit, und zwar nicht allein deshalb, weil es nicht genügend qualifizierte Frauen gibt. Z.B. in Ingenieurberufen sind hoch qualifizierte Frauen häufiger und länger arbeitslos als Männer, weil ihnen der Zugang zu angemessenen Arbeitsplätzen verwehrt bleibt.
In Teil 3. „Sozialsysteme“ kommt Geschlecht an zwei Stellen vor.
„Soziale Sicherheit soll … die Gleichstellung der Geschlechter … ermöglichen“
„- für eine stärkere Orientierung am Individualprinzip im Steuer- und Sozialrecht: Damit soll die staatliche Bevorzugung des Alleinernährermodells überwunden werden.“
Wichtig und richtig ist die Feststellung, dass Gleichstellung der Geschlechter ohne soziale Sicherheit nicht möglich ist. Anders herum ermöglicht soziale Sicherheit allein die Gleichstellung aber noch nicht. Es wäre eine umfassendere Formulierung wünschenswert gewesen als nur der Bezug auf das Alleinernährermodell. Die Überwindung dieses Modells wird nur möglich sein, wenn es Frauen ermöglicht wird, eigene Ansprüche aufzubauen. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage fehlt hier.
Im Teil 4. „Demokratie“ gibt es einen eigenen Absatz „Geschlechterdemokratie“
Die Kontroverse um den Begriff soll hier nicht aufgegriffen werden. Vermutlich wurde er gewählt, weil er gut unter die Hauptüberschrift „Demokratie“ passt. Die Inhalte, die dort abgehandelt werden, passen aber nicht unter den Oberbegriff. Eine Alternative wäre: „Frauenrechte und soziale Rechte“. Im Einzelnen:
„Trotz verfassungsrechtlich garantierter Gleichberechtigung ist die ungleiche Verteilung von Chancen zwischen Frauen und Männern nicht aufgehoben.“
Der Begriff „Chancen“ markiert Ausgangspositionen in einem Wettbewerb (worum?). Frauen wollen keine Chancen in einem Wettbewerb, sondern ein selbstbestimmtes Leben ohne Konkurrenz.
„Der Grad gesellschaftlicher Demokratie misst sich für uns an der Freiheit von Frauen und Männern, den eigenen Lebensentwurf frei von Rollenklischees umsetzen zu können.“
Dies ist nicht in erster Linie eine Frage von Demokratie, sondern von ökonomischen Bedingungen. Sollte für die Linke das Maß der Dinge tatsächlich ein individueller Freiheitsbegriff sein?
„Die gerechte Verteilung von Erwerbs-, Haus- und Erziehungsarbeit zwischen den Geschlechtern ist eine wichtige Voraussetzung dafür.“
Was ist gerecht? Warum nicht gleich(mäßig)?Es gibt viele andere wichtige Voraussetzungen (z.B. gleiche Bezahlung, gute öffentliche Erziehungseinrichtungen).
„Wir brauchen Gleichstellungsgesetze, auch für die Privatwirtschaft, und Frauenförderungsprogramme.“
Bisher war „wir“ die Partei, hier ist mit „wir“ aber die Gesellschaft gemeint. Die Forderung nach Frauenförderprogrammen muss eingebettet werden in die Kontexte, in denen sie sinnvoll sind.
„Elementar ist die Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper. Deshalb: Abschaffung des § 218.“
Nicht nur der §218 schränkt das Selbstbestimmungsrecht von Frauen auf ihren Körper ein. Hierhin gehört z.B. auch, dass Mädchen und Frauen nicht als Sexualobjekt oder als Ware zur Schau gestellt oder verkauft werden dürfen. (Stichwort: Frauen als Geschenk in der Hartz-Bestechungsaffäre). Dieser Aspekt könnte aber auch in ein Gewaltkapitel (s.u.).
„Gewalt an Frauen, Gewalt von Männern gegen Frauen muss öffentlich geächtet und entschieden verfolgt werden. Betroffene Frauen und Kinder brauchen Rechtsschutz, ein funktionierendes Netz von Unterstützungs- und Beratungsstellen.“
Gewalt gegen Kinder gehört nicht in einen Abschnitt „Geschlechterdemokratie“. Oder sind die Kinder der von Gewalt betroffenen Frauen gemeint? Dann müsste es heißen „betroffene Frauen und deren Kinder“. (In diesem Zusammenhang ist interessant festzustellen, dass Kinder nur im Zusammenhang mit Frauen und als „Betreute“ in den Eckpunkten vorkommen.) Erforderlich wäre ein eigener Abschnitt zur Gewalt in der Gesellschaft gewesen, in dem sexualisierte Gewalt von Männern gegen Frauen ein Punkt, Gewalt gegen Kinder ein weiterer Punkt hätte sein müssen. Darüber hinaus fehlen Aussagen zu den Tätern.
„Diskriminierung aufgrund der Merkmale Alter, Geschlecht, sexuelle Identität, Behinderung, ethnische und religiöse Zugehörigkeit lehnen wir ab.“
Es folgt ein eigener Abschnitt mit dem Titel „5. Geschlechtergerechtigkeit: Anerkennung vielfältiger Formen des Zusammenlebens statt Privilegierung der Ehe“
Der Doppelpunkt im Titel markiert, dass der Begriff „Geschlechtergerechtigkeit“ durch das Nachfolgende näher bestimmt wird. Im Punkt Geschlechtergerechtigkeit sollte es eben nicht um die Frage von Lebensweisen (im Kapitalismus) gehen, sondern um eine gerechte Gesellschaft, die Frauen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Hier werden zwei unterschiedliche Themen (die natürlich aufeinander bezogen sind) zu einem verquickt. Das Thema hinter dem Doppelpunkt hätte einen eigenen Absatz bilden können, der z.B. hätte überschrieben werden können mit „Familie, Lebensformen, Kinder“.
„Wir verbinden die Erfahrungen der Frauenbewegungen in Ost und West mit unterschiedlichen feministischen Politikansätzen. Dies bietet die Chance, eine feministische Lesart ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse und eine entsprechende politische Gestaltung in der Arbeitswelt, der Bildung, den Sozialsystemen, der Öffentlichkeit und in der eigenen Organisations- und Politikentwicklung voranzubringen.“
Es bleibt die Frage offen, warum für dieses Politikfeld keine linken Politikansätze herangezogen werden sollen, sondern lediglich feministische. Gerade diese Verbindung wäre das Neue an der linken Partei gewesen.
In der Konsequenz entwerfen wir eine positive Gleichstellungspolitik für Frauen, die den Zugang zu gesellschaftlichen Entscheidungen ermöglicht, ohne ihnen Lebensformen aufzudrängen, die sie mit Verzicht auf persönliche Entfaltungsmöglichkeiten bezahlen.
„Zugang zu gesellschaftlichen Entscheidungen“ hätte besser unter „Demokratie“ gepasst. Die „persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten“ bedienen ein Klischee über Frauen. Müssen Männer ihren Zugang zu gesellschaftlichen Entscheidungen auch mit Verzicht auf persönliche Entfaltungsmöglichkeiten bezahlen? Wenn nein, warum dann Frauen? Wenn gemeint war, dass Frauen sich nicht Männern anpassen, sondern autonom entscheiden wollen, dann hätte das so formuliert werden müssen.
„Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist mehr als eine frauenpolitische Forderung nach Anerkennung fachlicher Kompetenz.“
Für uns sollte sie nicht einmal das sein. Die Vereinbarkeitsfrage sollte keine gleichstellungspolitische sondern allenfalls eine familienpolitische Frage sein. Am besten wäre sie unter dem Punkt „1. Arbeit“ zu behandeln, denn dort wird das Themenfeld bereits gestreift. Im Abschnitt „Geschlechtergerechtigkeit“ müsste das Thema ausführlicher behandelt werden mit der Formulierung des Anspruchs, dass Familie eben nicht mehr allein Aufgabe der Frauen sein soll, die sich für Männer erledigt, wenn es Frauen gelingt, Beruf und Familie zu vereinbaren.
„Es geht dabei sowohl für Männer als auch für Frauen um nicht weniger als ein Umdenken und Neubewerten von gesellschaftlicher Arbeit – ob am Computer, im Haushalt, an der Werkbank, auf dem Spielplatz oder bei der Pflege von Angehörigen.“
Ein Umdenken wird an den Verhältnissen nichts ändern. Die Forderung nach Neubewertung ist mindestens missverständlich (Lohn für Hausarbeit?).
„Für uns sind Quotierung, ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, bedarfsdeckender Ausbau von Ganztagseinrichtungen zur Kinderbetreuung zentrale politische Forderungen.“
Quotierung steht da ohne jeden Zusammenhang: Was soll wie quotiert werden? Die Forderung nach gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit lässt die Problematik der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes unberücksichtigt (s.o.). Und wieder die Kombination „Frauen und Kinder“.
„Die Trennung in männliche und weibliche soziale Rollen, die strukturelle Diskriminierung des weiblichen Geschlechts müssen aufgehoben werden.“
„Wir wollen die bestehenden patriarchalen Regelungen im Sozial- und Steuerrecht beseitigen.“
Hier wird die Chance verpasst, Geschlecht als Ausgangspunkt für ein neues, sozialeres Sozial- und Steuerrecht zu nehmen. Lediglich patriarchale Regelungen zu beseitigen, reicht nicht aus, sondern wirft viele neue Probleme auf.
„Soziale Beziehungen der Geschlechter müssen den Charakter eines Herrschaftsverhältnisses verlieren.“
„Wir fordern politische Instrumente, die familiäre Abhängigkeiten aufheben und gegenseitige Verantwortung in allen unterschiedlichen Lebensformen stärken, denn die Institution der bürgerlichen Ehe kann nicht die einzige anerkannte Familienform sein.“
In diesem Satz erfolgt der Übergang von „Geschlecht“ zu „Lebensformen“. Das nun Folgende hätte in einen eigenen Abschnitt gehört (s.o.).
In den Anregungen zur Programmdebatte (Kapitel V) wird die Frage nach der Bedeutung einer feministischen Perspektive gestellt. Der Satz ist unklar, evtl. unvollständig oder in unkorrigierter Form.
- Wo fehlt die Geschlechtersicht?
In der Einschätzung der historischen Entwicklung (Kapitel II) hätte in der Bewertung der siebziger Jahre neben der Studentenbewegung unbedingt die Frauenbewegung genannt werden müssen.
In der Beschreibung des Neoliberalismus und seiner Auswirkungen (Kapitel II) fehlt eine Analyse der Bedeutung von Geschlecht im Zusammenhang mit neoliberaler Ökonomie und Politik. Einen Formulierungsvorschlag dazu gab es z.B. von Frigga Haug.
Im gesamten Unterkapitel „2. Wirtschaft und Umwelt …“ kommt die Geschlechterfrage nicht vor! So bleibt der einzige Verweis auf einen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Geschlecht der Hinweis auf die Verhältnisse in der DDR.
Ebenfalls im Unterkapitel „8. Internationale Politik …“ fehlt jeder Verweis auf die Geschlechterfrage.
Im Kapitel IV, in dem strategische Ziele formuliert werden, kommt die Kategorie Geschlecht ebenfalls gar nicht vor.
Weiterhin fehlt eine Verknüpfung mit anderen Formen der Ungleichheit.
Es wurde der Versuch gemacht, den Text vollständig in geschlechtergerechter Sprache zu verfassen. Das ist bis auf einige Stellen gelungen. „Großverdiener“, „Verbraucher“ und „Vertreter aus Wissenschaft und Kultur“ bleiben aber männlich.
- Einschätzung aus feministischer Sicht
Die Chance, linke Politik aus Geschlechtersicht zu überarbeiten, wurde verpasst. Das Papier bleibt neben ehrenwerten Allgemeinplätzen auf den Ebenen Individualität, Lebensweisen und Strukturen stecken. Offenbar sind die Forderungen an die Eckpunkte, die aus dem Umfeld der Geschlechterforschung kamen, noch am ehesten gehört worden. So erscheint das, was früher einmal „Nebenwiderspruch“ genannt wurde, als die Hauptfrage, wenn es um Geschlecht geht. Die Verknüpfung der sozialen Frage mit der Geschlechterfrage kommt zwar an einigen Stellen vor, aber ohne neue Analysen, eher auf dem Stand des vorigen Jahrhundert. Eine Verknüpfung mit der Ökonomie und eine Auseinandersetzung mit neoliberaler Geschlechterpolitik fehlen vollständig. So bleibt das, was früher als „Hauptwiderspruch“ bezeichnet wurde, völlig geschlechtsneutral.
Immerhin: Der Anspruch, eine feministische Sichtweise zu integrieren, ist formuliert. Es bleibt nun abzuwarten, ob er praktisch realisiert wird.
Arbeit und Chancen gleich verteilt (also niemand soll mehr Arbeit als Chancen haben)? Oder Arbeit gleich verteilt und Chancen gleich verteilt? Wie kann man Chancen verteilen?