Publikation Staat / Demokratie - Soziale Bewegungen / Organisierung - International / Transnational - Europa Aktuelle Aspekte der russischen Politik

Zusammenfassung eines Vortrages in der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 1.6.2007, von Prof. Dr. Alexej Bogaturow

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Alexej Bogaturow,

Erschienen

Juni 2007

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Nur online verfügbar

Prof. Dr. Alexej Bogaturow
Prorektor des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO)


Vortrag in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 1.6.2007 (Zusammenfassung)

Alexej Bogaturow hat das MGIMO 1976 absolviert und sich seitdem mit Japan, der Außenpolitik der USA und allgemeinen Fragen der internationalen Beziehungen beschäftigt. Gegenwärtig ist er Dekan der Politologischen Fakultät.

Was beabsichtigt Präsident Putin mit seinen außenpolitischen Vorstößen der letzten Zeit (Rede auf der Sicherheitspolitischen Konferenz in München, Botschaft an die Nation, Erklärungen zu den geplanten US-Raketenabwehranlagen in Polen und Tschechien...)? Will er im Vorfeld auf internationale Beschlüsse Einfluss nehmen oder reagiert er auf das Vorgehen der USA? Das sind zwei sehr verschiedene Dinge. Wenn Russland damit wirklich auf die US-Politik reagiert, wäre das eine bedeutende Veränderung seiner außenpolitischen Strategie. Wenn der Präsident mit diesen Schritten auf internationale Entscheidungen Einfluss nehmen will, dann strebte er damit eine Veränderung der Spielregeln an. Ersteres liefe auf eine echte Partnerschaft hinaus, letzteres auf die Forderung, Russland beim Fassen internationaler Entscheidungen mehr Beachtung zu schenken.

Ich neige zu der Annahme, dass es um eine Veränderung der Spielregeln geht. Präsident Putin kritisiert die USA in jüngster Zeit demonstrativ, mit scharfen Worten. Er weiß genau, was er tut. Dabei sind die Kritikpunkte nicht neu, sondern eher alte Probleme aus den letzten Jahren. Der Präsident will sich damit bessere Voraussetzungen für kommende Verhandlungen schaffen. Die nächsten Gelegenheiten werden das Treffen der G 8 in Heiligendamm und Putins Besuch auf Einladung von Präsident Bush im Juli sein.

Die Begegnung Putin-Bush im Juli in den USA wird besonderen Charakter tragen, weil es voraussichtlich die letzte der beiden Präsidenten ist. Sie werden eine Bilanz der acht Jahre ihrer Zusammenarbeit ziehen und zu erkennen geben, was sie ihren Nachfolgern und der Nachwelt in den russisch-amerikanischen Beziehungen hinterlassen.

Was zeichnet sich gegenwärtig ab? In den vergangenen fünfzehn Jahren haben Russland, Europa und die USA immer wieder ihre Gemeinsamkeiten herausgestellt – in den Sicherheitsfragen, in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bis hin zu den Menschenrechten. Handelte es sich dabei um gemeinsame oder um parallele Interessen? Das wird am Beispiel der Sicherheitspolitik deutlich. Russland und die USA stimmen darin überein, dass die größte Gefahr für die internationale Sicherheit gegenwärtig von Asien ausgeht. Aus der gemeinsamen Einschätzung ziehen sie jedoch unterschiedliche Schlussfolgerungen. Die USA haben in den letzten Jahren die Infrastruktur der NATO erweitert. Russland ist der Auffassung, dass dadurch seine eigene Sicherheit bedroht wird. Kommen diese Unterschiede durch Fehleinschätzungen zustande oder sind sie in der internationalen Politik eine normale Erscheinung?

Wenn man fünfzehn Jahre lang die Betonung der Übereinstimmungen ernst genommen hat, dann ist das schon ein Problem. Aber vielleicht hat Russland in den vergangenen fünfzehn Jahren von dem neuen Verhältnis zum Westen nur zu viel erwartet? In diesen fünfzehn Jahren ist Russland nicht Mitglied von NATO oder EU geworden, hat aber zu beiden Organisationen ein sachliches Verhältnis herstellen können. Sollte man also von den Beziehungen nicht zu viel erwarten, die bisherige Politik fortsetzen, und alles wäre in Ordnung?

So einfach ist die Frage nicht zu beantworten. Zunächst gibt es in den konkreten Beziehungen genügend Reibungen, die das Verhältnis trüben. Jedoch gestern hat Präsident Putin im Hinblick auf die USA zum ersten Mal von Imperialismus gesprochen. Aus welcher Quelle mag er diesen Begriff geschöpft haben? Vor einigen Jahren wäre ich davon ausgegangen, seine Berater hätten in einem Werk von Lenin oder in einem älteren sowjetischen Dokument nachgesehen. Ich bin mir aber sicher, dass sie weder das eine noch das andere lesen. Ihre Lektüre sind vor allem Arbeiten amerikanischer Politologen. Dort werden die USA häufig als Imperium beschrieben – ein Imperium der Demokratie und des Liberalismus. Putin kritisiert mit diesem Begriff die Politik der USA aus der Sicht solcher amerikanischen Liberalen wie z. B. Zbigniew Brzezinski. Aus dem Munde eines ausländischen Politikers ist das allerdings ein beträchtlicher Affront.

Der Grund für die scharfe Kritik liegt darin, dass die USA unter Bush konsequent danach streben, militärisch-strategische Unverwundbarkeit zu erreichen. Das ist eine tiefgreifende Veränderung ihrer militärischen Strategie, denn fünfzig Jahre lang haben sie sich im Verhältnis zur Sowjetunion darauf eingelassen, wechselseitig strategisch verwundbar zu sein. Russland steht auf dem Standpunkt, dass das Streben der USA nach strategischer Unverwundbarkeit eine Gefahr für seine Sicherheit und die internationale Sicherheit insgesamt darstellt. Deshalb hat Präsident Putin auf die Erweiterung der Infrastruktur der NATO (gemeint sind offenbar die NATO-Osterweiterung insgesamt und besonders die geplante Errichtung der Raketenabwehranlagen in Polen und Tschechien) so scharf reagiert. Deshalb hat er auch die Tests neuer strategischer Raketen Russlands so freudig begrüßt.

Mit letzterem Schritt tut Russland lediglich, was mit den USA vereinbart wurde. Sein Handeln steht dazu nicht im Widerspruch. Ich selbst habe an Gesprächen im Pentagon in den Jahren 2001/2002 teilgenommen, wo die amerikanische Seite erklärte, sie werde im strategischen Bereich tun, was sie für richtig halte. Russland stehe es frei, ebenso zu handeln. Das bedeutete, dass die USA sich durch frühere Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung nicht mehr gebunden fühlten. Russland war mit diesem Vorgehen absolut nicht einverstanden, konnte aber nichts dagegen tun. Heute handelt Präsident Putin nur so, wie es ihm Bush vor sieben Jahren geraten hat.

Ich bin sicher, dass die jüngsten russischen Raketentests im Pentagon niemanden erschreckt haben. Sie sollen vor allem die russische und die internationale Öffentlichkeit darauf hinweisen, dass Russland immer noch in der Lage ist, die USA an dem Erreichen der strategischen Unverwundbarkeit zu hindern. Dabei steht Präsident Putin auch unter dem Eindruck dessen, was in der EU vorgeht, vor allem, wie sich das „neue Europa“ (die osteuropäischen Beitrittsländer) dort verhält. So ist in Artikeln ukrainischer Politologen davon die Rede, Osteuropa müsse seine bilateralen Beziehungen zu den USA nutzen, weil es sonst nur wenig Einfluss innerhalb der EU haben werde. Für die Ukraine selbst sind die bilateralen Beziehungen zu den einzelnen westeuropäischen Staaten wichtiger als ihr Verhältnis zur EU insgesamt. Für Russland ist es heute leichter mit dem „alten Europa“ eine gemeinsame Sprache zu finden als mit der EU insgesamt.

Dabei kann ich mir durchaus vorstellen, was die baltischen Staaten, zum Beispiel Estland, gegenüber Russland empfinden. Sie haben das Problem, mit einem Elefanten als Nachbarn zusammenleben zu müssen. Ähnlich geht es den Russen im Fernen Osten, die China zum Nachbarn haben. Der große Unterschied besteht nur darin, dass China von Russland als sein größtes Problem anerkannt wird, das es selbst lösen muss. Daher kann es sich schlechte Beziehungen zu China nicht leisten. Die baltischen Staaten dagegen glauben, das Verhältnis zu Russland sei jetzt nicht mehr ihr Problem sondern ein Problem der NATO und der EU.

Da ich selbst verschiedentlich an Sitzungen von EU-Kommissionen teilgenommen habe, weiß ich, wie schwer es der EU der 27 fällt, zu gemeinsamen Beschlüssen zu kommen. Das macht Russland die Sache aber nicht leichter. So muss es bei Verhandlungen mit Polen immer wieder herausfinden, ob dieses gerade als Polen oder als EU-Mitglied spricht. Die komplizierte Lage innerhalb der EU erschwert Russlands Verhältnis zu ihr beträchtlich.

Dabei hat Russland selbst schwierige innere Probleme, deren Lösung für die Außenwelt Bedeutung haben kann. Im Jahre 2008 steht hier (wie auch in den USA) der Wechsel des Präsidenten an. Dabei geht es nicht nur um Personen. Es könnte ein neuer Politikertyp in diese Funktion gelangen. Wenn man die Spitzenpolitiker verschiedener Länder in den letzten Jahren vergleicht – Koizumi, Berlusconi, Bush, Chirac und Putin – wenn man sieht, wie sie das Parlament oder die Medien behandelt haben, dann wirkten sie alle – von Angela Merkel einmal abgesehen – wie Cousins. Ihnen allen war eine gewisse Aggressivität im Auftreten eigen, die Reibungen schuf. Zugleich ließ sie diese Ähnlichkeit immer wieder eine gemeinsame Sprache finden.

Mit den Brüdern Kaczynski ist ein neuer Politikertyp aufgetaucht – der gnadenlose Populist. Sollte auch in Russland der nächste Präsident ein Populist sein, welche Kommunikation wäre zwischen den beiden dann noch möglich?

Stellt man Polen die Frage, weshalb sich seine führenden Vertreter gegenwärtig so verhalten, dann lautet ein Argument, weil Polen als Staat nicht reich sei. Auch Russland ist kein reiches Land, wenn gegenwärtig auch die Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten sprudeln.

Diese hohen Einnahmen haben im Lande jedoch dazu geführt, dass die Faktoren für eine künftige Revolution wachsen. Dabei meine ich nicht den Typ Revolution, auf den die Vertreter der amerikanischen Carnegie-Stiftung in Moskau hoffen. Diese hat schon vor fünfzehn Jahren stattgefunden. Die kommende wird eine Revolution von links sein. Sicher nicht von dem Typ, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts geschah. Die hohen Öl- und Gaseinnahmen haben in Russland u. a. bewirkt, dass junge Leute keine Hoffnung haben, in absehbarer Zeit eine eigene Wohnung zu bekommen. Der Kauf von Eigentumswohnungen ist inzwischen zu einer der attraktivsten Geldanlageformen geworden, um eine inflationäre Entwicklung im Lande zu verhindern. Die Preise sind derartig in die Höhe geschossen, dass zum Beispiel ein junger Universitätsabsolvent, der eine gut bezahlte Stellung in der Geschäftswelt erhält, etwa 20 Jahre sparen muss, um sich eine bescheidene Wohnung leisten zu können. Derartige Einkommen erhält aber nur ein verschwindend kleiner Teil der jungen Menschen im Russland von heute. Die Schlüsselfrage lautet, wie lange es dauert, bis die jungen Menschen begreifen, dass sie im eigenen Lande keine Perspektive haben.

Die Staatsmacht sieht das Problem durchaus. Gegenwärtig ringen die politischen Parteien heftig miteinander um die Gunst der jungen Generation. Im Kreml hat man die Studentenerhebungen von 1968 in Westeuropa nicht vergessen. Ähnliche Entwicklungen sind in Russland durchaus vorstellbar. Daher versucht man den Druck zu kanalisieren und u. a. in Richtung Rechtspopulismus zu lenken.

In den letzten Jahren sind in Russland allein drei größere Jugendorganisationen gegründet worden, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Ihre Mitglieder sind im Alter von 15-20 Jahren, meist armer Herkunft, wessen sie sich auch klar bewusst sind. Ich halte dort öfter Vorträge zu internationalen Fragen und kenne daher ihre Gemütslage. Auf vorsichtige Fragen nach ihrer Haltung zum Faschismus reagieren sie scharf ablehnend. Auch Politiker wie Schirinowski mögen sie nicht. Ihre Lieblingsworte sind Patriotismus und ein großes Russland. Begriffe wie Freiheit, ein gutes Verhältnis zum Westen oder Frieden sind ihnen dagegen fremd. Alle drei Organisationen werden von der (dem Präsidenten nahestehenden) Partei „Einheitliches Russland“ kontrolliert. Auch Putin nimmt auf ihre Entwicklung Einfluss. „Einheitliches Russland“ ist populistischer als der Präsident. Beide ergeben im Zusammenwirken eine mittlere politische Position. Sollte jedoch der künftige Präsident ein größerer Populist sein, gar in Richtung der Brüder Kaczynski gehen, dann könnte eine gefährliche Mischung entstehen. Aber auch unter den Kaczynskis ist „Polen nicht verloren“. Und Russland ebenfalls wird nicht untergehen.

Russland hat inzwischen die Elemente und Methoden des westlichen Pluralismus voll übernommen. Was die Presse schreibt, ist das Eine, was die Präsidialadministration verkündet, ein Zweites, und was das Außenministerium tut, ein Drittes. Die Medien werden in der Tat kontrolliert, aber man findet auch in Rundfunk und Fernsehen immer Sendungen für und gegen Putin, antikommunistische Programme neben ausführlichen Interviews mit dem KPRF-Vorsitzenden Sjuganow. Die Diplomatie scheint ein Eigenleben zu führen. Zuweilen glaube ich, dass sich Putin und Bush persönlich besser verstehen, als die Medien in den USA und Russland darüber schreiben.

China ist für Russland sehr wichtig, wird bisher aber noch nicht als eigenständiges Machtzentrum wahrgenommen, zumindest nicht von Putin. Von ihm ist in Russland viel weniger die Rede als von den USA. Die amerikanische Politik wird gründlich analysiert und Punkt für Punkt kritisiert, Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden herausgestellt. China wird stets nur als der große Nachbar bezeichnet, mit dem das Verhältnis im wesentlichen in Ordnung ist. Als jedoch kürzlich der chinesische Präsident Hu Jintao Russland besuchte, war aus den offiziellen Dokumenten kaum ein Ergebnis zu erkennen. China wird als Faktor der nationalen Sicherheit Russlands immer wichtiger, aber bisher spielt das in der Politik kaum eine Rolle.

Ich hatte 2004 Gelegenheit, während eines einjährigen Studienaufenthaltes in den USA deren Behandlung Chinas zu verfolgen. Die Entwicklungen in diesem Land werden von den USA mindestens so eingehend analysiert und debattiert wie in Russland die amerikanische Politik.

In der NATO geschieht es häufig, dass ausgesprochene Falken in Militär und Politik zu Tauben werden, wenn sie in Pension gehen. So fordern pensionierte französische Generale gern, man sollte die NATO auflösen, weil sie sich überlebt habe, etwas Neues müsste an ihre Stelle treten. Vor fünfzehn Jahren hätte ich dem sofort zugestimmt, heute klingt das nur noch wie ein alter Witz. Ich kann mir auf dem Gebiet der internationalen Sicherheit nur eine Kompromisslösung vorstellen, die den ganzen eurasischen Kontinent erfassen muss.

Die unterste Etage könnte eine NATO sein, wie sie bis 1996 bestand und wie sie die Osteuropäer gerne sehen wollen – eine NATO, die die Sicherheit Europas verteidigt. Litauische Diplomaten erklären zum Beispiel, ihr Land sei in die NATO eingetreten, damit sie es verteidigt und nicht, damit sie sich in Afghanistan engagiert. Das ist allerdings nicht die Sicht der USA. Sie möchten den Verantwortungsbereich der NATO bis nach Asien, bis an die Westgrenze Chinas vorschieben, das ehemalige sowjetische Mittelasien einbezogen. Ich nenne dieses Konzept „NATO Plus“. Als zweite Etage einer Kompromisslösung wäre das für mich vorstellbar, wenn Russland seinen Platz in dieser Struktur findet. Realistisch könnte dieses Konzept sein, weil es sich lediglich um die Transformation einer bestehenden Struktur handelt, nicht um etwas völlig Neues.

Als dritte Etage müsste in spätestens fünf bis zehn Jahren China in diese Struktur einbezogen werden. Das müsste auf eine Weise geschehen, dass die Sicherheit Russlands gewährleistet ist und China sich nicht benachteiligt oder gar bedroht fühlt.

Was das Verhältnis Russlands zu Indien betrifft, so wurde zur Sowjetzeit stets von einem inoffiziellen Bündnis mit diesem Land gesprochen. Das traf jedoch damals nicht die Realität und trifft sie auch heute nicht. Seit drei Jahren versuchen nun die USA, das Verhältnis zu Indien aufzubauen, das die Sowjetunion vor zwanzig Jahren hatte – kein offizielles militärisches Bündnis, aber enge Kontakte in der Praxis. Die USA geben die Unterstützung Pakistans nicht auf, helfen aber Indien zugleich, seinen Status als Atommacht zu legalisieren. Das ist immer das Ziel Moskaus gewesen – die Entwicklung in der Region zu beeinflussen, ohne formale juristische Verpflichtungen einzugehen.

Russlands Haltung zu Indien hat sich in den letzten Jahren beträchtlich verändert. Es betrachtet Indien nicht mehr als Verbündeten und versucht es auch nicht mehr gegen China zu nutzen. Indien wird zunehmend interessanter, weil es sich wirtschaftlich rasend schnell entwickelt. In der letzten Zeit wird gern vom Zusammenwirken der BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien und China – gesprochen. Dieser misst Russland große Bedeutung bei. Der Terminus ist auch deshalb günstig, weil er nicht aus Russland stammt und der Vorwurf eines russischen Hegemoniestrebens in dieser Staatengruppe nicht erhoben werden kann.

In Russland beobachtet man sehr genau, wie sich Indien in die internationale Arbeitsteilung einordnet. Gegenwärtig läuft ein Prozess des „outsourcing“ aus den entwickelten Ländern, besonders den USA, nach Indien. Dieses wird zur verlängerten Werkbank des Westens. Indische Ingenieure führen komplizierte Aufträge amerikanischer Firmen aus. Auch Russland steht vor der Aufgabe, seinen Platz in der internationalen Arbeitsteilung zu finden. Eine Rolle wie Indien kann und will es nicht übernehmen.

Auf einer internationalen Konferenz wurde kürzlich darauf verwiesen, dass die Hochschulausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern, zum Beispiel Physik, in Russland eine der besten und kostengünstigsten in der Welt sei. Russland könnte sich zum Beispiel international auf die Bachelor-Ausbildung in diesem Bereich konzentrieren. Bereits jetzt werben die USA Absolventen russischer Hochschulen ab, um sie, ausgehend von der vorhandenen, sehr guten Grundlage, für eigene Zwecke weiterzubilden. In dieser Hinsicht läuft ein klassischer brain drain, eine Ausplünderung geistiger Ressourcen. Wenn Russland daraus eine Dienstleistung für Hightec-Firmen überall in der Welt auf vertraglicher Grundlage machte, dann könnte dies ein Element für den neuen Platz Russlands in der internationalen Arbeitsteilung sein, wie Putin ihn sich vorstellt.

Bei alledem ist klar, dass Deutschland für Russland ein sehr wichtiger Faktor der internationalen Beziehungen bleibt, welcher Präsident auch immer im März 2008 gewählt wird.

In Beantwortung von Fragen von Teilnehmern hob Alexej Bogaturow folgende Momente hervor:

Weshalb will Russland an der NATO festhalten?

Wir sind Realisten. Die NATO kann nicht aufgelöst werden. Die USA wollen die alte NATO nicht mehr, das „neue Europa“ aber möchte gern daran festhalten. In einer „asiatisierten“ NATO fände sich auch ein Platz für Russland. 2001 haben die NATO und Russland den USA getrennt voneinander in Afghanistan geholfen. Russland hat das geleistet, was man von ihm erbat. Das hätte auch mehr sein können. Auch im Irak-Krieg haben sich die NATO-Staaten einzeln entschieden, wie sich dazu stellen. Russland hat seine Position ebenfalls klar gemacht.

Hat Russland die Absicht aufgegeben, selbst zu einem Integrationskern zu werden?

Russland ist ein Integrationskern. Dass Georgien oder die Ukraine sich nicht Russland anschließen wollen, ist heute kein Problem mehr. Kasachstan dagegen will das unbedingt, andere Staaten ebenfalls. Das ist kein Prozess, der sich gegen die EU richtet. Auch in Europa laufen verschiedene Integrationsprozesse nebeneinander her. So gibt es die EU und nach wie vor auch die EFTA. Gegenwärtig wird über das Verhältnis Russlands zur EU debattiert. Vielleicht spricht man einmal über das Verhältnis einer eurasischen Gemeinschaft zur EU. Russland geht an diese Fragen heute sehr pragmatisch heran.

Warum ist China eines der größten Probleme Russlands?

Das Hauptproblem in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten ist die Modernisierung des russischen Fernen Ostens. In Wladiwostok wird die Forderung laut, die Entwicklung von Singapur nachzuvollziehen. Man beschwert sich, dass Moskau nichts dafür tut. Man könnte die Bewohner Wladiwostoks fragen, ob sie wollen, dass zu der jetzt dort lebenden Million Russen zwei Millionen Chinesen kommen. Wenn der russische Ferne Osten industrialisiert werden soll, ist das ohne ausländische Arbeitskräfte nicht zu bewältigen. Die Gegend ist viel zu dünn besiedelt. Wenn dieser Prozess über zwanzig bis dreißig Jahre unter staatlicher Kontrolle abläuft, dann wäre das vorstellbar. Wenn er sich dagegen spontan vollzieht, könnte es zu schweren Spannungen kommen. Die chinesische Seite erklärt offiziell, sie fördere keinerlei Migration. Es bleibt aber die objektive Tatsache, dass die chinesischen Nordostprovinzen stark übervölkert sind und sich auf der russischen Seite riesige, kaum besiedelte Räume erstrecken.

In Russland haben Wissenschaftler und Geschäftsleute großes Interesse an China. In offiziellen Dokumenten findet man jedoch nur sehr wenig konkrete Aussagen. Das liegt daran, dass sich Russland unverändert stark auf die Beziehungen zum Westen konzentriert. Es ist mit den Bedingungen zwar unzufrieden, hat diese Priorität aber bisher nicht verändert.

(Notiert von Helmut Ettinger)