Publikation International / Transnational »Kämpfende Diplomatie«

Unter Shinzo Abe bricht Japan endgültig mit seiner Nachkriegsgeschichte. Text der Woche 22/2007 von Peter Linke.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Peter Linke,

Erschienen

Juni 2007

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Seit Shinzo Abe im September 2006 zum 46. Nachkriegspremier Japans ausgerufen wurde, ist das Land der aufgehenden Sonne auf seinem Wege zurück zu einem „normalen Staat“ ein gutes Stück vorangekommen: Nicht nur, dass im Dezember 2006 Japans Schulen per Gesetz verpflichtet wurden, zu bestimmten Anlässen unter wehender Staatsflagge die Nationalhymne absingen zu lassen. Vor wenigen Tagen ließ Abe das japanische Oberhaus ein sogenanntes Gesetz über Volksentscheide abnicken, das endgültig den Weg für eine Revision der japanischen Friedensverfassung von 1947 frei machen soll, in der das Land auf ewige Zeiten kriegerischen Mitteln zur Beilegung internationaler Konflikte abgeschworen hatte.

Vor allem jedoch hat Japans neuer Regierungschef bei der „Präsidentalisierung“ der Kernexekutive in einen höheren Gang geschaltet, baut an einem so genannten Nationalen Sicherheitsrat (Anzen hosho kaigi) beim Amt des Ministerpräsidenten (Kantei) als erstem Schritt hin zu stärker zentralisierter sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung.

Bereits im Dezember 2006 hatten Abe & Co. die offizielle Aufwertung der 1954 eingerichteten Verteidigungsbehörde (Boeicho) zum Verteidigungsministerium (Boeisho) durchgedrückt und damit deutlich gemacht, den Kernauftrag der so genannten Selbstverteidigungsstreitkräfte (Jieitai) von der Verteidigung des eigenen Staatsterritoriums auf weltweite friedenserhaltende Missionen sowie erweiterte logistische Hilfsdienste in regionalen Konfliktzonen ausdehnen zu wollen.

Die damit verbundene Erweiterung ministerialen Mitspracherechts in konzeptionellen und Budget-Fragen geht Hand in Hand mit dem Abbau ziviler Kontrollmechanismen, wie er sich insbesondere in Plänen widerspiegelt, die gegenwärtig acht dem Verteidigungsminister zugeordneten zivilen Verteidigungsräte mittelfristig durch uniformierte Jieitai-Offiziere zu ersetzen.

Letztlich bildet all dies das administrative Rückgrat für die von Abe proklamierte „kämpfende Diplomatie“ (tatakau gaiko), mit deren Hilfe er die von seinem Vorgänger Junichiro Koizumi eingeleitete Politik der Abkehr vom Nachkriegskurs Japans (sengo dakkyaku) fortzusetzen gedenkt.

Im Kern geht es dabei um den systematischen Ausbau der weltweiten Einsatzfähigkeit der Jieitai. Zur See geschieht dies bereits seit Jahren: Seit November 2001 halten sich Schiffe der Maritimen Selbstverteidigungsstreitkräfte Japans (Kaijojieitai) im Indischen Ozean auf, unterstützen als Treibstofflieferanten, Schiffskontrolleure und Flugabwehrdienstleister britische und US-Operationen in Afghanistan, sammeln auf diesem Wege praktische Erfahrungen hinsichtlich multinationaler Kampfeinsätze.

Mit seiner Teilnahme am US-geführten Antiterror-Krieg in Afghanistan hat Tokio seinen maritimen „Selbstverteidigungsraum“ klammheimlich auf 3000 Seemeilen erweitert. Sollte sich das Land an künftigen US-Militäroperationen gegen weitere „Schurkenstaaten“ wie den Iran beteiligen (was nicht länger ausgeschlossen werden kann), könnte sich dieser Raum um weitere 1000 Seemeilen bis in den Persischen Golf hinein ausdehnen...

Darüberhinaus haben Japans Militärplaner zum Zwecke verbesserter Präventivschlagfähigkeit inzwischen auch den erdnahen Raum fest ins Visier genommen.

Seit Februar 2007 verfügt Japan über ein weltweit operierendes, hochpräzises Allwetter-Satellitenaufklärungssystem, dessen Bestandteile – vier Satelliten „Made in Japan“, voll gestopft mit hochmoderner optischer und Lasertechnologie – an Bord japanischer H-2A-Raketen vom ebenfalls eigenen Weltraumbahnhof Tanegashima in den erdnahen Raum verbracht wurden.

Desweiteren schrauben japanische Techniker an einem sogenannten Quasi-Zenith-Satellitensystem, einer Konstellation aus drei Navigations- und mobilen S-Band-Kommunikationssatelliten, das ab 2008 GPS-Signale des US-Verteidigungsministeriums regional optimieren soll.

Ebenfalls in enger Kooperation mit Washington errichtet Tokio seit geraumer Zeit ein mehrschichtiges Raketenabwehrsystem, bestehend aus US-amerikanischen PAC-3-Boden-Luft-Raketen, deren erste Staffel vergangenen Monat und damit ein Jahr früher als ursprünglich geplant in der Präfektur Saitama bei Tokio stationiert wurde, sowie SM3-Abfangraketen, installiert auf mit Aegis-Radar bestückten japanischen und US-Kriegsschiffen.

Gleichzeitig brüten japanische und US-Spezialisten gemeinsam über einer neuen seegestützten Abfangrakete, einer stark verbesserten Variante der SM3, die als Rückgrat des künftigen US-Raketenabwehrsystems ab 2015 in Produktion gehen soll.

Schließlich und endlich wird unter Abe erneut die „nukleare Option“ diskutiert: Japan verfüge über die Fähigkeit, Atomwaffen zu bauen, verkündete Ende 2006 nicht nur Japans Außenminister Taro Aso, sondern auch Shoichi Nakagawa, einflussreicher Chefstratege der regierenden Liberal-Demokratischen Partei. Natürlich, so beide Politiker, habe man dies nicht vor. Gleichwohl sei daran erinnert, dass Japan über 43,8 Tonnen Plutonium verfügt, von denen 5,9 Tonnen im Land und 37,9 Tonnen in Großbritannien und Frankreich lagern. Geht man davon aus, dass für den Bau eines Nukleargeschosses rund 8 Kilogramm Plutonium nötig sind, so reichen Nippons Reserven für stattliche 5475 Geschosse...

Mag sein, dass sich in all dem auch der Wille Tokios nach größerer militärischer Selbstständigkeit widerspiegelt. Vor allem jedoch ist es Ausdruck für die grundlegende Überzeugung der nun endgültig an die Macht gekommenen ersten Nachkriegsgeneration japanischer Politiker, ihr Land könne nur in engstem Schulterschluss mit Washington die sicherheitspolitischen Herausforderungen das 21. Jahrhunderts meistern. Eine Überzeugung mit fatalen Konsequenzen.

Insbesondere Tokios Begeisterung für Washingtons Anti-Raketen-Phantastereien bewirkt bereits heute eine verstärkte Präsenz hochmodernen US-Kriegsgeräts in Japan: So werden mit der USS Shiloh and der USS McCampbell ab Sommer 2007 zwei von bisher drei grundlegend modernisierten Aegis-Zerstörern ihren Heimathafen im japanischen Yokosuka haben.

Vor allem jedoch dürfte Tokios Beteiligung an Washingtons Raketenabwehrprogramm perspektivisch zu einer nachhaltigen Unterordnung japanischer Streitkräftegruppierungen unter US-amerikanische Führungs- und Kommandostrukturen und damit erheblichen Souveränitätsverlusten führen. So ist absehbar, dass nach dem Umzug des japanischen Luftverteidigungskommandos auf den US-Luftwaffenstützpunkt Yokota im Westen Tokios und der dort für 2010 geplanten Schaffung eines „gemeinsamen japanisch-US-amerikanischen Raketenabwehrkommandozentrums“ über Japans Luftverteidigung eher in Washington denn Tokio entschieden werden wird...

Ähnlich fremdbestimmt könnte sich Japans künftige Industrie-Politik entwickeln: Die japanische Regierung, so der im Februar 2007 veröffentlichte 2. bilaterale Armitage-Bericht*, müsse dafür sorgen, dass sich Japans zivile Industriebasis stärker als bisher an der Entwicklung von Technologien, wie sie für die Sicherheit des Heimatlandes sowie die nationale Verteidigung notwendig sind, beteiligt. Desweiteren solle sie ermöglichen, dass Mittel ihres gewaltigen nationalen Wissenschafts- und Technologiebudgets in verteidigungspolitisch relevante Technologieforschungsprojekte umgeleitet werden...

Schon heute profitieren die USA erheblich von Japans technologischem Know-How: 2004 brach Tokio mit seinem bis dato gültigen totalen Rüstungsexportverbot, um Washington mit kritischer Raketenabwehr-Technologie versorgen zu können. Die wehrtechnische Kooperation dürfte sich in den kommenden Jahren erheblich vertiefen. Als diesbezüglich zentrales Projekt nennt der Armitage-Report die Entwicklung und den Bau des CG(X), des Nachfolgers des gelenkten Aegis-Raketenkreuzers der Ticonderoga-Klasse, der eine entscheidende Rolle sowohl bei der „Nationalen Raketenabwehr“ als auch bei der „erweiterten Luftverteidigung“ gegen „Bedrohungen der nächsten Generation“ spielen werde...

Wie sehr sich Japan bereits heute als globalpolitischer Juniorpartner der USA versteht, hat Shinzo Abe mehr als deutlich gemacht, als er Mitte Januar 2007 das Brüsseler NATO-Hauptquartier besuchte und nur wenige Wochen später in Tokio einen Sicherheitspakt mit Australien, Washingtons wichtigstem Verbündeten im südpazifischen Raum, unterzeichnete: Ganz im Geiste des Rigaer NATO-Gipfels vom November 2006 signalisierte Abe damit die Bereitschaft seines Landes, den Anspruch der USA auf Führerschaft einer global agierenden NATO durch Stärkung der „asiatisch-pazifischen“ Säule des westlichen Militärbündnisses nachhaltig zu unterstützen.

Die sich globalisierende „Sicherheitspartnerschaft“ Tokios und Washingtons wächst sich allmählich zu einem ernsten Sicherheitsproblem für den gesamten osteurasischen Raum aus. Der Schlüssel für die Lösung dieses Problems liegt in Peking. Bei aller berechtigten Kritik an der Art und Weise japanischer „Vergangenheitsüberwältigung“ („Yasukuni-Syndrom“) sollte das Reich der Mitte Japan künftig politisch-diplomatisch weniger reserviert begegnen, hat dies doch in den letzten Jahren erheblich dazu beigetragen, Tokio in Washingtons Arme zu treiben. Und es sollte enger mit Delhi kooperieren, könnte dies doch merklich zur Festigung des Dreiecks Peking-Delhi-Moskau beitragen und damit nicht zuletzt der Europäischen Union bei der Formulierung einer wirklich souveränen Fernost-Politik helfen.

* Richard L. Armitage, Joseph S. Nye, The U.S.-Japan Alliance: Getting Asia Right through 2020, CSIS Report, Washington, D.C., February 2007

Moskau im Mai 2007

Peter Linke ist Leiter des Auslandsbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau