Publikation Europa - Westeuropa - Europa links Die ungewisse Zukunft der «Parti socialiste»

Für die Sozialisten aus Frankreich steht viel auf dem Spiel.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Daniel Cirera,

Erschienen

März 2017

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Die französische Linke, allen voran die Parti socialiste (PS), sieht sich mit einer derart tiefgreifenden Krise konfrontiert, dass nahezu von ihrem klinischen Tod, zumindest jedoch von einer schweren Identitätskrise gesprochen werden kann, welche nach einer langen Phase der ideologischen Sprunghaftigkeit, Unschlüssigkeit und Unbeständigkeit sowie den zahlreichen Wahlniederlagen der jüngsten Vergangenheit frühere Erfolge überlagert.

Auf jede Wahl folgt Katerstimmung. Bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 gewinnt die Rechte sieben der dreizehn neu gebildeten Regionen. Die PS verliert ihre Mandate in der Region Auvergne‑Rhône‑Alpes sowie der Hauptstadtregion Ile‑de‑France und verzichtet im Norden und im Südosten zugunsten der Rechten auf ihre Kandidatur, um einen Wahlsieg des Front National abzuwenden. Nach ihrer Niederlage bei den Kommunal- und Departementswahlen stellt dieses Ergebnis einen weiteren herben Rückschlag dar, der berechtigterweise als Abstrafung durch die WählerInnen gedeutet wird, wozu jedoch auch die Zersplitterung der Linken ihren Teil beigetragen hat. In Anbetracht des historischen Tiefstandes der Umfragewerte ihres Präsidenten und des Aufbegehrens einer radikalisierten bürgerlichen Rechten, die in den Gewässern der auf der Beliebtheitsskala ganz oben rangierenden Front National fischt, dürften die PS und die Linken nicht allzu optimistisch auf die nächsten Wahlen blicken.

Vor dem Hintergrund der seit Dezember anhaltenden Turbulenzen auf dem politischen Parkett gestaltet sich eine belastbare Analyse der Gegebenheiten, unter denen sich die PS, die französische Sozialdemokratie und die Linke den anstehenden Wahlen und ihren bislang unabsehbaren Folgen stellen, äußerst komplex. Mehrere unerwartete Wendungen haben selbst die vermeintlich verlässlichsten Wahlprognosen entkräftet und das politische Schlachtfeld gänzlich umgewälzt. Zunächst sei hier François Hollandes Entscheidung gegen eine erneute Präsidentschaftskandidatur genannt. Die überraschten, teils bestürzten Reaktionen erschüttern die ohnehin instabile Situation umso mehr, als diese Entscheidung in der Geschichte der Fünften Republik ihresgleichen sucht. Mit diesem Schritt zieht der sozialistische Präsident die Konsequenzen aus seiner wachsenden Unbeliebtheit, die seine Wiederwahl undenkbar und den Wahlsieg der Rechten und Rechtsextremen unausweichlich erschienen lassen. Ein weiteres Schlüsselmoment liegt in der Ernennung Benoît Hamons zum Präsidentschaftskandidaten in der Vorwahl im Januar, in der er sich klar gegen Manuel Valls durchsetzen kann. Dieses Ergebnis spiegelt die Missbilligung der WählerInnen gegenüber der Regierungspolitik und ihre Nachfrage nach einer starken Linken wieder. Zudem treibt die Entscheidung zugunsten einer Person, die sich aus Protest gegen Hollandes Reformkurs von der Regierung abgewandt hatte, jene vielen durchaus einflussreichen Abgeordneten in die Enge, welche die Weiterführung der bisherigen regierungspolitischen Linie befürworten. Diese Entwicklung bringt nur wenige Wochen vor der entscheidenden Wahl das dramatische Ausmaß der Parteispaltung auf die Bühne der Öffentlichkeit; einer Spaltung, welche die Entscheidungsfähigkeit bezüglich der Zukunft der Partei, ihrer ideologischen und strukturellen Ausrichtung, zunehmend erschwert.
 

Umstrittene wirtschaftspolitische Leitlinien

Wie konnte das nur passieren? Diese Kernfrage steht bereits vor den Turbulenzen der letzten Monate im Zentrum der parteiinternen Debatten: War das politische Programm zu weit links oder zu weit rechts ausgerichtet? Waren wirtschaftspolitische Maßnahmen oder mangelnde Sinnvermittlung der Reformen die Ursache? Oder liegt die Ursache vielmehr in der Tatsache begründet, dass die französische Gesellschaft tatsächlich blockiert ist?

Die Debatte über die Ausrichtung der wirtschaftspolitischen Prioritäten und Leitlinien dreht sich um die ideologisch behaftete Frage, ob denn bei dieser Politik noch von linker Politik gesprochen werden könne. Je länger die versprochene Senkung der Arbeitslosigkeit auf sich warten lässt und je drängender die einseitigen Forderungen der Arbeitgeberverbände werden, desto vehementer wird diese Debatte geführt. Im Laufe der Legislaturperiode nimmt der sozialdemokratische Anspruch zunehmend linksliberalistische Formen an. Diese werden mit der Ernennung Manuel Valls zum Premierminister am Tag nach den desaströsen Kommunalwahlen 2014 sowie jener Emmanuel Macrons zum Wirtschaftsminister im darauffolgenden Sommer bekräftigt. Allerdings muss festgehalten werden, dass die Verunsicherung und das Unverständnis der WählerInnen bezüglich François Hollandes und Manuel Valls‘ Politik nicht allein durch sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen verursacht wurden. Die geplante Aberkennung der französischen Staatsangehörigkeit für Personen, die in Zusammenhang mit terroristischen Handlungen stehen, stößt auf massive Ablehnung. Dieses Gesetzesprojekt verstößt zutiefst gegen linke Grundprinzipien. Insbesondere die Mitglieder der PS und ihre WählerInnen betrachten diese Maßnahme als rechtlich und symbolisch höchst problematisch.
 

Alte Fragen in neuen Zeiten

Die parteiintern diskutierten Fragen sind keine Neuheit, auch nicht in dieser Schärfe. Zudem sind sie nicht ausschließlich der französischen PS eigen, wie die Debatten und Selbstzweifel der deutschen SPD und der Linken oder die Zerwürfnisse innerhalb der spanischen PSOE deutlich machen.[1]

Die Selbsthinterfragungen, welche die von der grassierenden Verdrossenheit ihrer Politik gegenüber ohnehin gebeutelte Partei erschüttern, scheinen kurz vor den entscheidenden Wahlen eine Katastrophe einzuläuten. Diese Selbstzweifel sind derart zermürbend, dass es anmutet, eine Ära ginge zu Ende. Dabei steht nichts Geringeres auf dem Spiel als ihr Status der treibenden linken Kraft, des wichtigen Gegengewichts innerhalb der Regierung, der Kraft des Wandels, der starken Opposition, den sie seit den 1980er Jahren innehat. Laut einer Umfrage vom August 2014 erachten 76 % der FranzösInnen bzw. 64 % der WählerInnen der PS, dass die Partei «droht, [bis 2017] in mehrere Gruppierungen oder Strömungen zu zerbrechen», also in zwei politische Lager.[2] Diese Selbsthinterfragung versinnbildlicht die in langen Krisenjahren gewachsene Verzweiflung, welche sie ihrer Fähigkeit beraubt, zukunftsweisende Antworten auf die durch globale Erschütterungen und Krisen hervorgebrachten Herausforderungen zu bieten. Hierbei geht es um nichts Geringeres als ihre Fähigkeit, mit einem eigenen Gesellschaftsmodell und eigenen Ansätzen eine moderne, glaubwürdige und fortschrittliche Alternative zu einer angriffslustigen Rechten und bürgerlichen Rechten zu verkörpern.

Die Verunsicherung der PS bezüglich der Entwicklung neuer, sich nicht lediglich den herrschenden Strömungen unterwerfenden Ansätze, aber auch bezüglich der Ausübung der Staatsgewalt in einem Klima allgemeiner Politikverdrossenheit sowie der gravierenden Abstrafung durch die WählerInnen hat sich auf verschiedenen Ebenen geäußert. Hier seien insbesondere die zunehmenden internen Spannungen innerhalb der Regierung selbst genannt, also unter den Abgeordneten der PS.

Erinnern wir uns an:

  • Den Rücktritt der Minister Arnaud Montebourg und Benoît Hamon sowie der Ministerin Aurélie Philipetti im August 2014, gefolgt von Christiane Taubira im Januar 2016, aus Protest gegen die Maßnahmen der Regierung. Der Rücktritt Manuel Macrons 2015 hatte bekanntermaßen andere Gründe.
  • Die Unmutsbekundung zahlreicher Abgeordneter der PS, die gegen bestimmte Gesetzentwürfe der Regierung gestimmt oder sich ihrer Stimme enthalten haben, beispielsweise bei der Ratifizierung des Budgetpaktes, dem allgemeinen Tarifabkommen vom April 2013 oder der Rentenreform. Aufgrund des wachsenden innerparteilichen Widerstandes dieser Abgeordneten, der sogenannten Frondeure, griff die Regierung schließlich auf den Notparagraphen 49,3 der Verfassung zurück, um die umstrittene Arbeitsmarktreform ohne Parlamentsabstimmung zu verabschieden. Dieser institutionelle Gewaltstreich hat die Zerwürfnisse innerhalb der Partei verstärkt und wurde als autoritäre Methode kritisiert. Alte Differenzen eskalierten. Zwar gingen die Abgeordneten nicht so weit, die Regierung zu überstimmen und damit den Premierminister vor das politische Aus zu stellen, jedoch bekräftigten dieser Unmut und diese öffentliche Kritik aus dem Innersten des Parlamentes selbst heraus viel deutlicher als bei den üblichen Streitigkeiten zwischen einzelnen Strömungen oder Personen die tatsächlichen politischen und strategischen Divergenzen sowie die Besorgnis über die durch sozial‑ und wirtschaftspolitische Maßnahmen verprellten WählerInnen.

«Die Parti socialiste wollte aufgrund der Zersplitterung der französischen Linken eine grundlegende ideologische und politische Neuausrichtung umgehen», analysiert der Historiker Alain Bergounioux, Redaktionschef der La Revue Socialiste, bevor er fortfährt: «Doch heute sieht sie sich mit einer doppelten Zwangslage konfrontiert, der sie nicht länger ausweichen kann: Die sozialistische Partei muss sich sowohl als sozialistisch als auch als Partei neu definieren (…). Diese beiden Prozesse müssen Hand in Hand gehen und in einem Zeitraum erfolgen, in dem die Sozialisten Regierungsverantwortung tragen. Dies stellt zweifelsohne eine zusätzliche Schwierigkeit dar (…). Trotz allem ist es nun an der Zeit, sich diesen Aufgaben zu widmen, um eine schlimmere Krise abzuwenden».[3]

Benoît Hamons Vorwahlsieg gegenüber Manuel Valls sowie François Hollandes Verzicht auf eine erneute Kandidatur bringen Bewegung in diese Debatte. Die scheinbar endgültig festgefahrene Situation lockert sich und die Karten der Parteilandschaft werden neu gemischt. Konnte Jean‑Luc Mélenchon den linken Parteiflügel bislang für sich allein beanspruchen, so erhält er nun Konkurrenz von einem durchaus ernstzunehmenden Gegenkandidaten. Das unheilvolle Duo Hollande‑Valls kann abgewendet und neue Hoffnung auf eine Erfolg versprechende linke Antwort auf Marine Le Pen geschöpft werden. Diese Hoffnung wird zusätzlich vom Rücktritt des Kandidaten der Grünen zugunsten Hamons genährt. Gleichzeitig gerät François Fillon, der Kandidat der bürgerlichen Rechten, aufgrund der Affären rund um das sogenannte Penelopegate immer mehr in Verruf, was die Aussicht auf seinen bis dahin unausweichlich erscheinenden Wahlsieg zunehmend schmälert. Diese Entwicklung eröffnet auch neuen Spielraum für den sich jenseits des Links‑Rechts‑Spektrums verortenden ehemaligen Minister der Hollande‑Regierung Emmanuel Macron. Vor dem Hintergrund der Zerrissenheit der Linken sprechen ihm die Umfragen die größten Chancen auf einen breiten Zusammenschluss gegen die rechtsextreme Kandidatin im zweiten Wahlgang zu. In Anbetracht eines möglichen Wahlsieges Le Pens wird der Urnengang zahlreicher linker und sozialistischer WählerInnen letzten Endes von der Abwägung beeinflusst werden, wer die besten Chancen hat, die Gefahr von rechts abzuwenden. Damit es die Linke jedoch überhaupt in den zweiten Wahlgang schafft, wäre ein starkes Bündnis aller linken Kräfte erforderlich. Zahlreichen Aufrufen zum Trotz gilt ein Zusammenschluss zwischen Mélenchon und Hamon jedoch nach wie vor als unwahrscheinlich. Mangels eines derartigen Bündnisses werden sich die WählerInnen bei ihrem Gang an die Urne wohl oder übel an den Umfrageergebnissen orientieren müssen.

Dabei würde die Aussicht auf eine Stichwahl zwischen Macron und Le Pen durchaus den Anschluss jener sozialistischen Stimmen rechtfertigen, die sich im Grunde gegen den linken Kurs ihres Kandidaten aussprechen. Wurde die Spaltung der Partei in der Vergangenheit noch weitestgehend durch parlamentarische Kompromisse abgefedert, so kommt dieser Tage das ganze Ausmaß der Zerrissenheit ans Licht. Einige Mitglieder des Valls‑Lagers drohen gar öffentlich mit dem Entzug ihrer Unterstützung, sollte ihr Kandidat seinen Kurs nicht nach rechts anpassen. Zudem schwächen die direkten öffentlichen Anfeindungen zwischen Macron und Hamon das ohnehin brüchige linke Lager. Dabei erfährt Hamon zwar Unterstützung von Martine Aubry, der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo sowie der für die Linke emblematischen ehemaligen Justizministerin Christiane Taubira. Nichtsdestotrotz werden die Spannungen im linken Lager – gerade vor dem Hintergrund der drohenden Wahlniederlage – durch das Tauziehen zwischen dem Mitte‑Links‑Spektrum, welches die Regierungsbilanz rechtfertigt, und großen Teilen der Parteimitglieder sowie den enttäuschten WählerInnen, die große Erwartungen auf eine Erneuerung mitbringen, zusätzlich entfacht.
 

Eine Partei auf der Suche nach Orientierung

In einem Punkt scheint Einstimmigkeit zu herrschen: Die Parti socialiste in ihrer aktuellen Form wird den politischen Realitäten und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr gerecht. Bereits jetzt sind in einem mehr oder weniger öffentlich geführten Richtungsstreit neue Selbstdefinitionen, Gründungskonzepte und Auseinandersetzungen über zukünftige Positionierungen für die Zeit nach der Herausforderung der kommenden Präsidentschaftswahl zu verlauten.

Bevor näher auf die spezifische Debatte rund um die französische Parti socialiste eingegangen wird, kann zunächst festgehalten werden, dass sie sich in einer allgemeinen Krisephase der europäischen Sozialdemokratien verortet.[4] Diese strauchelt bei dem Versuch, ihrem politischen Diskurs und ihren programmatischen Vorschlägen die notwendige Tragfähigkeit zu verleihen, um die WählerInnen zu mobilisieren, der Rechten und der populistischen Welle die Stirn zu bieten und die eigenen Reihen zusammenzuhalten. Eine weitere, ebenso grundlegende Problematik liegt in der Schwierigkeit, die Menschen davon zu überzeugen, dass in der vielbeschworenen Triade aus Mäßigung, Kompromissen und Opferbereitschaft tatsächlich die Lösung für das soziale und demokratische Unbehagen läge, nehmen doch die gesellschaftlichen Spannungen und Ungleichheiten aufgrund der anhaltenden Krise weiterhin zu. Diese Schwierigkeit wird durch die politische und institutionelle Einbettung in einem europäischen Projekt verstärkt, in dem seit einiger Zeit aufgrund der Aneinanderreihung von Krisen (Finanzen, Geflüchtete, Brexit, Benchmarking im Personalwesen, Skandale um die Kommissionsmitglieder) eine tiefgreifende Verdrossenheit gegenüber der neoliberalen Politik grassiert.
 

Ist die PS noch links?

Ist die PS noch links? Diese polemische Frage taucht immer wieder auf, da sich große Teile der Linken vor dem Hintergrund der Unterwerfung unter neoliberale Dogmen, der Umsetzung einer rigiden Spar‑ bzw. Austeritätspolitik und einer verschärften Sicherheitspolitik nach den Attentaten sowie der Beteiligung an mehreren Militäreinsätzen in Afrika und im Nahen Osten von der Politik der Partei verleumdet fühlen. Auch unter der Regierung Jospin zu Beginn der 2000er Jahre waren in Anbetracht der damaligen Privatisierungen und der Umsetzung europäischer Liberalisierungsrichtlinien ähnliche Stimmen zu hören. Heute werden diese Stimmen vom Diskurs über die Überwindung des klassischen Links‑Rechts‑Spektrums genährt, der ebenfalls aufseiten der Linken geführt wird.
 

Im Namen des Realismus

Im Rahmen eines ausführlichen Interviews für die Zeitschrift Le Débat hat François Hollande seine Standpunkte und Vorstellungen dargelegt: «Die regierende Linke ist suspekt, sobald sie Verantwortung trägt, und ihr Schicksal ist es, für immer des Verrats angeklagt zu werden», erklärte er unter Bezugnahme auf Léon Blum und François Mitterrand. «In der Opposition wird sie bejubelt, nicht allein, weil sie ihre Reformen idealisiert, wobei sie allerdings ganz zu vergessen scheint, wie schwierig es war, von deren Sinnhaftigkeit zu überzeugen, als sie noch Regierungsverantwortung trug.»[5] In diesen Worten liegt durchaus ein wahrer Kern. Die Gleichsetzung der historischen sozialen Errungenschaften des Front Populaire, der Reformen der frühen 1980er Jahre und der 35‑Stunden‑Woche unter der Regierung Jospin mit der jüngsten Arbeitsmarktreform oder der Anhebung des Renteneintrittsalters verdient jedoch zumindest eine kritische Diskussion. Zudem impliziert diese Auffassung fälschlicherweise, dass es keine anders geformte Politik aus der Regierungsverantwortung heraus geben könne.
 

Welchen Sozialismus für die PS?

Wie steht es also um den Sozialismusbezug der Partei? Hier fallen die Antworten je nach Parteiflügel und Person unterschiedlich aus. François Hollande vertritt eine flexible, in gewisser Weise entideologisierte Ansicht, die eine referentielle Prägnanz sowie die ideologische Erschöpfung berücksichtigt. Für ihn handelt es sich um ein Konzept, «welches nicht an Aktualität verliert. Die Frage ist jedoch, wie dieser Begriff gefüllt wird.» Zuvor betont er, dass «es sich um ein Erbe handelt, welches tief in unsere Geschichte hineinreicht, und eher um ein Konzept als um eine Organisation. Ich bin Sozialist, aber deswegen bin ich nicht für die Sozialisierung der Produktionsverhältnisse. Das war ich auch nie. (…) Doch dieses Konzept verortet den Kampf gegen soziale Ungleichheiten auf globaler Ebene. Es ist in jenen Parteien verankert, die sich als Teil dieser Bewegung verstehen und zur Gewährleistung dauerhaften Fortschritts Reformen akzeptieren.»[6] Dieser Ansatz beinhaltet die Kernelemente der Sozialdemokratie als Gegenpol zum radikal antikapitalistischen politischen (sowjetischen, stalinistischen oder anderem) Kommunismus und den Willen zum Systemwechsel. Bei einer expliziten Abkehr vom Sozialismusbezug bestünde die Gefahr der Parteispaltung, des Rechtsrutsches und der Lossagung breiter Teile der WählerInnen.[7] Sie würde jenen Kräften des linken Parteiflügels zuspielen, welche sich vor dem Hintergrund des linksliberalen Verrats den wahren Sozialismus auf die Fahnen schreiben, wie beispielsweise Jean‑Luc Mélenchon in Frankreich, Oscar Lafontaine in Deutschland oder Pablo Iglesias in Spanien, der das sozialdemokratische Erbe von Podemos für sich beansprucht.

Für Alain Bergounioux sieht sich die Partei vor dem Hintergrund der ideologischen und sozialen Radikalisierung der konservativen Rechten mit der Herausforderung konfrontiert, die Gunst der WählerInnen wiederzugewinnen. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Rückeroberung vernachlässigter Gebiete, die der Linken 1981 zum Wahlsieg verholfen hatten. Hinsichtlich der Organisation selbst stellt sich für ihn die folgende Frage: «Muss denn heute dem Begriff der Partei tatsächlich noch das Wort Sozialismus angehängt werden? In anderen Ländern werden andere Begriffe bevorzugt; dort wird von Arbeit gesprochen, von Fortschritt, Demokratie oder schlicht von der Linken. Der Frage nach dem richtigen Namen kommt heute vielleicht weniger Bedeutung zu als noch in der Vergangenheit. Was viel wichtiger ist, ist die eigentliche Beschaffenheit des politischen Werkzeugs. Wird es der gesellschaftlichen Realität tatsächlich gerecht?»[8]
 

Eine neue Organisation?

Unabhängig der konkret zu ergreifenden strategischen Maßnahmen drehen sich die Reflexionen über die Zukunft der Partei in erster Linie um die Verdrossenheit gegenüber den traditionellen, zu stark hierarchisierten Parteien und Organisationsformen, dem Erfolg populistischer Diskurse, dem Ruf nach neuen Praktiken, der Forderung nach mehr Horizontalität und der Bedeutung sozialer Netzwerke.

Wiederholt wurde das Konzept einer großen, sich im weitesten Sinne im Mitte‑Links‑Spektrum verortenden Demokratischen Partei nach italienischem Vorbild eingebracht, die den marginalisierten Kräften links der Linken den historischen, radikalen Bezug überlässt. Eine mehrheitsfähige Metamorphose dieses Umfangs ist jedoch aus zahlreichen Gründen, die hier nicht erschöpfend abgehandelt werden können, in naher Zukunft nicht vorstellbar. Nach den Wahlen 2017 jedoch sollte ein derartiger Neustrukturierungsprozess einer aus breiten Teilen der Linken und des Mitte‑Links‑Spektrums bestehenden Organisation ergebnisoffen diskutiert werden.

Die konkretesten diesbezüglichen Ergebnisse liefert Emmanuel Macron, der noch vor der Vorwahl und unabhängig eines eventuellen Antritts François Hollandes im November seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gibt. In nur wenigen Monaten baut er mit kräftiger Unterstützung seiner AnhängerInnen sein politisches Projekt auf, die Bewegung En Marche. Diese fußt auf einer Kombination aus individuellem Engagement der Bevölkerung und der Koppelung sozialer Netzwerke, der Positionierung jenseits des Sozialismus sowie parteipolitischer Unabhängigkeit. Sie lehnt das klassische Links‑Rechts‑Spektrum als überholt ab und zieht die Achse vielmehr zwischen den Polen Progressisten/Konservative. So öffnet sie explizit ihre Pforten für WählerInnen aus der Mitte und dem Mitte‑Rechts‑Spektrum.

Für François Hollande und die Mehrheit der sozialistischen Verantwortlichen bleibt das Links‑Rechts‑Schema nach wie vor relevant und von grundlegender Bedeutung für die Demokratie. Dieser Standpunkt widerspricht auch nicht einer Annäherung an konservative oder gar rechte politische Persönlichkeiten oder dem Aufgreifen traditionell rechter Themen, wie der unglückliche Versuch der Aberkennung der Staatsangehörigkeit beweist. Selbst Segolène Royal und Manuel Valls mit ihren mitunter etwas differenzierteren Sichtweisen nehmen die sicherheitspolitischen Positionen der Konservativen ein. Doch im Kontext der anstehenden Wahlen, einer radikalisierten, enthemmten bürgerlichen Rechten und einer rechtsextremen Partei an den Pforten zur Macht ist die polarisierende Debatte über die Rückkehr von der Rechten ein strategisches Ziel der Sozialisten.

Zugunsten des Stimmenzuwachses im Vorfeld der kommenden Präsidentschaftswahlen hat Jean‑Christophe Cambadélis den Vorschlag einer linken Volksallianz eingebracht, eines sich explizit jenseits der Parti socialiste verortenden Zusammenschlusses, der sich an die BürgerInnen, ihre Vereinigungen sowie Gewerkschaftsmitglieder richtet. Er sieht in der Allianz das Fundament für die Vorwahl und den Ausgangspunkt für die zukünftige Organisationsform. Doch in Anbetracht des mangelnden Anklangs bei den WählerInnen wurde seine Allianz zu einer Totgeburt.

Manuel Valls geht einen Schritt weiter und wagt den Tabubruch. Er schreibt: «Wir müssen alles hinterfragen, ja, meiner Meinung nach sogar den Parteinamen. Parti socialiste, das ist vollkommen veraltet. Heutzutage bedeutet das nichts mehr. Der Sozialismus war ein wunderbares Konzept, eine hübsche Utopie. Aber diese Utopie wurde als Gegengewicht zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts entworfen. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, der virtuellen Wirtschaft und der Umweltkrise, bedeutet sie nichts mehr. Es gibt kein gelobtes ideologisches Land, das müssen wir akzeptieren.»[9] In seinen Schriften thematisiert er die beiden unversöhnlichen Linken, die reformistische und die radikale, wobei Letztere der Protestkultur sowie überholten Konzepten verhaftet bliebe. In jüngeren Ausführungen, insbesondere seit der Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur im Falle eines Ausscheidens François Hollandes, hat Manuel Valls Realismus bewiesen und klassischere Standpunkte über die Parti socialiste und die Linke verlauten lassen. Von seinen gemäßigt reformistischen Überzeugungen ist er jedoch nicht gänzlich abgerückt, was seine anhaltende Forderung einer grundlegenden Erneuerung der Parti socialiste zugunsten einer neugegründeten sozialdemokratischen Partei beweist.

Der Vorschlag des linken Flügels stammt vom Kopf der kritischen ParlamentarierInnen, Christian Paul, der die «dringende Notwendigkeit einer neuen Partei und vor allem einer Partei eines neuen Formats» sieht. Er wirbt darum, «einen Schlussstrich unter die PS in ihrem aktuellen Format» zu ziehen und gemeinsam mit der kommunistischen PCF und der grünen EELV nach 2017 und unabhängig der Wahlergebnisse eine neue Partei zu gründen.[10]

In dieser Hinsicht stellt die Ernennung Benoît Hamons zum Präsidentschaftskandidaten einen Kurswechsel dar.[11] Seine Kandidatur erhebt ihn auch für die Zeit nach der Wahl, wenn auf unebenem und vermintem Terrain die Aufräumarbeiten beginnen, zu einem unumgänglichen Akteur. Doch auch Macrons Abschneiden wird von entscheidender Bedeutung sein, da er die Masse der WählerInnen, welche sich nach neuartigen politischen Lösungsansätzen und Mustern sehnen und den traditionellen Parteien abgeschworen haben, potenziell anzuziehen vermag.

Die PS der 1960er Jahre, die als Linksallianz beim Kongress von Epinay 1971 von Mitterand gegründet wurde, hat seine beste Zeit hinter sich. Diese Tatsache mag das Ende einer Epoche besiegeln, nicht jedoch das Ende der Sozialdemokratie.

Mit Blick auf eine durch Emmanuel Macron verkörperte, gemäßigt sozialdemokratische Kraft lässt sich bereits erahnen, dass ihr radikaler Gegenpol eine mit der spanischen Podemos vergleichbare Form annehmen wird, die aus den vielbeschworenen Trümmern der Partie socialiste entsteht. Dies ist das erklärte Ziel von Jean‑Luc Mélenchon und seiner Bewegung der Insoumis, welche die konzeptuelle und strategische Nähe zur spanischen Schwester für sich beansprucht, also einen das Links‑Rechts‑Schema überwindenden, auf der Achse Volk/Kaste aufbauenden Linkspopulismus, der in Konkurrenz zur Parti communiste den Verrat des wahren Sozialismus durch die PS anprangert.

Trotz der jüngsten Prognosen wäre es gewagt, nun darauf zu setzen, dass die PS sang‑ und klanglos vom politischen Parkett verschwindet. Tatsächlich verweist Benoît Hamons Ernennung auf die Nachfrage nach einer starken Linken, die keinen anderen Kräften in die Hände spielen darf. In dieser Hinsicht ist auch der besorgte Aufruf des Leitartiklers der linken Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur an jene WählerInnen bezeichnend, welche sich von der PS abzuwenden und eher mit Emmanuel Macron zu liebäugeln scheinen: «Gut, aber deswegen muss man ja nicht gleich das Hauptquartier bombardieren. Jene, die unsere Geschichte vergessen zu haben scheinen, seien daran erinnert, dass irgendjemand ja auch in der guten alten Stube die Stellung halten muss, während sich andere ins Abenteuer stürzen.»[12] Dieses altbekannte Muster ist auch in den aktuellen Rivalitäten durchaus erkennbar. Hat aber die heutige Entwicklung nun lediglich eine Grundsanierung der guten alten Stube zum Ziel oder nicht vielmehr einen kompletten, alle linken Kräfte umfassenden Neubau in Form einer breiten, offenen Demokratischen Partei? Diese Frage ist zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer zu beantworten.

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Bei der Analyse der Spannungen und Brüche der Parti socialiste jenseits individueller Streitigkeiten und Machtkämpfe werden im Grunde Debatten sichtbar, die den französischen Sozialismus bereits seit seiner Geburtsstunde begleiten. Die Besonderheit der aktuellen Konflikte liegt in der Zuspitzung der Widersprüchlichkeiten und der unabwendbaren Spaltung. Alles spricht für das Ende einer langen Phase sowie die Erschöpfung politischer Formate. Die Widersprüchlichkeiten nehmen das Ausmaß einer für aktuelle Generationen noch nie dagewesenen politischen Krise an. Vor dem Hintergrund der politischen Maßnahmen und Unsicherheiten dieser krisenbehafteten Zeiten werden die Karten neu gemischt, insbesondere in Europa. Dabei ringen alle Parteien gleichermaßen um Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Die seit mindestens zwei Jahrzehnten unaufhaltsam grassierende Politikverdrossenheit gegenüber der Linken, einschließlich jener Kräfte aus dem kommunistischen und linksäußeren Spektrum, sowie die unbezwingliche Forderung nach neuen Entwicklungen, Konzepten, Persönlichkeiten und Praktiken beuteln die Parti socialiste. Diese politische Erschöpfung muss jedoch ebenfalls in Verbindung mit dem Scheitern der sozialdemokratischen Steuerung des Kapitalismus in seinen heutigen Formen und der historischen kommunistischen Erfahrung der Überwindung des europäischen Kapitalismus betrachtet werden.

Die politischen und kulturellen Grundwerte linker Identität, vom Fortschritt und der Gleichheit bis hin zur individuellen und kollektiven menschlichen Emanzipation, stoßen sich in diesen Zeiten an der Diskrepanz zwischen den vorgeschlagenen politischen Antworten und der gelebten politischen Realität. Dieser Bruch erschüttert die Sozialdemokratie dermaßen, dass ihr kein Handlungsspielraum mehr bleibt und sie kaum noch in der Lage ist, einen neuartigen Kompromiss entlang der Achse Kapital/Arbeit zu definieren, der eine Perspektive des Fortschritts und der Emanzipation eröffnen würde. Die Wahl Donald Trumps in den USA wie auch das Erstarken rechtsextremer Kräfte und populistischer Diskurse gegen die Eliten in Europa ebnen den Weg für gefährliche reaktionäre, regressive Antworten. Die keineswegs neuartige Spaltung der sich auf das sozialistische Erbe des 20. Jahrhunderts berufenden Kräfte sowie ihre innere Zerrissenheit und Desorientiertheit kommen erschwerend hinzu. Auch die PS sieht sich mit dieser Problematik konfrontiert. Dabei steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die zentrale Rolle bzw. der hegemoniale Einfluss der französischen Sozialdemokratie. Ihre zukünftige Architektur – oder ihre zukünftigen Architekturen – verorten sich zweifelsfrei in einem neuartigen politischen Format. Dabei werden bündnispolitische Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen. Dieser Neubau wird für das gesamte linke Spektrum von entscheidender Bedeutung sein, auch auf europäischer Ebene. Schließlich sehen sich in einem derartigen Umstrukturierungsvorhaben alle Kräfte, die sich – mit oder ohne Bezug auf den Kommunismus oder die Überwindung des Kapitalismus – auf den gesellschaftlichen Wandel berufen, zwangsläufig mit der Frage nach den konkreten strategischen und strukturellen Bedingungen des Transformationsprozesses konfrontiert. Die Neugestaltung Frankreichs politischer Landschaft wird auf der Linken wie auf der Rechten einem Erdbeben gleichen. Dabei macht gerade die Unvorhersehbarkeit des aktuellen Wahlkampfes die vorhersehbaren Bruchstellen und tektonischen Bewegungen dieses Bebens sichtbar.


Daniel Cirera, 9.3.2017

Daniel Cirera ist Experte für internationale und europäische Politik. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen bei der Fondation Gabriel Péri zählen insbesondere Social‑Démocratie: échec et fin de cycle (2009) und Allemagne‑France: de la réconciliation au partenariat inégal (2015).

Aus dem Französischen von Jo Schmitz und Martina Körner

lingua•trans•fair


[1] Cirera, Daniel: Social-Démocratie. Echec et fin de cycle, Pantin 2009.

[2] Umfrage des Ifop/JDD vom 29. August 2014.

[3] Bergounioux, Alain: Les défis du socialisme français, in: La Revue Socialiste. Situations du socialisme européen 60, 2015, freie Übersetzung.

[4] Von den unzähligen Publikationen soll hier insbesondere auf das Dossier Situations du socialisme européen der La Revue Socialiste (Nr. 60, November 2015) hingewiesen werden.

[5] Hollande, François: Une France fraternelle (Interview), in: Le Débat 191, 2016, freie Übersetzung.

[6] Ibid.

[7] «Eine Namensänderung der Partei würde sie von ihrer Geschichte trennen und erheblich schwächen.» Vgl.: Rocard, Michel: Changer le nom du PS, c’est le couper de son histoire et le fragiliser, in: Le Monde, 3.12.2014, freie Übersetzung.

[8] Bergounioux, Alain: Les défis du socialisme français, in: La Revue Socialiste. Situations du socialisme européen 60, 2015, freie Übersetzung.

[9] Valls, Manuel: Pour en finir avec le vieux socialisme et devenir enfin de gauche, Paris 2008, freie Übersetzung.

[10] Paul, Christian: Les Iles et l’Archipel. Pourquoi la gauche (re)vivra, Paris 2016, freie Übersetzung.

[11] Benoît Hamon geht zwar in seinem 2011 veröffentlichtem Buch nicht direkt auf die Zukunft der PS ein, diskutiert jedoch ausführlich eine «neue linke Allianz« zwischen bestehenden politischen Kräften, «die durch die Wahl legitimiert werden», und sozialen AkteurInnen, «die durch die Sozialdemokratie selbst und ihre [politischen, a. d. Ü.] Kämpfe legitimiert werden». Vgl.: Hamon, Benoît: Tourner la page. Reprenons la marche du progrès social, Paris 2011, freie Übersetzung.

[12] Anspielung auf das berühmte Zitat Léon Blums auf dem Kongress von Tours (1920), auf der die kommunistische Partei gegründet wurde, freie Übersetzung.