Staatspräsident Erdoğan scheint am Ziel angekommen zu sein. Mit 51,37 Prozent der gültigen Stimmen konnte er das Verfassungsreferendum am 16. April 2017 für sich entscheiden. Die Opposition unterlag mit 48,63 Prozent. Das sind vorläufige Zahlen, die von der Hohen Wahlkommission (YSK) genannt werden.
Das knappe Ergebnis wird sehr umstritten bleiben und in den nächsten Tagen uns weiter beschäftigen. Festzuhalten ist: Sowohl die Wahlbedingungen als auch das Ergebnis des Referendums sind nicht demokratisch legitimiert.[1] Noch während der laufenden Wahl hat die YSK auf Antrag eines AKP-Mitglieds einen Akt der Rechtsbeugung vorgenommen, indem sie Stimmzettel, die in ungestempelten Umschlägen vorlagen, zur Auszählung freigegeben hat. Das geltende Wahlgesetz schreibt vor, dass Stimmzettel nur in von Wahlvorständen der jeweiligen Wahllokale abgestempelten Umschlägen abgegeben werden dürfen. Damit soll sichergestellt werden, dass keine anderen als an den Wahlurnen ausgegebene Wahlunterlagen benutzt werden können. Wenn man bedenkt, dass zwischen den »Ja«- und »Nein«-Stimmen nur ein Unterschied von rund 1,3 Millionen Stimmen besteht und – nach Angaben von Oppositionsparteien und Wahlbeobachtern – 2,5 Millionen Stimmen (rund 5 Prozent aller Stimmen) in ungestempelten Wahlumschlägen als »gültig« anerkannt wurden, sind Aussagen über mögliche Wahlfälschungen sehr ernst zu nehmen. Bei dem sehr knappen Ergebnis könnten diese Stimmen ausschlaggebend gewesen sein.
Es ist nachträglich wohl nicht mehr feststellbar, wie viele solche Stimmzettel für gültig befunden wurden, da die vorgeschriebene Prozedur – eine Aussortierung ungestempelter Unterlagen – nicht eingehalten wurde und eine nachträgliche Stempelung stattgefunden haben könnte. Insofern ist von einer Neuauszählung keine Aufklärung zu erwarten. Eine Wiederholung der Wahl ist geboten. Vertreter der CHP und HDP haben zwar erklärt, dass sie das Ergebnis anfechten werden. Dass sie damit Erfolg haben werden, ist zweifelhaft, da der Einspruch bei der Behörde eingelegt wird, von der der Bruch des Wahlgesetzes ausgeht.
Zahlen und Fakten
Die Wahlbeteiligung von 84,7 Prozent ist hoch. Von rund 58,4 Millionen Wahlberechtigten haben rund 49,4 Millionen ihre Stimme abgegeben. Mit »Ja« haben 25.157.025 Personen (51,4 Prozent) und mit »Nein« haben 23.777.091 (48,6 Prozent) abgestimmt. Mit einer Mehrheit von rund 1,3 Millionen Stimmen (2,6 Prozent der abgegebenen Stimmen) wurde die Verfassungsänderung angenommen.
Wie sind diese Zahlen zu interpretieren? Es ist zu konstatieren, dass das Erdoğan-Lager trotz Ausnahmezustand und massiver Behinderung der Opposition an Zustimmung verloren hat. So betrug der Stimmenanteil der AKP und der MHP bei den Parlamentswahlen am 1. November 2015 zusammen 61,4 Prozent, während die CHP und die HDP 36,1 Prozent holen konnten. Obwohl die AKP neben der neofaschistischen MHP auch von der ultra-nationalistischen BBP und der islamistisch-kurdisch-nationalistischen HÜDA-PAR unterstützt wurde, sowie den gesamten Staatsapparat zu ihren Gunsten eingesetzt hat, ist es nicht gelungen, die Wähler*innen aus den vergangenen Wahlen zu mobilisieren.
Erstmals hat das Regierungslager in den Ballungsräumen Istanbul und Ankara ihre Mehrheit verloren. In den kurdischen Gebieten, insbesondere in den Städten, die in den letzten Monaten durch militärische Gewalt zerstört wurden, zeigt der hohe Anteil der »Nein«-Stimmen, dass die kurdischen Wähler*innen der Autokratie eine klare Absage erteilt haben. Demgegenüber hat die mittelanatolische Bevölkerung deutlich mit »Ja« gestimmt. Es existiert ein harter sunnitisch-konservativer Kern in der Mitte des Landes, der sich zu den Rändern hin auflöst. Womit der Schwund an Stimmen für das Regierungslager in den Metropolen zusammenhängt, kann so kurz nach der Wahl nicht beantwortet werden. Feststellungen, wonach die Spaltungslinien zwischen gebildeten und bildungsfernen Bürger*innen sowie zwischen Industrie- und Dienstleistungsstandorten und ländlichen Gebieten verlaufen, müssen spekulativ bleiben. Jedenfalls wurde in 17 von 30 Großstädten mehrheitlich mit »Nein« gestimmt. Hier einige Beispiele:
Stadt | »Ja«-Stimmen | »Nein«-Stimmen |
---|---|---|
İstanbul | (48,6 %) 4.479.337 | (51,4 %) 4.728.277 |
Ankara | (48,8 %) 1.668.565 | (51,2 %) 1.747.132 |
İzmir | (31,2 %) 870.658 | (68,8 %) 1.919.745 |
Antalya | (40,9 %) 574.421 | (59,1 %) 829.415 |
Adana | (41,8 %) 535.714 | (58,2 %) 745.494 |
Mersin | (36 %) 387.611 | (64 %) 689.748 |
Diyarbakır | (32,4 %) 251.733 | (67,6 %) 525.089 |
Tekirdağ | (38,9 %) 242.247 | (61,1 %) 380.348 |
Das Wahlverhalten von kurdischen Wähler*innen sowie der im Ausland lebenden Staatsbürger*innen sorgt unmittelbar nach der Wahl für Diskussionen. Haben sie den Ausschlag für das (anfechtbare) Ja gegeben? Voreilige Schlüsse sollten vermieden werden. Erstens sind von den insgesamt 2.957.870 Wahlberechtigten im Ausland nur 1.406.573 gültige Stimmen abgegeben worden. Das entspricht rund 2,8 Prozent der gesamten abgegebenen Stimmen. 831.208 haben mit »Ja« abgestimmt, was rund 3,3 Prozent der gesamten »Ja«-Stimmen entspricht und 575.365 haben mit »Nein« abgestimmt, was rund 2,4 Prozent der gesamten »Nein«-Stimmen ausmacht. Der Anteil der Ja-Stimmen ist zwar höher als im Inland, jedoch nicht so hoch, dass hieraus ein entscheidender Einfluss abgeleitet werden kann. Zweitens ist festzuhalten, dass die Stimmen aus den teils oder mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten insgesamt knapp 13 Prozent der gesamten abgegebenen Stimmen ausmachen. Die »Ja«-Stimmen aus diesen Gebieten machen insgesamt 14 Prozent der gesamten »Ja«-Stimmen aus. Die »Nein«-Stimmen entsprechen 12 Prozent der gesamten »Nein«-Stimmen. Trotz Zerstörungen, Ausgangssperren und Kolonialpraktiken hat die HDP ihre Hochburgen weitgehend verteidigen können. Leichte Stimmenverschiebungen sind zwar erklärungsbedürftig, aber nicht ausschlaggebend. Zudem soll die Mehrzahl der für gültig erklärten ungestempelten Wahlumschläge aus den kurdischen Gebieten stammen.[2]
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die YSK, indem sie eine unbekannte Anzahl an nach dem Gesetz ungültigen Stimmen kurzerhand für gültig erklärt hat, nicht nur die Legitimität der Wahlen unterhöhlt hat. Sie hat bei dem sehr knappen Ergebnis es auch verunmöglicht, das Wahlverhalten einzelner Gruppen in ein aussagekräftiges Verhältnis zum Endergebnis zu setzen.
Pyrrhussieg? – Gewählt ist gewählt
Aufgrund der Tatsache, dass die Hälfte der Bevölkerung das Präsidialsystem abgelehnt hat und Erdoğan keine klare Zustimmung erhalten konnte, sprechen einige Kommentatoren von einem »Pyrrhussieg« Erdoğans. Es ist schon zutreffend, dass ein solch knappes Ergebnis es schwieriger für Erdoğan machen wird, die Koalitionen im Staatsapparat aufrechtzuerhalten.
Doch das bedeutet nicht, dass Erdoğan und die AKP nicht in der Lage sein werden, auch diese Situation zu überstehen. Erdoğan hat längst den Sieg verkündet und ein neues Referendum über die Einführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. Er wird weiter polarisieren und alle Möglichkeiten für die Sicherung der Machtverhältnisse nutzen.
Die Regierung hat bereits den Ausnahmezustand verlängert. Die Erfahrungen aus den 15 Regierungsjahren der AKP zeigen, dass die Partei sehr flexibel agieren und auf Rückschläge mit Strategieänderungen reagieren kann. So war sie in der Lage, den gescheiterten Putschversuch für die Konsolidierung ihrer Macht auszunutzen und die Absicherungserwartungen ihrer nationalistischen Koalitionspartner in der Staatsbürokratie zugunsten des Präsidialsystems zu instrumentalisieren.
Insofern wäre es viel zu verfrüht, das Ergebnis des Referendums als einen »Pyrrhussieg« zu bezeichnen. Auch wenn das Ergebnis knapp und höchst umstritten ist: Gewählt ist gewählt! Die de facto Autokratie ist jetzt verfassungsrechtlich verankert. Als Regierungs- und zukünftiger Parteichef wird Erdoğan ein Rollback nicht zulassen. Jetzt beginnt eine Phase von Gesetzesänderungen. Viele Gesetze müssen den veränderten Verfassungsartikeln angepasst werden. Die Erklärungen Erdoğans und seiner Parteifreunde machen deutlich: Jetzt beginnen die dunklen Monate, gar Jahre einer neuen Willkürherrschaft.
Und die Opposition?
Die Frage ist, was macht die Opposition? Wird sie den Übergang begleiten oder das Wahlergebnis, das unter antidemokratischen Umständen zustande gekommen ist und mit dem gleichzeitig offengelegt wurde, dass die Unterstützung für das Regierungslager geschrumpft ist, konsequent anfechten? Selbst wenn die CHP sich entschließen würde, das Ergebnis des Referendums nicht zu akzeptieren, wird sie, solange sie ihre Anhänger*innen nicht auf die Straße mobilisiert und nur mit juristischen Mitteln »Widerstand« leistet, die Installation des autokratischen Präsidialsystems nicht verhindern können. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass die CHP mit parteiinternen Machtkämpfen beschäftigt sein wird. Proteste und Rücktrittsforderungen nach der Pressekonferenz des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu in der Parteizentrale deuten auf eine schwere Auseinandersetzung.
Das einzige, was eine Ära der Willkürherrschaft verhindern könnte, wäre der Widerstand einer breiten gesellschaftlichen Opposition. Das knappe Ergebnis könnte als eine Chance für den Aufbau einer breiteren Front gesehen werden. Die Tatsache, dass tausende Menschen in den Großstädten trotz der weitverbreiteten Angst vor Terroranschlägen und Polizeigewalt gegen die Rechtsbeugung der YSK protestierten, weist auf ein Potential hin. Doch muss dieses Potential aktiviert und mit einer Strategie unterlegt werden, damit es nicht im Sande verläuft. Die oppositionellen Kräfte konnten bis jetzt keine solche Strategien aufweisen, mit denen sie die Krisenhaftigkeit des Regimes, die sich bei den Gezi-Protesten, der verlorenen Wahl vom 7. Juni 2015 aber auch dem Putschversuch 2016 einstellte, vertiefen konnten. Während des Wahlkampfes konzentrierten sich alle Kräfte auf ein »Nein«, ohne eine Perspektive für die Zeit nach dem Referendum aufzuweisen. Angesichts dessen, dass vor dem Referendum massenhaft über Wahlmanipulationen spekuliert wurde, überrascht die Unentschlossenheit der Opposition jetzt, wo ein Gesetzesbruch vorliegt.
Sicherlich ist es nicht einfach, in einer Konstellation, in der keine einheitliche »Nein«-Front existiert, sich auf eine gemeinsame Strategie und Perspektiven zu verständigen. Das »Nein«-Lager bestand auf dem einen Pol aus Kemalisten und (säkularen) Ultra-Nationalisten, auf dem anderen Pol standen links-sozialistische Kräften sowie die kurdische Befreiungsbewegung. Dazwischen standen andere säkulare und demokratische Kräfte, auch Konservative, die von dem Präsidialsystem nicht überzeugt sind. Dies ist eine Sammlung von Kräften, die sich traditionell gegenseitig bekämpfen. Die Frage ist, ob der kleinste gemeinsame Nenner dieser Sammlung – inzwischen ist das nicht mehr der Erhalt, sondern die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie – ausreicht, um Feindschaften zu überwinden.
Eine taktische Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Gruppen, die das »Nein«-Lager bildeten, erscheint als einzige realistische Option, aus der dünnen bis schwindenden Mehrheit für das Regime eine Krise zu erzeugen und schrittweise Konzessionen zu erzwingen. Einer zersplitterten Opposition wird es aber nicht gelingen, selbst einem angeschlagenen Erdoğan die Stirn zu bieten, zumal der Weg einer Eskalation der Gewalt durch das Regime jederzeit offen steht.
Die handzahme Pressekonferenz des CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu nach der umstrittenen Wahlentscheidung der YSK lässt befürchten, dass von der größten Oppositionspartei CHP keine positiven Impulse für eine gemeinsame Strategie ausgehen werden. Die Frage, warum diejenigen Kräfte innerhalb der CHP, die mit der Linie der Parteiführung schon lange unzufrieden sind, keine Initiative ergreifen, steht im Raum. Auch die Abtrünnigen der MHP scheinen sich untereinander nicht einig zu sein, so dass zu erwarten ist, dass sie keine Alternative zur Linie der MHP-Führung bilden können, die mit der AKP paktiert.
So bleibt es den zahlenmäßig schwächsten Gliedern im Nein-Lager – den linken Kräften der Türkei – und der kurdischen Befreiungsbewegung überlassen, das Potential zu nutzen. Die linken und demokratischen Kräfte in der Türkei und in Kurdistan werden auf die internationalistische Solidarität aus Europa mehr denn je angewiesen sein. Nach dem Referendum wird es besonders wichtig sein, gegenüber dem bürgerlichen Lager im eigenen Land darauf zu bestehen, dass dieses Regime sowohl diktatorisch ist, als auch nicht mehr durch demokratische Wahlen legitimiert ist.
[1] Murat Çakır, Vor dem Verfassungsreferendum: Erdoğans »totaler Krieg« und das deutsche Kapital, in: Infobrief Türkei.