Das zurückliegende Jahr darf im politischen Sinne zu den turbulentesten gezählt werden, die Polen seit Mitte der 1990er Jahre erlebt hat. Polens neuer starker Mann indes darf sich zugute halten, dass er in den politischen Stürmen seine eigene Position nachdrücklich stärken konnte. Jarosław Kaczyński, Ministerpräsident, Vorsitzender der augenblicklich wichtigsten politischen Partei (PiS) und Zwillingsbruder des Staatspräsidenten in einem, sieht sich Eingangs des Jahres 2007 aber vor die Frage gestellt, wie er die entstandene politische Situation im Lande künftig auflösen will, denn mit dem augenblicklichen Zuschnitt will selbst er sich nicht zufrieden geben. Zuviel erinnere ihn da noch an vergangene Zeiten – an den Kommunismus und an den Postkommunismus. Erste ungeordnete Befreiungsschläge verraten übrigens altgedientes Handwerkszeug. 17 Jahre nach dem Ende der Volksrepublik Polen sollen eine umfassende Offenlegung der Akten der damaligen Staatssicherheitsorgane und eine flächendeckende „Bewältigung des Kommunismus“ das Land hineinführen in einen „moralischen Kapitalismus“, in dem Verantwortung, die mit den Mitteln des Rechts konsequent exekutiert werden muss, zur grundlegenden Kategorie gesellschaftlichen Handelns werden soll. Korruption, Veruntreuung, Verschleuderung von Steuergeldern, also die für die Zeit von 1989 bis 2005 nicht zu leugnenden Begleiterscheinungen, haben dem Lande einen erheblichen wirtschaftlichen und zudem schmerzhaften moralischen Schaden zugefügt, der kompromissloses Handeln ohne Rücksicht auf Namen, Herkunft und Funktionen erforderlich mache. An dieser Aufgabe will sich PiS, die heutige Partei der Macht, künftig messen lassen. Und ein guter Teil der öffentlichen Meinung hat sich tatsächlich auf diese Auslegung der Lage eingelassen. An Zustimmung gegenüber dem Stand bei den Parlamentswalen 2005 hat PiS den Umfragen im Januar 2007 gemäß nichts eingebüßt. Die Losung, alte Seilschaften zu zerschlagen zieht noch genauso wie im Herbst 2005.
Allerdings hat PiS auch nichts dazugewinnen können, so dass sie bei vorzeitigen Neuwahlen wiederum auf Koalitionspartner angewiesen wäre. Eine Wiederholung jener Phase, in der PiS sich der Aufgabe stellte, aus klarster Minderheitsposition heraus die Regierungsgeschäfte alleine zu führen (Oktober 2005-Mai 2006), dürfte über einen längeren Zeitraum hinweg kaum möglich sein. Dennoch verkündet der Ministerpräsident seit Monaten und unmissverständlich: Ein Koalitionsbruch bedeutet vorzeitige Neuwahlen. Zu Koalitionspartnern wurden im April/Mai 2006 die bauernpolitische „Samoobrona“ und die nationalkatholische LPR erkoren. Da die beiden Parteivorsitzenden Andrzej Lepper und Roman Giertych zugleich zu stellvertretenden Ministerpräsidenten und Ministern aufstiegen, gleichzeitig im Eigeninteresse ihrer kleineren Parteien ihr ganzes problematisches politisches Gewicht auszuspielen begannen, zog der Präsidentenbruder Ende Juni 2006 die Notbremse und ließ sich durch seinen Zwillingsbruder zum Ministerpräsidenten ernennen. Seitdem befinden sich Polens Staatsgeschäfte gleichsam fast in Familienverwaltung, was unter Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie gewiss Einmaligkeitswert haben dürfte.
Um noch einmal die Doppelfunktion der Zwillingsbrüder anzusprechen, sei hervorgehoben, dass damit Regierungs- und Präsidentenlager erstmals seit 1990 erkennbar durch einen in allen wesentlichen Fragen einheitlichen politischen Willen gekennzeichnet sind. Da auch Polens Staatsoberhaupt direkt durch die Wahlberechtigten des Landes gewählt wird, hat er neben den Insignien des höchsten Staatsamts auch tatsächlich mehr Befugnisse und Möglichkeiten des Eingreifens in laufende politische Prozesse. Lech Kaczyńskis Vorgänger im Amt, Lech Wałęsa (1990-1995) und Aleksander Kwaśniewski (1995-2005) positionierten sich Kraft ihres Amtes der damit einhergehenden Autorität zu einem guten Teil gegen „ihre“ Ministerpräsidenten. Tadeusz Mazowiecki und Leszek Miller könnten ein gemeinsames Lied davon singen. Von dieser Seite also droht dem jetzigen Ministerpräsidenten auch künftig kein Ungemach.
Was will die IV. Republik?
Auch wenn der inflationäre Gebrauch der Bezeichnung „IV. Republik“ allmählich am Abklingen ist, stand das gesamte Jahr 2006 politisch unter diesem unheilvollen Zeichen. Obwohl die Idee einer neuen Republik ursprünglich durchaus im Einklang mit der heutigen größten Oppositionspartei, der rechtsliberalen PO, ausgeheckt wurde, beansprucht PiS seit der Wahlkampagne 2005 die alleinige Urheberschaft. Nach Maßgabe eigenen politischen Kalküls wurden politische Kräfte ins Lager der IV. Republik geholt (LPR, „Samoobrona“), draußen gelassen (PO) oder strikt ausgeschlossen (SLD). Hinter dem allzu häufig eher folkloristisch anmutenden Gerede über die IV. Republik, mit der die Phase des Postkommunismus (also die seit 1990 geltende Ordnung einer III. Republik) endgültig abgeschlossen werden soll, verbirgt sich handfestes Kalkül. Die erfolgreich in die öffentliche Debatte eingeführte Idee, es gegebenenfalls mit einer erneuerten verfassungsmäßigen Ordnung zu versuchen, zielt in erster Linie auf die Änderungen im Wahlrecht, also auf die Beseitigung des Verhältniswahlrechts und die weitgehende Einführung des Mehrheitswahlrechts. Bisher wird nur die oberste parlamentarische Kammer (Senat) nach den Regeln des Mehrheitswahlrechts zusammengesetzt, der Sejm und die Selbstverwaltungskörperschaften aber nach Verhältniswahlrecht.
Eine solche gravierende Änderung würde vor allem die kleineren im Sejm und den Selbstverwaltungsorganen vertretenen Parteien vor ernsthafte Schwierigkeiten stellen. Nutznießer wären größere politische Parteien oder Wahlblöcke, die in einer dann stark polarisierten politischen Landschaft das Gros der Wählerschaft auffangen könnten. Selbst eine dritte politische Kraft müsste sich sorgen, etwa die SLD, die bei den Senatswahlen 2005 über 15% der abgegebenen Stimmen bekam, dennoch ohne einen einzigen Sitz blieb. Im Verständnis der Regierungspartei wären in Polen zwei solche politischen Lager oder „Volksparteien“ möglich.
Einerseits ein um die PiS-geschartes konservativ-nationales Lager, in dem sogenannte traditionelle Werte und die Nationalstaatsidee gut aufgehoben wären, welches auf Wacht stünde für die Prinzipien von „Wahrheit und Verantwortung“ (Ziel: starker Staat). Soziologisch müsste dieses Lager die konservativen Wählerschichten der Großstädte und den Großteil der Wähler in den Klein- und Mittelstädten sowie auf dem flachen Lande binden. Ein strategischer Vorteil wäre die Dominanz unter der Landbevölkerung, denn sie stellt etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung, womit die von vornherein gegebenen Nachteile eines konservativ ausgerichteten Lagers in den Großstädten gegenüber einem liberal sich verstehenden Lagers ausgeglichen werden könnten. Der Gegenpart sollte sich liberal definieren und könnte durch die heutige PO geführt werden, die sich als rechtsliberale Kraft bestimmt. Die PO versteht sich ohnehin vor allem als „Wirtschaftspartei“ und tritt besonders nachdrücklich für einen möglichst schlanken Staat und ein hohes Maß an persönlicher Eigenverantwortung (z. B: Bildung, Gesundheit, Rente) ein. Die Aufgabe dieses Lagers bestünde darin, vor allem die nichtkonservativen Wählerschichten der Großstädte an sich zu binden, was eine harte Auseinandersetzung nach links einschließen müsste. Im Verständnis der PiS-Führung müsste deshalb PO die Sperrspitze im Kampf gegen die Überreste des „Kommunismus“ sein. Die Initiativen der PiS-geführten Regierung verstehen sich also regelmäßig auch als erhobener Zeigefinger für die rechtsliberale Opposition, die im Zweifelsfalle noch ein jedes Mal (wenn auch mittlerweile leicht geläuterte) PiS-Positionen bezieht und einen auch nur punktuellen Schulterschluss mit der linksgerichteten SLD gleich dem Teufel das Weihwasser meidet. Eine gemeinsame Anti-Kaczyński-Front der beiden wichtigsten Oppositionsparteien im Parlament – auch dessen kann sich der Ministerpräsident mittlerweile sicher sein – wird es auf absehbare Zeit nicht geben.
Beim Aufbau „seines“ Lagers sind dem PiS-Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten indes Fortschritte nicht abzusprechen. Durch die Einbindung in die Regierungskoalition haben sowohl Giertychs LPR als auch Leppers „Samoobrona“ Federn lassen müssen. Für sie selbst mögen die teils dramatischen Einbrüche in der Wählergunst unerwartet gekommen sein, aber diese Vorgänge liegen ganz auf der Linie der Block-Logik. Die Regierungskoalition ist in dieser Frage also zu einem recht erfolgreichen Instrument der PiS-Politik geworden.
Nach den im November 2006 stattgefundenen Selbstverwaltungswahlen (Regional- und Lokalwahlen), die ein Jahr nach Beginn der Herrschaft der Kaczyńskis in den Medien als ein aufschlussreicher Spiegel für künftige Kräfteverhältnisse gewertet wurden, kann der PiS-Vorsitzende auf recht geordnete Bataillone schauen: In den Großstädten wurde PiS zweite Kraft, zwar deutlich hinter der PO, aber im Schnitt immerhin mit 20-30% Zuspruch. Schwächer sieht es bei den jüngeren Großstadtwählern aus, doch die sind angesichts des vorherrschenden scharfen neoliberalen Windes ohnehin eine schnelle Beute eloquenter Verfechter eines schlanken Staats und niedriger Steuern. Wie andere Konservative auch, lässt Jarosław Kaczyński sich hier von der Devise leiten, dass das Leben ein geduldiger und erfolgreicher Lehrmeister ist. Freuen darf er sich aber, da er in zwei wichtigen Segmenten der polnischen Gesellschaft nunmehr starke Verankerungen hat: in den Klein- und Mittelstädten und unter der Landbevölkerung. Ohne Frage wichtige Voraussetzungen für einen künftigen konservativ-katholisch-nationalen Block. Die allgemeine, zugleich inhaltsleere PiS-Losung – ein „solidarisches Polen“ müsse sich dem „liberalen Polen“ entgegenstellen – dürfte angesichts der tatsächlichen Problemlage in jenen Gebieten, die nicht oder nur bedingt Nutznießer von wirtschaftlichen Entwicklungen in den prosperierenden Großstadtzentren sind, noch einige Zeit verfangen.
Immer noch scheint es jedoch überraschend, dass die bereits lange vor dem Herbst 2005 angekündigte Vernunftehe zwischen den beiden großen Rechtsparteien PO und PiS am Wahltag blitzschnell von der Agenda schwand. Es allein auf das Spitzenpersonal zu schieben, wäre nicht richtig. Denn beide Gruppierungen hatten sich vor den Parlamentswahlen im Herbst 2005 einen höheren Zuspruch ausgerechnet. Jeweils knapp um die 25 % bei einer Wahlbeteiligung von deutlich unter 50% war weniger, als man insgeheim erwarten durfte. Zusammengerechnet war man selbst bei Hinzurechnung einer weiteren kleineren Rechtspartei (LPR) weit entfernt von einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, mit der Verfassungsänderungen bei „eigenem“ Präsidenten möglich gewesen wären. Der dann nach den Wahlen schnell inszenierte erbitterte und nachgerade medienträchtige Streit zwischen beiden Parteien hielt über weite Strecken des Jahres 2006 die politische Öffentlichkeit in Atem. An Sacharbeit und Sachthemen schien es kein Interesse zu geben. Zudem erklärte Ministerpräsident Kaczyński nach wenigen Monaten Amtszeit bereitwillig, er stünde nicht für ruhiges, routiniertes Regieren zur Verfügung. Nach den Regional- und Lokalwahlen ebbte der bis dahin heftigste Streit zusehends ab. Beobachter konstatierten schnell, dass die gesellschaftliche Stimmung sich zu wandeln beginnt. Die Bürger – so die einhellige Einschätzung - hätten genug von dem politischen Kleinkrieg der beiden derzeit wichtigsten politischen Kräfte. Vielleicht ein rechtzeitiger Warnschuss vor allem für das Kaczyński-Lager, das sich nun anderen Themenfeldern zuwenden muss. Dennoch sei unterstrichen, dass beide Parteien durch ihren Streit nichts an Wählergunst verloren haben. Die Idee einer „neuen Republik“ könnte beide Seiten noch einmal zusammenbringen.
Oft unterschätztes Zünglein an der Waage – die Landbevölkerung
Etwa ein Drittel der Wählerschaft wohnt auf dem Lande. Es stellt damit einen wichtigen Bestandteil der politischen Landschaft Polens dar. Anders als in Deutschland gab es bisher keine ausgesprochene „Volkspartei“, die gleichermaßen auf relevante Stimmenanteile in Großstädten und in den Dörfern zählen konnte. Bis Mitte der 1990er Jahre hinein war die Bauernpartei PSL in den Dörfern die mit Abstand stärkste Kraft. Dieser Vorsprung betraf alle Ebenen, von der Selbstverwaltungsebene hinauf bis auf die parlamentarische Ebene. 1997 erlitt die PSL bei den Parlamentswahlen einen heftigen Einbruch und wurde nur noch zur zweitstärksten politischen Kraft auf dem Lande. Dieser Einbruch kostete der Koalitionsregierung von SLD und PSL übrigens die notwendige Mehrheit. Zur stärksten politischen Kraft auf dem Lande stieg damals die Wahlaktion „Solidarność“ (AWS) auf, die sich als rechtsgerichtetes Sammelbecken verstand und die Regierung bis 2001 führte. Während auf der Ebene der örtlichen und regionalen Selbstverwaltung die PSL weiterhin tonangebend blieb, was im Herbst 2006 eindrucksvoll bestätigt wurde, gibt eine Mehrheit der ländlichen Wähler auf der parlamentarischen Ebene einem landesweit stärkeren Akteur die Stimme. Lange Zeit hatte es den Anschein, dass Leppers „Samoobrona“ nach dem Niedergang der AWS diese Rolle zumindest mittelfristig wird übernehmen können. Doch die Parlamentswahlen 2005 sahen auf dem Lande einen anderen Sieger – die PiS. Bei den Lokal- und Regionalwahlen im Herbst 2006 konnte PiS die eigenen Positionen gegenüber 2002 deutlich ausbauen und zudem den Anspruch untermauern, in diesem wichtigen Segment polnischer Politik insgesamt die stärkste Kraft zu sein. Auf jeden Fall befindet PiS sich hier strategisch nunmehr in deutlicher Vorhand gegenüber der eher großstädtisch ausgerichteten rechtsliberalen Konkurrenz.
Stärkste Gegenkraft gegen die PiS-Ansprüche auf Hegemonie in diesem Bereich ist nicht mehr die „Samoobrona“, sondern die PSL, die landesweit seit Jahren immer im Schatten der „Samoobrona“ stand. Die Lepper-Partei trägt sich schwer mit der Regierungsteilnahme und verlor in den letzten Monaten dramatisch an Wählerzuspruch (Verluste von etwa 50%). Die PSL-Führung hingegen begreift ihre nicht erwartete Chance und streckt die Fühler aus zur PO, die als ein willkommener Partner für zukünftige Koalition gesehen wird. Damit hätte die großstädtische PO einen wichtigen Partner in jenem Bereich, in dem man selbst schwach und die Kaczyński-Partei deutlich überlegen ist. Diese dürfte die Gefahr spüren und selbst nach Möglichkeiten suchen, die PSL mittelfristig in ein eher konservativ-ländlich ausgerichtetes Boot zu holen.
Neue Tageszeitung: Aufbrechen eines Monopols
Zu einer für das politische Geschäft bedeutenden Änderung ist es im Laufe des zurückliegenden Jahres auf dem Tageszeitungsmarkt gekommen. Seit 1990 besitzt die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ eine herausragende Stellung in der Medienlandschaft. Der ursprünglich 1989 als Wahlzeitung der „Solidarność“ gegründeten Zeitung gelang es in kürzester Zeit, sich als liberales Sprachrohr zu etablieren und die unumstrittene Meinungsführerschaft zu erlangen. Keinem gelang es, daran etwas zu ändern. Die „Gazeta Wyborcza“ wurde mit ihrer Mischung aus wirtschaftsliberalen Positionen, die meistenteils und dem Zeitgeist entsprechend strikt neoliberal ausgerichtet waren, und freiheitlichem Zuschnitt, der sich weltoffen zeigte und dabei die problematischen Seiten eines sich strikt katholisch verstehen sollenden Landes nicht in Frage stellte (z. B. in der Abtreibungsfrage, bei Ungereimtheiten im Verhältnis Staat-Kirche), zum wichtigsten Mediensymbol der Transformationszeit. Zu besten Zeiten hatte die Zeitung eine tägliche Verkaufsauflage von mehr als 500.000 Exemplaren. Alle anderen überregionalen Tageszeitungen blieben sogar zusammengerechnet weit hinter diesen Zahlen zurück. Ab April 2006 gibt es den Versuch, die Position der „Gazeta Wyborcza“ als Meinungsführer ernsthaft und nachhaltig zu erschüttern. Die zum Springer-Verlag gehörende Tageszeitung „Dziennik“, die anfänglich ein wenig der deutsche Tageszeitung „Die Welt“ ähnelte, schickt sich seitdem an, zu einem sich weltoffen zeigenden Sprachrohr konservativ-nationaler Positionen zu werden. Mit Erfolg, wie die ersten Monate zeigten. Mittlerweile kletterte die täglich verkaufte Auflage auf über 250.000. Zwar liegt die „Gazeta Wyborcza“ mit knapp 400.000 Exemplaren noch unangefochten vorne, doch ihr bisheriges Monopol ist aufgebrochen. Das konservativ-nationale Spektrum hat mit der Tageszeitung „Dziennik“ ein wichtiges, journalistisch gut gemachtes Sprachrohr bekommen, welches eine überraschend weite Verbreitung gefunden hat und zudem mit Redakteuren arbeitet, die im Schnitt deutlich jünger sind als die Kollegen der „Gazeta Wyborcza“, die über die Jahre ins Alter gekommen sind. Da alle anderen überregionalen Tageszeitungen keine ähnlich bedeutende Position besitzen, darf festgehalten werden, dass es zwei Meinungsführer gibt: einen konservativ ausgerichteten, der für die PiS außerordentlich wichtig geworden ist, und einen liberalen, der allerdings im politischen Raum sichtlich links von der PO zu verordnen ist. Entgegen oberflächlichen Vermutungen kommt die konservative Stimme dabei jugendlicher, frischer und anpassungsfreudiger daher.
Die dritte Kraft
Eine starke dritte politische Kraft würde von vornherein die Möglichkeiten, über die Änderungen des Wahlrechts de facto ein Zweiparteiensystem zu etablieren, eingrenzen und erschweren. Eine starke dritte politische Kraft hätte also genügend Grund, dem Vorhaben einer Vierten Republik deutlich und entschieden entgegenzutreten. Sie wäre eine wichtige Größe für alle kleineren Parteien, die bei einer Zweiparteienlandschaft schnell Gefahr liefen, aufgesaugt zu werden. Eine solche dritte politische Kraft kann nach Lage der Dinge nur die verbliebene Linke sein. Doch sie tut sich einstweilen schwer mit dieser Aufgabe, trägt sie doch die Hypothek einer Regierungszeit (2001-2005), die insbesondere die eigene Anhängerschaft maßlos enttäuschte. Das Profil der Zeit nach Aleksander Kwaśniewski, der bereits als Staatspräsident (1995-2005) tiefergehende Bindungen ins linke Spektrum verloren hat, und Leszek Miller, der bis 2004 Ministerpräsident und als SLD-Vorsitzender der starke Mann in Polens Linken war, ist nach wie vor unklar und unscharf. Dennoch hat sich zum Jahresende der Nebel etwas aufgelöst, wobei die eigentlichen Herausforderungen erst kommen werden.
Die unangefochten wichtigste politische Kraft der Linken ist auch weiterhin die SLD, die von 1993-1997 und von 2001-2005 Regierungserfahrung sammeln konnte, in ihren Reihen viele erfahrene Politiker hat, noch immer zu den mitgliederstärksten und finanzstärksten Parteien des Landes zählt, dennoch an einem gravierenden Problem leidet: sie gilt unter Soziologen als Partei mit einem zu deutlichen biographischen Zugang. Als Mieczysław F. Rakowski Anfang 1990 das Banner der PVAP einrollen ließ, wurde der Staffelstab an die Generation der damals 30- bis 45-jährigen reformfreudigen jüngeren Kader übergeben. Sie brachten die neugegründete Sozialdemokratie auf einen Kurs nach Muster westeuropäischer Vorbilder und gewannen in wenigen Jahren einen in den ersten Wendejahren am kaum für möglich gehaltenen Wählerzuspruch. Diese Generation blieb bis heute faktisch dominierend, auch wenn ab 2005 versucht wurde, das Steuer allmählich in wesentlich jüngere Hände zu legen. Die Besetzung der beiden wichtigsten Parteifunktionen (Vorsitz und Generalsekretär) mit damals 31-jährigen Männern war so ein deutliches Zeichen und ganz gewiss ein mutiges Wagnis. Aus ihrer tiefen inneren Krise ist die Partei dennoch nicht herausgekommen. Und so stand nach dem erwarteten Wahldebakel 2005 frühzeitig fest, dass die SLD zu einer ernsthaften dritten politischen Kraft nur reifen wird, wenn ein umfassender Erneuerungsprozess in Gang gesetzt wird. In Rede standen verschiedene, teils miteinander in Widerspruch liegende Optionen.
So die Schärfung und Stärkung der sozialen Komponente der Partei, die unter Leszek Miller sträflichst vernachlässigt wurde. Dabei spielte auch die PiS-Losung von einem „solidarischen Polen“ eine Rolle, denn schnell machten sich innerhalb und im näheren Umfeld der Partei Stimmen breit, die da meinten, die nach sozialen Gesichtspunkten wählenden Wählerschichten seien ohnehin verloren und die Anstrengungen, sie aus dem Lager des „solidarischen Polen“ wegzuholen, lohnten nicht. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Zeit der Sozialstaaten abgelaufen sei, den Menschen deshalb keine falschen Versprechungen gemacht werden dürfen (Gefahr des Populismus!) und die regierenden Rechtskonservativen sich ebenfalls sehr schnell von Illusion über machbare Sozialpolitik freimachen werden.
So aber auch die Schlussfolgerung, die SLD müsse ihr eng gewordenes Schneckenhaus verlassen, sich in die Mitte der Gesellschaft hineinbegeben und dort ein möglichst breites Bündnis mit liberal gesonnenen Kräften schmieden. Für ein solches Konzept sprach sich mehrmals Kwaśniewski aus, der sich als Schirmherr für einen solchen Zusammenschluss anbot und denselben als einen neuen „historischen Kompromiss“ bewertet wissen möchte, würden dort doch endlich jene Kräfte zusammenfinden, die am Ende der Volksrepublik und am Beginn des heutigen Polen auf zwei Seiten der Barrikade für das richtige Ziel kämpften. Der ehemalige Staatspräsident meint die PVAP-Reformer auf der einen und die damals tonangebenden liberal gesonnenen „Solidarność“-Intellektuellen auf der anderen Seite. Seine Vision hat nur einen kleinen Schönheitsfehler - von der einstigen Herrlichkeit der beiden angesprochenen politischen Lager ist in der Gegenwart so sehr viel nicht mehr übriggeblieben. Die Zeit drängt und die Gegenwart stellt andere Fragen als die nach einem vor allem ästhetisch gedachten Zusammenschluss einstiger politischer Gegner.
Ein gewisser Durchbruch ist im Zusammenhang mit den wichtigen Regional- und Lokalwahlen im November 2006 dennoch erreicht worden. Bereits frühzeitig verständigten sich linksgerichtete und liberale Kräfte auf ein Wahlbündnis. Unter dem Namen LiD (Die Linke und Demokraten) sollte dem Wähler ein alternatives Angebot zu PiS und PO unterbreitet werden. Auch wenn man zusammengerechnet nach Wähleranteil gegenüber dem Stand vom Herbst 2005 nichts hinzugewinnen konnte, so werden die über 15% in den eigenen Reihen als ermutigendes Zeichen gewertet.
Das Wahlbündnis LiD befindet sich am Scheideweg: Ein Zurück zu den noch immer bestehenden Parteistrukturen kann es so nicht mehr geben, womit also der Aufbruch in einen neuen politischen Zusammenhang auf der Agenda steht. Favorisiertes Modell: Ein fester Mitte-Links-Block (also mehr als LiD im Augenblick) mit entschieden marktwirtschaftlichem Einschlag, mit freiheitlicher Ausrichtung (bei allerdings strikter Achtung traditioneller Eigenarten Polens), pro-europäisch und pro-atlantisch, möglichst unbelastet von unnötigen sozialen Versprechungen. Ein solcher Block wäre in erster Linie eine liberale Herausforderung für die PO in den Großstädten – attraktiv vor allem für junge, sich gesund fühlende, die Zukunft suchende und in sozialer Hinsicht sich noch relativ frei fühlende Wählerschichten. Attraktiv also für jene, die derzeit in deutlicher Mehrheit ihre Stimmen den Rechtsliberalen geben.
Die sozial ausgerichteten Kräfte im Bündnis LiD befinden sich dagegen in der Defensive. Viel könnte künftig vom Agieren der Gewerkschaftszentrale OPZZ abhängen, die sich für das Bündnis ausgesprochen hat. Die Tatsache, dass LiD bei Arbeitern oder Arbeitslosen deutlich unter dem Schnitt lag, wird aber bereits als Warnzeichen verstanden. Mangels Alternativen im außerparlamentarischen Raum bleibt vielen Gruppierungen und Parteien, die eine konsequente soziale Ausrichtung als die bessere Antwort auf die leere soziale Rhetorik der PiS-Strategen verstehen, einstweilen nur, sich innerhalb eines programmatisch möglichst breit gefassten Bündnisses zu profilieren und an Gewicht zu gewinnen. Wenn man so will – ein italienischer Weg.
aktuelle Parteien/Wahlbündnisse:
PiS Recht und Gerechtigkeit; versteht sich als nationalkonservativ, seit 2005 Regierungspartei;
PO Bürgerplattform; stärkste Oppositionspartei, versteht sich als rechtsliberal;
LPR Liga der Polnischen Familie; kleine national-katholische Partei, seit April 2006 in der Regierung;
Samoobrona Selbstverteidigung; bauernpolitische Partei, seit April in der Regierung;
PSL Bauernpartei; kleine Oppositionspartei;
SLD Demokratische Linksallianz; mit Abstand stärkste linksgerichtete Kraft im Lande, versteht sich als eine moderne sozialdemokratische Partei;
LiD Linke und Demokraten; Wahlbündnis aus linksgerichteten und liberalen Parteien/Organisationen;
Holger Politt, Warschau, Januar 2006