Publikation Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie - Soziale Bewegungen / Organisierung Parteien und Bewegungen. Die Linke im Aufbruch

Texte 30 der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Herausgeber*innen

Cornelia Hildebrandt, Michael Brie,

Erschienen

Oktober 2006

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Texte 30 der Rosa-Luxemburg-Stiftung
ISBN 3-320-02087-0, 978-3-320-02087-3
266 Seiten, Broschur


Der Wind dreht sich in Europa. Lange nicht bekannte Streik- und Demonstrationswellen erfassen ganze Länder. Erstmalig wurde ein Europaprojekt der Eliten, die Verfassung, gestoppt. Die parteipolitische Linke ist im Umbruch. Sie organisiert sich auch europäisch. Welches aber sind die Potentiale, Probleme und Widersprüche dieses Aufbruchs? Dieses Buch gehört zu den wenigen, die sich dieser Frage im europäischen Vergleich stellen.

Die Autoren setzen sich mit linken Strategien zur Veränderung von Kräfteverhältnissen, der Entwicklung von alternativen Projekten und zur Schaffung neuer linker pluraler Allianzen und Formationen auseinander. Welche neuen Formen des Politischen kann die neue europäische Linke entwickeln, was liegt ihnen zu Grunde und bildet die soziale, politische und kulturelle Basis für den Aufbau einer breiten linken Allianz gegen neoliberale Politik?

Einen besonderen Schwerpunkt bilden die gegenwärtigen Entwicklungstrends linker Parteien in Parlamenten und Regierungen. Welche gesellschaftliche Funktion nehmen sie dabei wahr, was sind ihre spezifischen Aufgaben und wie verändern sich ihre Strukturen und Arbeitsweisen? Wo gibt es Innovationen und auf welche Probleme stoßen diese Parteien dabei? Gibt es einen neuen linken Pluralismus und bewährt er sich in den Kämpfen um Einfluss und

Richtungswechsel der Politik? Mit der Analyse der Prozesse in Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien, in Osteuropa und in Deutschland werden auf diese Fragen Antworten gesucht.


Inhalt
Vorwort der Herausgeber

Neue Formen des Politischen
Mimmo Porcaro: Die radikale Linke und das Problem des Pluralismus: Der Fall Italien
Roger Martelli: Soziale Bewegungen und politische Konstruktionen: Jüngste französische Experimente
Christoph Spehr: Wem gehört die Partei? Moderne Linkspartei, Offene Organisation, Offener Sozialismus
Lars Schmitt: Sozioanalyse als Grundlage politischen Engagements
Judith Dellheim: Links als kultureller Wert? Acht Thesen
Michael Brie: Ist sozialistische Politik aus der Regierung heraus möglich? Fünf Einwände von Rosa Luxemburg und fünf Angebote zur Diskussion

Aktuelle Länderskizzen
…der Blick nach Deutschland
Oskar Niedermayer: Die Veränderungen des deutschen Parteiensystems
Michael Koß: Lose verkoppelte Anarchie: Die Linkspartei im deutschen Föderalismus
Meinhard Meuche-Mäker: Die PDS im Westen
Claudia Gohde: Was bewegt die Partei? Erfahrungen mit Fusion und Parteireform
Cornelia Hildebrandt: Emanzipative soziale Bewegungen in Deutschland

… der Blick nach Europa
Gilbert Wassermann: Die neuen Möglichkeiten der alternativen Linken erfordern ihre tiefgreifende Wandlung
Dag Seierstad: Die jüngsten Entwicklungen der norwegischen Linken: Herausforderungen und Perspektiven
Thomas Kachel: New Labours zweite Legislatur oder: Der lange Weg zum sozialgesellschaftlichen Denken
Henning Süssner: Good-bye Lenin? Die schwedische Linkspartei 1998-2005
Dieter Segert: Die post-kommunistische Linke in Osteuropa ohne echte linke Politik? Zustandsbeschreibung und Analyse nach 15 Jahren Transformation
Vladimir Handl: Die KSCM und die EU: Das Glas ist ein Drittel voll
Dietmar Wittich: Synopse sozialer Umfelder ausgewählter europäischer Linksparteien. Ein Arbeitsbericht
Sascha Wagener: Der Vertrag über eine EU-Verfassung und die Position linker Parteien

Autorenverzeichnis


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Vorwort der Herausgeber

Neuer Aufbruch oder bloßes Wetterleuchten?

Die vergangenen drei Jahrzehnte waren von einer ungebrochenen Tendenz neoliberaler Umgestaltung der Welt gekennzeichnet. Die Bollwerke, die in den hochentwickelten westlichen Gesellschaften nach 1945 gegen die Barbarei eines ungezügelten Kapitalismus errichtet worden waren, kamen unter Beschuss, wurden belagert, geschleift. Der Sozialstaat wich dem Wettbewerbsstaat, partielle Sozialisierung der umfassenden Privatisierung, der Ausbau demokratischer Elemente und die Mitbestimmung wichen einem neuen Autoritarismus. Krieg wurde wieder zum selbstverständlichen Mittel der Sicherung imperialer Interessen. Die Implosion des sowjetisch geprägten Staatssozialismus und die Unterwerfung vieler Länder der früheren Dritten Welt unter neoliberale Strukturreformen sicherten diese Serie von Konterreformen an der Peripherie und Semiperipherie ab.

Die erste Welle von Gegenbewegungen gegen die erneute Durchkapitalisierung der Welt begann in der Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Linke Regierungen in fast allen Ländern Westeuropas, ein gemäßigter Multilateralismus und vorsichtig proklamierte Sozialreformen in den USA, neue Demokratisierungstendenzen in vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens sowie die Forderung nach good governance und global governance sollten die Früchte der neoliberalen Konterbewegung politisch und sozial stabilisieren. Dies war das elitäre Projekt einer »Neuen Sozialdemokratie« und »Neuen Mitte«.

Die Ergebnisse dieser Eindämmung des neuen Kapitalismus von oben auf seiner eigenen Grundlage sind bescheiden bis katastrophal. Die USA schwenkten Anfang dieses Jahrzehnts auf einen imperial-autoritären Weg. In Europa begann eine zweite und aggressivere Runde von Privatisierung, sozialer Spaltung und Entdemokratisierung bei gleichzeitiger Formierung der EU als neuer globaler Militärmacht. In Lateinamerika und Afrika mischten sich Stabilisierungsversuche mit einer weitgehenden Kontinuität neoliberaler Wirtschaftspolitik. Formale Demokratisierung und wachsende Ohnmacht großer Teile der Bevölkerung, eine nicht abreißende Kette so genannter Reformen, die letztlich die soziale Spaltung der Gesellschaft nur noch weiter vorantrieben, immer neue Zukunftsversprechen bei gleichzeitiger Ausbreitung von Unsicherheit der Mehrheit der Bevölkerung, Gipfeltreffen ohne Ende und eine Zunahme von Kriegen, in die die hochentwickelten Länder direkt verwickelt sind – als Aggressoren oder scheiternde »Friedensstifter« –, sind die Bilanz. Dies hat zu einer verbreiteten Delegitimierung der Neuen Sozialdemokratie in ihren verschiedenen regionalen und nationalen Varianten geführt.

Seit einigen Jahren ist eine neue »Bewegung von Bewegungen« entstanden. Diese neuen Bewegungen entspringen den sich auftuenden Klüften von Gesellschaften, die unter dem Druck des Finanzmarkt-Kapitalismus vor Zerreißproben gestellt werden. Es sind Bewegungen gegen die Tatsache, dass Wahlen nur noch darüber zu bestimmen scheinen, wer in welchem Tempo neoliberale Politik durchsetzt. Es sind Revolten gegen den Umstand, dass großen Teilen der Bevölkerung mit der sich ausbreitenden Unsicherheit und Prekarisierung der Boden unter den Füßen verschwindet und sich in gefährlichen Treibsand verwandelt, der fast jeden verschlingen kann. Es ist der Protest dagegen, dass sich der Krieg wie ein Krebsgeschwür in den Alltag  hineinfrisst.

»Demokratische« Machtlosigkeit, »soziale« Konterrefomen und eine »Friedenspolitik«, die den Krieg verallgemeinert, treffen auf immer neue Widerstände.

Da wird eine Richtlinie der EU zu Fall gebracht, deren Ziel darin bestand, im Namen der Liberalisierung der Dienstleistungen eine weitere Bastion gegen Lohndumping zu schleifen. Per Volksabstimmung in Frankreich und den Niederlanden wird das so glanzvoll verkündete Projekt einer EU-Verfassung gestoppt, das der neoliberalen Eigentums- und Wirtschaftsordnung Verfassungsrang geben sollte. In Venezuela behauptet sich ein Präsident, der den Armen den Reichtum des Landes für Gesundheit, Bildung und Arbeit zur Verfügung stellen will. In Bolivien wird ein Koka-Bauer Präsident und verstaatlicht die Öl- und Gasindustrie. Lokale Netzwerke von Passlosen, Landlosen, Wohnungslosen, Arbeitslosen entstehen und vernetzen sich global. In Deutschland gehen plötzlich Hunderttausende auf die Straße, um gegen die entwürdigenden Reformen der Agenda 21 eines sozialdemokratischen Kanzlers zu protestieren, zwingen ihn zu vorgezogenen Neuwahlen, aus denen eine neue Linke gestärkt hervorgeht. In Mexiko formieren die Zapatistas eigene lokale Formen neuer Selbstverwaltung. Und dies alles ist nur ein sehr kleiner Ausschnitt völlig neuer Prozesse.

Die neue Bewegung von Bewegungen ist wie ein Steppenbrand. Immer wieder gelöscht, ausgetreten, unterdrückt, flammt er an völlig unerwarteter Stelle neu auf. Vororte brennen für Wochen, Straßen werden blockiert, große Demonstrationen legen die Politik lahm. Es gibt keine Zentrale und keinen Kern, es gibt nur eine gemeinsame Losung, die so vage wie viel versprechend ist: Eine andere Welt ist möglich. Kein Kampf wiederholt den anderen. Es gibt keine Armee, sondern eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern, die oft für kurze Zeit zu Partisanen werden in der Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Wandel, der sie empört, aufstört, oft zur Verzweiflung bringt. Private und soziale Formen des Widerstandes verschmelzen.

 

Der Ausgangspunkt dieser neuen Bewegung von Bewegungen sind nicht die etablierten Eliten und sozialdemokratischen Parteien, oft auch nicht die Gewerkschaften. Das alte und neue Unten wie die bedrohte Mitte der Gesellschaft sind in Bewegung geraten. Vereinzelt, fragmentiert, unübersichtlich, unverbunden, zerfallend und sich ganz unerwartet zu Protesten bündelnd, die die ganze Gesellschaft aufrütteln – so das Bild, das die sozialen Bewegungen heute bieten. Vieles erinnert an Rosa Luxemburgs Darstellung der Rolle des Massenstreiks in der Russischen Revolution von 1905: »Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, daß er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend. Er eröffnet plötzlich neue, weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen Engpass geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrund wie ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und  Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen.«1

Welche tiefer liegenden Tendenzen aber prägen diese Bewegung von Bewegungen? Was sind ihr Gehalt und welches ihre Möglichkeiten? Ist es mehr als ein Aufbäumen untergehender sozialer Klassen und Schichten, die der neoliberalen Umgestaltung letzte Abwehrkämpfe liefern, oder auch und schon der Aufbruch neuer Kräfte? Welche Entdeckungen wurden gemacht auf der Suche nach neuen Strategien und Organisationsformen?

Die Gesellschaft ist in Gestalt vielfältigster Kräfte selbst in Bewegung gekommen und fordert das Projekt des Neoliberalismus heraus. Was aber bedeutet dies für die Beziehung von Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften zu diesen Bewegungen und zueinander? Nichts wird bleiben, wie es war. Alles ist im Fluss, und gerade deshalb ist die gemeinsame Analyse wichtiger denn je. In welchem Kapitalismus leben wir, wie verändern sich Wirtschaft, Gesellschaft, Staat und Kultur? Was bleibt von den Forderungen nach der universellen Einlösung der Menschenrechte?


Im vorliegenden Band wird ein Ausschnitt dieser Fragen diskutiert. Politikwissenschaftler, Parteienforscher, Soziologen, Journalisten und Politiker versuchen, Einblicke in die komplizierten Prozesse der Neuformierung linker Parteien in Europa zu verschaffen. Im Mittelpunkt stehen dabei (1) die Fragen nach den gesellschaftlichen Funktionen von linken Parteien unter den neuen Bedingungen, (2) die Umbrüche im Parteiensystem, und (3), wie linke Parteien ihre Strukturen und Arbeitsweisen verändern.

Wozu werden Parteien noch gebraucht?
Mimmo Porcaro sieht in seinem Beitrag die Linke vor die Wahl gestellt, entweder einen brutaleren Neoliberalismus zulassen zu müssen oder den unmittelbaren Ausstieg aus dem neoliberalen System anzusteuern. Mit Verweis auf die Erfahrungen der italienischen Linken ist es aus seiner Sicht nicht mehr  möglich, einen »abgefederten« oder »sanften« Neoliberalismus anzustreben, der die Gestaltung der ökonomischen und sozialen Beziehungen dem Markt überlässt und lediglich versucht, negative Auswirkungen einer solchen Politik auf einkommensschwächere Schichten abzumildern. Strategie der Linken müsse es deshalb sein, signifikante Kurskorrekturen zur Überwindung des neoliberalen Dogmas zu ermöglichen. Das ist mehr als der Kampf gegen Privatisierungen und braucht breite gesellschaftliche Bündnisse und politische Allianzen.

Die linken Parteien müssen ihre strategischen Aufgaben aus den zentralen Konflikten entwickeln. Dazu gehören: die Autonomie als eigenständige, soziale, politische und kulturelle Kraft, praktische Projekte des Einstiegs in einen transformatorischen Prozess und Widerstand gegen jede Form der Entzivilisierung und Barbarei. In diesem Sinne fordert Mimmo Porcaro, den Kampf gegen die Regierung Berlusconi mit dem Kampf um signifikante Kurskorrekturen zur Überwindung des neoliberalen Dogmas zu verbinden.

Gilbert Wassermann beschreibt die Aufgaben der Linken aus französischer Sicht als Notwendigkeit der Zurückdrängung sozialliberaler Denkansätze innerhalb der Gesellschaft und der Abschwächung dieser Dominanz auch innerhalb der Sozialdemokratie. Die Linke müsse ein neues Verhältnis zur Macht entwickeln, so wie sie unter Verzicht auf ihre Avantgarde-Rolle auch ihr Verhältnis zu anderen Parteien, sozialen Bewegungen und Bürgerbewegungen verändern muss, auch vor dem Hintergrund der massiven Abkehr der Menschen von der traditionellen Linken – nicht nur in Frankreich.

Die Niederlagen der linken Regierungen in Europa bis 2002 werden durch Gilbert Wassermann auch mit ihrer Unfähigkeit begründet, Antworten auf die Ängste und Unsicherheiten zu geben, die sich unter den Bedingungen eines flexiblen Kapitalismus mit seinem wesentlich höheren Maß an Instabilität,  Inkohärenz, gesellschaftlicher Spaltung und offener Unterdrückung ausgeprägt haben. Dazu aber ist es erforderlich, die Ursachen dieser Ängste nicht mehr als individuelles Versagen zu begreifen und verinnerlichte und selbstverständlich gewordene Benachteiligungen sichtbar zu machen.

Lars Schmitt beschreibt diesen Prozess und die Stufen des Übergangs zwischen einer gesellschaftlichen Schieflage und emanzipatorischem Engagement. Er analysiert die Schwierigkeiten kollektiver Wahrnehmungen in sich ausdifferenzierenden Gesellschaften. Die mit der Pluralität scheinbar frei gewählte Symbolik zur Selbstbeschreibung und die Ausprägung von Individualität machen verinnerlichte soziale Ungleichheiten zunächst unkenntlich. Gerade deshalb sind aus seiner Sicht kollektive Identitätsprozesse wichtig, damit das Aufbegehren nicht auf der individuellen Ebene verbleibt und Voraussetzungen für Hegemoniefähigkeit entstehen. Was aber bedeutet diese unter den Bedingungen der Krise von Erwerbsarbeit, der Abnahme des Gesamtarbeitsvolumens, für die gesellschaftliche Integration und die Ausprägung kollektiver Identitäten? Dies ist eine Frage, die die Linke jedoch nur beantworten kann, wenn sie zur soziologischen Selbstreflexion fähig ist und die sozialen Unterschiede von Akteuren wahrnimmt. Gilbert Wassermann spricht in diesem Zusammenhang auch von dem tiefen Graben zwischen Bevölkerungsschichten, staatlichen Institutionen und politischen Vertretern.

Roger Martelli geht von den französischen Erfahrungen einer weitgehend gescheiterten Linksregierung und der bitteren Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2002 aus – die gespaltene Linke kam nicht einmal in die zweite Runde und musste letztlich Chirac gegen Le Pen unterstützen. Die Linke brauche alternative Synthesen, die den antineoliberalen Forderungen maximale Schlagkraft verleihen. In Deutschland werde in der Linkspartei von alternativen Einstiegsprojekten als Teil des strategischen Dreiecks zwischen Widerstand und Gestaltung gesprochen.

Umbrüche im Parteiensystem
Die Herausbildung neuer Parteien und Parteientypen und die Veränderungen der Parteiensysteme vollziehen sich seit dem Ende der 1980er Jahre, nach dem Zusammenbruch des staatsozialistischen Systems in den mittel- und osteuropäischen Ländern ebenso wie in den westeuropäischen Ländern. Dafür steht u. a. die Herausbildung der Izquierda Unida (Vereinigte Linke) 1986 in Spanien und des Bloco de Esquerda (Linker Block) 1999 in Portugal. Interessant gerade bei dieser Partei sind die Erfahrungen des Zusammenwachsen ihrer Teil- oder Ursprungsparteien, deren Gründungskerne, wie Christoph Spehr es allgemeiner formuliert, sichtbar erhalten bleiben und dabei Partei- und Bewegungsstrukturen miteinander verknüpfen. So werden z. B. die Delegierten der Parteitage auf der Grundlage von Sachanträgen gewählt.

Die Prozesse der Transformation der postkommunistischen Linken in Osteuropa analysiert Dieter Segert. Der komplizierte Wandel von Staatsparteien zu normalen politischen Akteuren in pluralistischen Parteiendemokratien vollzieht sich aus seiner Sicht auf zwei Wegen: als beschleunigte programmatische Modernisierung mit der Ausprägung eines sozialdemokratischen Profils oder als linker Rückzug zur Verteidigung der eigenen Identität. Als Ergebnisse dieser Prozesse beschreibt er reformierte Linksparteien oder nationalkommunistische Parteien, zwischen denen es eine Reihe von Mischformen gibt. Interessant sind die von ihm dargestellten Korrelationen zwischen dem programmatischen und organisatorischen Wandel am Beispiel der ungarischen, tschechischen und polnischen Parteien und der Versuch, Kriterien des Erfolgs linker Parteien zu entwickeln.

Oskar Niedermayer setzt sich mit den Veränderungen des Parteiensystems in Deutschland auseinander, dessen Typologie er nach strukturellen und  inhaltlichen Analysedimensionen und nach den beiden zentralen Ebenen des Parteienwettbewerbs differenziert. Das bewegliche Fünf-Parteien-System ist gekennzeichnet durch die offene Wettbewerbssituation der beiden großen Parteien. Es ist geprägt durch eine zweidimensionale Konfliktstruktur mit einer sozio-ökonomischen und einer politisch-kulturellen Dimension und libertären vs. autoritären Wertvorstellungen. Entlang dieser Strukturen bestimmt er den jeweiligen Platz der politischen Parteien in Deutschland.

Entsprechend den Konfliktstrukturen bestimmen linke Parteien auch ihr Selbstverständnis, ihre Identität als pluralistische Parteien, in denen sich sozial, politisch, kulturell durchaus unterschiedliche Kräfte zusammenfinden. Dietmar Wittich erläutert den geistig-kulturellen Raum linker Parteien und ihre Akzeptanz bei den verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft. Er vergleicht linke Parteien in zwölf europäischen Ländern hinsichtlich ihrer Bedeutung im Parteiensystem, der sozialen Merkmale ihrer Wähler wie Geschlecht, Bildung, Erwerbsstatus, Berufsgruppen, Wohnorttypen. Als Ergebnis formuliert er vier Typen von Parteien: (1) linke Parteien, die ihren Schwerpunkt in den Milieus der traditionellen Arbeiterbewegung haben, (2) linke Parteien, deren  Schwerpunkt bei den Milieus der Angestellten und traditionellen Dienstleister liegen, (3) eine gespaltene Linke, deren beide Vertreter in je einem der beiden Milieus ihren Schwerpunkt haben, (4) Parteien, die gleichzeitig beide Milieus repräsentieren. Wobei aus seiner Sicht das Milieu der modernen Produzenten und Dienstleister geringere parteipolitische Bindungen aufweist als die traditionellen Milieus linker Parteien.

Einen Einblick in die Situation der Linken in einzelnen Länden Europas bieten die Beiträge von Gilbert Wassermann und Roger Martelli zu Frankreich, von Henning Süssner über die Linke in Schweden, von Dag Seierstad über Norwegen, von Vladimir Handl über die Linke in Tschechien, von Mimmo Porcaro über Italien, von Thomas Kachel über die Linke in Großbritannien sowie die Beiträge von Claudia Gohde, Meinhard Meuche-Mäker und Cornelia Hildebrandt, die die Entwicklung in Deutschland skizzieren.

Ist eine andere parteipolitische Linke möglich?
Linke Kultur muss zwingend auch demokratisch sein, und völlig zu Recht sieht Christoph Spehr die Aufgabe der Linken vor allem darin, sich angesichts ihrer Geschichte als Teil eines nachholenden Lernprozesses in Sachen Demokratie zu verstehen. Das meint die Einbettung von Parteien in den Kampf um die Demokratisierung der Gesellschaft, den demokratischen Umgang mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, eine innerparteiliche Demokratie, die linke Parteien aus politischen Monopolisten in offene Organisationen strategischer Projekte und feministisch tragfähiger und attraktiver Utopien verwandelt.

Judith Dellheim verweist auf die schwindenden Spielräume für selbstbestimmtes Handeln, die auch unter den Linken unterschiedliche Möglichkeiten von Partizipation reproduzieren, wie sich bei der Nutzung des Internets, der Teilnahme an Sozialforen etc. zeigt. Die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Akteure und ihr Wille zum solidarischen Miteinander sind aus ihrer Sicht die Kernfrage linker Kultur, deren Selbstverständnis u. a. in der Charta von Porto Alegre zusammengefasst wurden. Ihre acht Thesen sind ein Versuch, aus den Erfahrungen der Sozialforen Ansätze einer breiten linken Kultur zu entwickeln.

Michael Brie formuliert in Diskussion mit Rosa Luxemburgs Begründung zur Ablehnung der Regierungsbeteiligung linker Parteien Argumente für eine Transformationspolitik, die eine konditionierte Partizipation an solchen Regierungen auch aus der Position einer Minderheit für möglich und sinnvoll hält.

Allerdings bleibt Regierungsbeteiligung auch in ihrer wirkungsvollsten Form ein ambivalentes, widersprüchliches Instrument, wie die Beiträge von Henning Süssner für Schweden und Michael Koß für Deutschland beschreiben. Henning Süssner spricht vom Dilemma nicht nur der schwedischen Linkspartei:

Kernauffassungen großer Teile der Mitgliedschaft sind in Konflikt mit den begrenzten Möglichkeiten geraten, tiefer greifende gesellschaftliche Veränderungen durch Koalitionen in Kommunen, Regionen oder im Reichstag zu erreichen. Eine wieder entdeckte Klassenkampfrhetorik steht neben einer Alltagspolitik der Verwaltung von materiellen Einsparungen. Anders dagegen analysiert Dag Seierstad die Situation in Norwegen. Unter dem Druck von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen nahm hier die linke Regierung von Arbeiterpartei, Sozialistischer Linkspartei und Zentrumspartei wesentliche Veränderungen in der norwegischen Politik vor, was etwa die Zurückweisung der Liberalisierungsstrategien von IWF und Weltbank anbelangt, das Agieren in der WTO, den Erhalt öffentlichen Eigentums, die Rücknahme von Einschränkungen des Arbeitsrechts und die Verbesserung von Arbeitnehmer- und gewerkschaftlichen Rechten. Aber auch er benennt in seinem Beitrag die Widersprüche dieses Projekts und Möglichkeiten seines Scheiterns.

Die Herausbildung der neuen parteipolitischen Linken realisiert sich als komplexer Prozess, umfasst Veränderungen von Mitgliedschaft, Strukturen, Organisations- und Arbeitsweisen und vollzieht sich regional unterschiedlich. Der aus der Sammlungsbewegung entstandenen WASG steht ein parlamentarisch geprägter, professioneller Parteiapparat der Linkspartei.PDS gegenüber. Unterschiedliche Selbstverständnisse, Erfahrungen, Kulturen, soziale, politische und historische Wurzeln müssen im Parteibildungsprozess bearbeitet werden. Einen Einblick in die eher zermürbende alltägliche Kleinarbeit des Zusammenwachsens verschiedenster Ebenen und Gruppierungen vermittelt Claudia Gohde, wobei sie Analogien zur Logik erfolgreicher Partner- und Familienberatungen herstellt. Die Ähnlichkeiten sind schon verblüffend: Dort wie im Prozess der Parteibildung sind Respekt, Würdigung, Anerkennung, Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe oft die Antwort auf zahlreiche Probleme. Doch auch dies allein genügt nicht, wie Meinhard Meuche-Mäker verdeutlicht. Die Erfahrungen der PDS bzw. Linkspartei beim Aufbau westdeutscher Strukturen analysierend, benennt er die externen und internen Faktoren ihres scheinbaren Scheiterns. Neben den gesellschaftlichen Bedingungen des Umbruchs 1989, der kulturellen Fremdheit der PDS, der Wirksamkeit des Antikommunismus, der Krise der Westdeutschen Linken als externe Faktoren charakterisiert er die uneindeutige politische Orientierung der PDS, die mangelnde Strategiebildung und die mangelnde Auseinandersetzung mit den konservativen Teilen der PDS-Mitgliedschaft als interne Faktoren. Wie also muss eine Partei sich organisieren?

Die neue Linke ist entweder pluralistisch oder nicht links, sie ist entweder demokratisch oder nicht emanzipativ. Auf der allgemeinen Ebene sind diese Sätze weitgehender Konsens linker Parteien. Doch der Teufel sitzt im Detail!

Christoph Spehr entwickelt die Grundzüge eines neuen Parteityps, dessen unterschiedliche Entstehungskerne nicht verschwinden, sondern die Pluralität von modernen Parteien begründen und als politische Produktivkraft verstanden und mit unterschiedlichen demokratischen Prinzipien verbunden werden müssen. Dabei haben linke Parteien demokratietheoretische und praktische Entscheidungen zu fällen, die das Verhältnis von Basis und Führung, von nationaler und europäischer Linken, von Mitgliedern von Parteien und deren Umfeld sowie die Autonomie von Parteigliederungen betreffen. Wie lassen sich hierzu Verfahrensregeln entwickeln, wie lässt sich der politische Alltag konkret gestalten? In Anlehnung an die »offenen Räume« der Rifundazione entwickelt Spehr die Idee der »offenen Organisation«, die verbunden wird mit einem Prozess gesellschaftlicher Transformation als kooperativer Prozess, bis hin zur Vision eines »offenen Sozialismus«.

Mimmo Porcaro unterscheidet zwischen innerparteilichem und gesellschaftlichem Pluralismus. Pluralismus beschreibt er als Vielfalt gesellschaftlicher Subjekte, die zum antikapitalistischen Kampf beitragen. Aber Pluralität ist nicht die homogene Vielfalt, sondern in sich widersprüchlich, wie er am Beispiel der italienischen Linken darstellt. Doch auch der innerparteiliche Pluralismus wird zum Problem, wenn er sich auf Flügelkämpfe reduziert, und zur Existenzfrage, wenn es zum Bruch zwischen den Flügeln kommt – so im Beitrag von Michael Koß für die Linkspartei in Deutschland. Notwendig für die Linke in Deutschland wäre es, den Fusionsprozess mit der längst überfälligen Parteireform zu verbinden; letztere sollte, Michael Chrapa zufolge, planmäßig betriebene interne Umgestaltungen und Modernisierungen von politischen Parteien zum Ziel haben, die einerseits Strukturen, Organisationsfragen oder statuarische Regelungen und andererseits Fragen der praktischen Arbeitsweise sowie der Ressourcennutzung betreffen.

Wie sich diese Prozesse auf der europäischen Ebene darstellen, erläutert der Beitrag von Sascha Wagener. Seine Analyse linker Positionen zum Verfassungsvertrag umfasst die Haltung der linken Parteien im Europäischen Konvent, Europäischen Parlament, in der Europäischen Linkspartei sowie innerhalb der einzelnen linken Parteien Europas.

Die Autoren dieses Buches sind sich einig: Die parteipolitische Linke steht vor einem tiefgreifenden Wandel, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will, einer der vielen Akteure der Formierung einer neuen gegenhegemonialen Kraft zu sein. Aber sie hat sich in Bewegung gesetzt. Unaufhörliche kritische Analyse ist dabei eine notwendige Bedingung. Die vorliegende Schrift soll dazu beitragen.

Cornelia Hildebrandt
Michael Brie



1 Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in dies.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin
1974, S. 91-170, hier S. 124.