Ein Bericht vom ESF 2006 in Athen
Jedes Sozialforum hat ein eigenes Gesicht. Das vierte europäische Sozialforum, das nun Anfang Mai in Athen stattfand, war von der Sonne beschienen. Die vorigen drei fanden an kühlen, oft regnerischen Herbsttagen statt. Nun also der griechische Frühling; es war eine Art Verwöhnung. Im Nachhinein drängt sich der Gedanke auf, dass das Herbstliche stets auch etwas von Ende signalisiert, von Absterben. Nun also die Hoffnung auf neues Erblühen. Vielleicht sollte man Sozialforen immer zu warmen Zeiten machen. Aber war es allein die Jahreszeit? Viele Beobachter sagten, dieses Sozialforum habe weniger bloßes Räsonieren über die widrigen Läufte in Zeiten des Neoliberalismus gehabt als frühere, aber mehr an analytischer Schärfe und Arbeit an Alternativen.
Am letzten Tag wurde vom griechischen Organisationskomitee eine Teilnehmerzahl von etwa 30.000 angegeben. Das sind weniger als in Florenz 2002 oder Paris 2003. Aber muß es immer ein: „Schneller, weiter, höher“ sein, wie im Leistungssport? Eher nicht. In London, am Rande des europäischen Sozialforums 2004, war debattiert worden, ob es eine gute Entscheidung war, nach Athen zu gehen; immerhin stand bereits damals fest, dass die starke Kommunistische Partei Griechenlands sich an dem Sozialforum nicht beteiligen werde. Sie hielt derlei Treiben für revisionistisches Teufelswerk, das die Arbeiterklasse vom Klassenkampf abhalte. Insofern war das griechische Organisationskomitee zusammengesetzt aus Menschen unterschiedlicher Organisationen, darunter aus dem Umfeld von Synaspismos, der linkssozialistischen Partei, die auch zu den Gründern der Europäischen Linkspartei gehört, der Initiative „Genua 2001“, wo sich etliche auf trotzkistische Traditionen beziehen, und verschiedener griechischer Gerwerkschaften, von denen sich einige Führungspersonen eher auf die Sozialistische Partei beziehen. Die griechische KP hat aber ihre Zusage eingehalten, das Sozialforum nicht zu stören; sie hat es nur nicht unterstützt. Vielleicht wird sie das später als Fehler ansehen. Intime Kenner der politischen Lage in Griechenland sagten, dass eine solche Teilnehmerzahl unter den gegebenen Bedingungen beachtlich ist.
Das gilt ebenfalls für die Demonstration am Sonnabend; hier waren es wohl an die 120.000 Teilnehmer; der Zug war etwa sieben Kilometer lang, und es war eine der größten Demonstrationen seit dem Ende der Militärdiktatur 1974. Allerdings hatten hier einige schwarz vermummte „Anarchos“ ihre Störversuche unternommen. Die Liturgie von Demonstrationen in Griechenland ist so, dass der „schwarze Block“ vorn marschiert, die eigentliche Demonstration in einigem Abstand dahinter. Wenn aus ersterem dann Steine oder Brandflaschen geworfen werden, bleibt der Demonstrationszug stehen, die Polizei greift vorn ein, es gibt Handgemenge, dann verschwindet der „schwarze Block“ und die Demonstration kann weiterziehen. Für den Sonnabend nun war vereinbart, dass die Ausländer vorn gehen, dahinter die Griechen. An der Spitze liefen dann die italienischen Gewerkschafter von Cobas. Nun griffen die Anarchisten die italienischen Gewerkschafter an, beschimpften sie nationalistisch, schlugen einen von ihnen blutig zusammen, versuchten eine Cobas-Fahne anzuzünden, verschwanden dann, kamen aber zurück, um sich unter die Demonstranten zu mischen und aus der Demonstration heraus Steine und Brandflaschen zu werfen. Es brannten ein Polizeiwagen und eine Bankfiliale – das waren die Bilder, die „EuroNews“ dann um die Welt schickte.
Diese Szenerie machte wieder einmal deutlich, dass nicht jeder, der die neoliberale Welt anzugreifen vorgibt, ein Verbündeter der globalisierungskritischen Bewegung ist. Es hat auch etwas von den Ritualen der 1.-Mai-Randale in Berlin. Politisch heißt das, die sozialen und geistigen Zersetzungsprodukte der spätbürgerlichen Gesellschaft zu unterscheiden von denen, die in sozialer und politischer Verantwortung nach Alternativen suchen. Eine Debatte nicht nur um das soziale, sondern auch um das intellektuelle Lumpenproletariat ist angezeigt. Und dann gibt es auch noch die gesandten Provokateure der verschiedenen Geheimdienste.
Einige Vertreter unterschiedlicher politischer Sekten, die sich ja auch immer im Umfeld der Sozialforen zu profilieren versuchen, waren in einer nächtlichen Versammlung Sonnabend Abend bestrebt, ausgerechnet die transformatorische Linke für die Ausschreitungen der Anarchisten verantwortlich zu machen. Am Sonntag, in der Versammlung der sozialen Bewegungen allerdings hieß es dann, und das war Konsens: „Wir alle tragen gemeinsam die Verantwortung für alles, das hier geschehen ist.“
Das Athener Sozialforum war auch ein Ort der Fortsetzung der Debatten um die Zukunft der globalisierungskritischen Bewegung. Schon seit geraumer Zeit wird im Kontext der Weltsozialforen und des Internationalen Rates diskutiert, wie es denn weitergehen soll. Einerseits war es die Idee des „offenen Raumes“, den jeder betreten kann, der bestimmte Grundpositionen der Globalisierungskritik und der Verteidigung des Friedens teilt, die die zuvor ungekannte Breite der Sozialforumsbewegung ermöglicht hat. Dazu gehört auch die Regel, dass in diesem Raum keine Beschlüsse gefasst werden sollen. Andererseits wird eingewandt, dass diese Konstruktion gezielte Handlungsoptionen verhindere. In Lateinamerika – während des Teil-Weltsozialforums in Caracas im Januar war das besonders deutlich – meinen nun viele, die Aktivisten der Sozialforen sollten die linken Präsidenten und Regierungen unterstützen, wozu zumindest Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien und Tabaré Vázquez in Uruguay gehören, viele aber nach wie vor auch Lula in Brasilien und Kirchner in Argentinien rechnen. Damit würde der Kern der „Charta von Porto Alegre“ in Frage gestellt, lautet der Vorwurf, was als Gegenreaktion hervorruft, die Charta gegen die tagespolitischen Bezugnahmen verteidigen zu wollen. Das widerlegt aber noch nicht das Argument, die Sozialforen würden nur Gelegenheit zum Reden geben, während gehandelt werden müsse.
Die Bewegung der Sozialforen hat offenbar eine bestimmte erste Entwicklungsphase absolviert. Das Neue, das zunächst in der Breite der Bewegung und der Vielfalt der Debatten lag, ist nicht mehr neu. Es gibt, wegen der Attraktivität des offenen, d.h. nicht regulierten Zugangs zu dem Raum der Foren, eine bestimmte Überrepräsentanz, einerseits von trotzkistischen Gruppen, die unrealistische Forderungen stellen und sich selbst als Avantgarde empfehlen. Ihnen ist die breite Bewegung eigentlich egal; sie wollen nur an der Spitze, welcher auch immer, stehen. Andererseits wurden viele unpolitische Nichtregierungsorganisationen und –gruppen angezogen, die bestimmte konkrete Projekte verfolgen, in Bezug auf Macht und ökonomische Interessen aber naiv sind und Beschlüsse zu verhindern bestrebt sind. Insofern ist die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten nach wie vor unbeantwortet, auch wenn die Versammlung der sozialen Bewegungen wiederum versucht hat, diese Lücke zu füllen.
Die inhaltlichen Schwerpunkte des Forums von Athen waren der Kampf um den Frieden, konkret die Forderung nach Beendigung der Besetzung des Irak und Verhinderung des angekündigten Krieges gegen den Iran, und das Ringen um die Zukunft Europas. Hierzu gehörten die Betonung des „Non“ zur sogenannten EU-Verfassung in Frankreich und die Aktivitäten gegen die „Bolkestein-Richtlinie“. So wurde in unterschiedlichen Veranstaltungen die Lage analysiert. Genau besehen hat die Bourgeoisie kein „europäisches Projekt“. Osteuropa wurde zur Peripherie Westeuropas gemacht. „Europa“ wird als neoliberales Konstrukt weiter betrieben, während außenpolitisch die Signale auf die „nordatlantische“ Gemeinsamkeit mit den USA gestellt wurden. Markt und Profit soll der Weg geebnet sein, während die früheren Kompromisse mit der Arbeiterschaft und den sozial benachteiligten Schichten, der Sozialstaat aufgekündigt werden. Dafür braucht man Demokratieabbau und wachsende Polizeibefugnisse im Innern und militärische Macht nach außen. Europa wird entweder von links neu begründet oder gar nicht.
In diesem Sinne war die Verfasstheit Europas eines der Kernthemen des Forums. Die Regierenden EU-Europas betrachten die EU-Verfassung offenbar nicht als gescheitert. Jacques Chirac habe zwar gesagt, er werde sich an das Ergebnis des Referendums halten. Aber das gelte nicht notwendig für einen Nachfolger. Insofern werde man offenbar der französischen Nation eine zweite Abstimmung zumuten wollen. Im ersten Halbjahr 2007 gebe es die deutsche Präsidentschaft in der EU, die Vorsitzenden der beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament sind Deutsche, und unter diesen Bedingungen wird sich die Auseinandersetzung um die sogenannte EU-Verfassung im nächsten Jahr zuspitzen. Hier schauen viele Europäer vor allem auch auf die soziale und politische Linke in Deutschland, dem entgegenzutreten.
Die europäische Linke hat einen Gegenentwurf zur EU-Verfassung vorgelegt. Das ist die „Charta der Prinzipien für ein anderes Europa“. Dazu fand in Athen eine ganze Reihe von Veranstaltungen statt. Das „andere Europa“ soll ein friedliches, frauenfreundliches, ökologisch nachhaltiges und vor allem soziales Europa sein. Die sozialen Rechte müssen für alle gelten, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Dazu brauchen wir eine „Residenz-Bürgerschaft“ anstelle einer „Staats-Bürgerschaft“. Die sozialen Rechte müssen individuell einklagbar sein, wie bisher nur die politischen Rechte.
Das Bürgertum hat die Handels-, Export- und Finanzpolitik in der EU hoch integriert, während Steuer- und Sozialpolitik wettbewerbsmäßig zwischen den Ländern organisiert sind. Es muß das Ziel der Linken sein, auch die Sozialpolitik zu integrieren. Dazu müssen der Arbeitsmarkt und das Arbeitsrecht harmonisiert werden; auf der Tagesordnung stehen ein europäischer Mindestlohn, eine Höchstarbeitszeit, eine europaweite Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und eine europäische Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben. Auf diesem Wege kann die Dominanz der Profitwirtschaft schrittweise durch die Priorität der Lebensinteressen der hier wohnenden Menschen ersetzt werden. Das wäre dann in der Tat ein „anderes Europa“.
An dem vorliegenden Text der Charta wird in den nächsten Monaten weiter gearbeitet. Auf einer europaweiten Versammlung in Paris im Dezember 2006 soll er als Entwurf bestätigt und anschließend der breiten europäischen Öffentlichkeit zur Diskussion unterbreitet werden. Wann und wo das nächste europäische Sozialforum stattfindet, wird auf einer europäischen Versammlung im September diskutiert. Es soll spätestens 2008 sein.
Leicht gekürzt erschienen in: Neues Deutschland, 13./14. Mai 2006.