Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - International / Transnational - Amerikas Linksparteien, partizipative Demokratie und Sozialpolitik des bolivarianischen Projektes in Venezuela 1999-2005

Beitrag zum Seminar "Linksparteien in Lateinamerika" (30.10.-1.11.2005 in Sao Paulo)

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Erschienen

Oktober 2005

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Das ab 1958 in Venezuela geschaffene Parteiensystem der repräsentativen Demokratie gelangte in den neunziger Jahren an sein Ende, nachdem seine Hauptakteure - die politischen Parteien, die den Fixpunkt-Pakt (pacto de Punto Fijo) unterzeichnet hatten - sich nicht in der Lage zeigten, die lang andauernde Wirtschaftsrezession und den mit der Schuldenkrise (1983) begonnenen Niedergang der Lebensqualität der Venezolaner zu überwinden. Die sozialdemokratisch orientierte Demokratische Aktion (Acción Democrática, AD), und die christdemokratisch ausgerichtete COPEI, die für die Anpassungspolitik neoliberaler Natur standen und zudem für so dramatische Vorkommnisse wie das Massaker von El Amparo und die brutale Unterdrückung der armen Bevölkerung während des Caracazo in 1989 verantwortlich waren, befanden sich gegenüber den Venezolanern in einem unumkehrbaren Prozess des Legitimationsverlustes. Korruptionsanklagen und der offensichtlich fehlende politische Wille, mit Reformen die Demokratie zu vertiefen, kamen zu der Enttäuschung bezüglich dieser Parteien hinzu. Dies drückte sich in den Wahlen von 1993 im Ende des Zweiparteiensystems und dem Wahlsieg von Rafael Caldera aus, der von einer Wählerbewegung, der sogenannten Bewegung der Nationalen Übereinstimmung, unterstützt wurde. Das Scheitern der Regierung Caldera (1993 – 1998), die fortdauernden sozio-ökonomischen und politischen Ungleichgewichte zu überwinden, sowie ihr ebenfalls geringer Wille, die während des Wahlkampfes versprochenen Verfassungsreformen voran zu bringen, begünstigte im Präsidentschaftsrennen 1998, die Regierungsübernahme von Hugo Chávez und seiner Allianz aus politischen Kräften, die mehrheitlich für linke Ideologie standen. Zu den unerfüllten Versprechen Calderas gesellte sich in 1998 der Zusammenbruch der Ölpreise auf dem internationalen Markt. Neben anderen Entwicklungen eine Konsequenz der neoliberalen Politik der Ölöffnung, die noch mehr dazu beitrug, die Wähler politisch zu radikalisieren.

    Trotz unterschiedlicher politischer Herkunft und mit kaum ausformulierten politischen Projekten, können die Parteien Bewegung Fünfte Republik (Movimiento Quinta República, MVR), und Vaterland für Alle (Patria Para Todos, PPT), die in der politischen Arena Venezuelas Ende der neunziger Jahre auftauchen, als fortschrittlich oder "links" eingestuft werden. Diese Parteien bilden die wichtigste politische Basis der Chávez-Regierung seit deren Anfängen in 1999. Außer ihnen sind weitere politische Organisationen - mit vernachlässigbarem Gewicht bei Wahlen, aber ebenfalls fortschrittlich - wie die Kommunistische Partei Venezuelas (Partido Comunista de Venezuela, PCV) und die Volkswahlbewegung (Movimiento Electoral del Pueblo, MEP) bis heute Teil der politischen Plattform der Regierung. Zusätzlich war die Partei Bewegung zum Sozialismus (Movimiento Al Socialismo, MAS), die sich 1971 von der PCV abspaltete, Teil der Regierungskoalition, bis in 2001 die ständigen Spannungen zwischen ihrer Führung und der MVR zum endgültigen Bruch führten und die Bewegung zur Opposition überlief.

    Im ersten Teil dieses Referates werden wir Argumente vorstellen, die die These vom fortschrittlichen oder linken Charakter der Chávez-Regierung stützen - vor allem wegen des demokratischen und antineoliberalen Charakters ihrer Vorschläge und praktischen Regierungshandlungen. Im zweiten Teil werden wir uns auf die Philosophie konzentrieren, die hinter dem Ansatz des Entwicklungsmodells, insbesondere dem gesellschaftlichen Konzept steckt, und in diesem Zusammenhang auf einige der bisher angewandten Sozialpolitiken eingehen. Schließen werden wir mit einer Kommentierung.

Das bolivarische Projekt - ein linkes Projekt?

    Seit er auf der politischen Bühne auftauchte, hat Präsident Chávez unzählige Zweifel und Polemiken bezüglich seiner ideologischen Verortung hervor gerufen. Sein politisches Debüt 1992 als Anführer eines Militärputsches, die militärische und zivile Natur seiner ursprünglichen politischen Organisation, der Revolutionären Bolivarischen Bewegung 200 (Movimiento Revolucionario Bolivariano 200, MBR 200), der nicht-marxistische Ursprung seiner gegenwärtigen Partei, der MVR, das Bündel von Organisationen und Persönlichkeiten, die ihn in der Präsidentschaftskampagne 1998 unterstützen und aus allen ideologischen Richtungen stammten, sein national-populistischer Diskurs, haben unter anderem dazu beigetragen, dass Organisationen und Figuren der traditionellen lateinamerikanischen sowie weltweiten Linken zögerten oder es sogar ablehnten, ihn als Führungsperson einer politischen Koalition anzuerkennen, die ideologisch auf der linken Seite des politischen Spektrums angesiedelt ist. Heute hat sich die Situation jedoch verändert und das venezolanische Experiment, mit inzwischen sechs Jahren an der Regierung, wird von vielen als eine fortschrittliche oder linke Regierung anerkannt, wenn auch “sui generis” (Harnecker, 2004), “bourbonisch” (Petkoff, 2005), oder “postmodern”, so einige der Adjektive.

Im Gedankengut der jüngeren lateinamerikanischen Linken, wurde der Kampf für die Demokratie in einem "substantiellen" Sinne, das heißt, als egalitäre und freie Beziehung zwischen den Menschen sowohl in der politischen Sphäre als auch in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einer der unabdingbaren Voraussetzungen der fortschrittlichen politischen Projekte für die Region (vgl. Roberts, 1998). Dies war das Ergebnis der diktatorischen Erfahrungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die unterdrückerischen und terroristischen Staatspraktiken den Konzepten von Bürger- und Menschenrechten sowie dem Rechtsstaat, die die marxistischen Parteien in den Jahrzehnten zuvor als "bürgerliche" Werte gering geschätzt hatte,  Bedeutung verliehen. Die Debatte zwischen formaler Demokratie – verstanden als diejenige, die auf Wahlprozesse in der politischen Sphäre beschränkt ist - und der substantiellen oder "tiefgreifenden" Demokratie, verstanden als die Ausweitung der demokratischen Beziehungen auf die ökonomische, soziale, kulturelle und sogar private Sphäre, stand sehr sinnbildlich auf der Flagge der Linken der achtziger Jahre. Der Zusammenbruch der bestehenden realsozialistischen Erfahrungen in den neunziger Jahren untermauerte den Wert der Demokratie in den linken Projekten und wandelte sich zur fast einzigen soliden Gewissheit in einem Moment, in dem es kein Vertrauen in die Möglichkeit einer machbaren Alternative zum Kapitalismus gab und einige sich vom "Ende der Geschichte" und daher der Unmöglichkeit, den Sozialismus zu verwirklichen, überzeugten (vgl. Castañeda, 1994).

Doch in den Folgenjahren, vor allen Dingen in den Gesellschaften im Südkegel des Kontinentes, tendierte die lateinamerikanische Linke im Rahmen einer schrittweisen Strategie, Spielräume für das friedlichliche Zusammenleben und die politische Auseinandersetzung zurück zu gewinnen,  dazu, die substantielle Demokratie zugunsten von Bündnissen mit rechten und/oder moderaten Kräften und Machtfaktoren hinten an zu stellen.  Obwohl dies zu einer allgemeinen Strategie wurde, hielten viele linke Organisationen die Theorie aufrecht, dass die formale Demokratie in Lateinamerika nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung sei, ein taktisches Zugeständnis im Dienste der Strategie, die im sozialistischen Gedankengut vorgesehene egalitäre und freiheitliche Gesellschaft zu erreichen. Leider endete die Mehrheit demokratischer Übergangs- und Konsolidierungserfahrungen damit, keinen Weg zu dieser substantiellen Demokratie gefunden zu haben. Zwar wurde die politische Demokratie zu einer allgemeinen Regierungsform in Lateinamerika, doch bis heute bleiben breite Bevölkerungsschichten in jeder dieser Gesellschaften sozial ausgeschlossen. Dies ist ein bedeutendes Hindernis, die Bürgerrechte vollständig ausüben zu können.
 
Die Verfolgung der substantiellen Demokratie verbindet sich in der gegenwärtigen Diskussion mit der historischen Suche der lateinamerikanischen Linken nach Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit für die Ärmsten und Marginalisiertesten des Subkontinentes. Demokratie und gesellschaftliche Gleichheit sind heute in der Region vorrangige Schwerpunkte eines jeden politischen Alternativprojektes. Dazu gesellen sich Widerstand und Kampf gegen den Neoliberalismus, getragen von unterschiedlichen sozialen Bewegungen auf globaler, nationaler oder lokaler Ebene sowie die Suche von Bewegungen, Organisationen und Regierungen nach Alternativen zum Neoliberalismus und in jüngerer Zeit zum Kapitalismus. Seit der sogenannten "Schlacht von Seattle"  1999, als die weltweite Bewegungen gegen den Neoliberalismus sich erstmals sichtbar machte, entstand ein breit gefächertes und buntes Bündel von Organisationen, die wenig später den als Weltsozialforum bekannten Treffpunkt und Artikulationsraum eröffneten, um die Kräfte für den weltweiten gesellschaftlichen Wandel zu einen. Diese Veränderung hat sowohl den Sinn einer demokratischen Vertiefung der sozialen Beziehungen als auch des Aufbaus einer humaneren Gesellschaft, die Unterschieden gegenüber tolerant sowie gerecht und respektvoll gegenüber den Ökosystemen des Planeten ist.

    In diesem Rahmen teilen die Chávez-Regierung und das Kräftebündnis, das ihr als politischer Rückhalt dient, diese Paradigmen. Die Parteien bringen, unabhängig von ihrer organisatorischen Festigkeit und/oder ideologischer Ursprünge (die MVR kann nicht als eine Partei marxistischen Ursprungs angesehen werden) ihre Nähe zur Bevölkerung und ihre Suche nach einer substantiellen Demokratie zum Ausdruck (vgl. López Maya, 2005). Das Prinzip der substantiellen Demokratie wurde in Venezuela durch die Idee konkretisiert, einer direkten Demokratie näher zu kommen, die in der Lage sein sollte, die offenbar nicht zu behebenden Hindernisse der seit 1958 entwickelten repräsentativen Demokratie zu überwinden. Seit den achtziger Jahren, multiplizierten sich unterschiedliche soziale und Protestbewegungen in Venezuela, die eine "Reform" des Staates verlangten, um eine "tiefer greifende", eine "integralere" Demokratie zu erreichen. Dieses Anliegen wurde ein um das andere Mal von den verschiedenen Parteien zunichte gemacht, die über Wahlen an die Regierung kamen: von Präsident Jaime Lusinchi (1984-1989) mit seiner gescheiterten Staatsreform, über Carlos Andrés Pérez (1989-1993) und seine neoliberalen Reformen (vgl. Gómez Calcaño und López Maya, 1990 und López Maya und Lander, 1999), bis zu Rafael Caldera (1994-1999) mit seiner aufgeschobenen Verfassungsreform. Nur die "bolivarischen" Parteien, die in der als Politischer Pol (Polo Patriótico) bekannten politischen Plattform zusammen geschlossen sind und die Präsidentschaftskandidatur von Chávez unterstützen, sollten das im Wahlkampf 1998 gemachte Versprechen einlösen. 1999 an die Regierung gekommen, riefen sie zu einem Verfassungsprozess auf, innerhalb dessen die neue Verfassung ausgearbeitet wurde, die das innige Anliegen konkretisiert. In der Präambel der neuen Verfassung heißt es, dass die Republik sich "neu gründet" um "eine demokratischere Gesellschaft" zu etablieren. "Es ist nicht mehr nur der Staat, der demokratisch sein muss, sondern auch die Gesellschaft”.

Kapitel IV der Carta Magna verankert das Recht auf Bürgerbeteiligung in “direkter, halb direkter und indirekter" Form nicht nur im Wahlprozess, sondern auch bei der "Herausbildung, Ausführung und Kontrolle der öffentlichen Aufgaben". Die andere konzeptionelle Ausrichtung im Vergleich mit der Verfassung von 1961 ist sehr deutlich, denn wenn auch die dort nieder geschriebenen Formen der repräsentativen Demokratie bei behalten werden, so ist jetzt die "Beteiligung" auf allen Ebenen des Staates die entscheidende erziehende Praxis, um die in der Gesellschaft bestehenden zutiefst ungleichen Machtbeziehungen zu transformieren (Artikel 62). Die Leitlinien des Wirtschafts- und Sozialplans 2001-2007 (2001), der für die gegenwärtige Verfassungsperiode zum Nationalplan wird, gehen davon aus, dass die Partizipation eigenständige Entwickung fördert, Mitverantwortung einprägt und den "Protagonismus" der Bürger an treibt. Dies wären die Stützen, von denen aus die strukturelle Krise der venezolanischen Gesellschaft überwunden werden könnte und von denen aus eine egalitäre, solidarische und demokratische Gesellschaft entstehen muss.

Das Entwicklungsmodell: Vorschläge und Praktiken gegen den Neoliberalismus

Zwar gibt es aus den neunziger Jahren verschiedene Dokumente von MBR 200, La Causa R, der PPT oder der MVR, die als Vorgeschichte und Referenzpunkte des gegenwärtig im venzolanischen Staat hegemonialen bolivarischen Projektes dienen könnten. Den ausgearbeitesten Text über die konzeptionelle Ausrichtung der substantiellen Demokratie stellt jedoch die Verfassung von 1999 dar. Durch ihren Inhalt und das Vorgehen bei ihrer Erarbeitung und Verabschiedung zeigte sich trotz damals zu Tage getretener Schwächen und Eile der politische Wille derjenigen, die an die Regierung kamen, einen radikalen Wandel zu beginnen, um zu einer substantiellen Demokratie zu gelangen. Damit belegten sie ebenfalls ihren Willen, sich von den vorherrschenden neoliberalen Schemata auf dem Kontinent zu distanzieren.

Wie Experten in der Materie dargelegt haben (vgl. Viciano Pastor und Martínez Dalmau, 2001), ist die Verfassung von 1999 stark vor ihrem Vormodell, der Verfassung von 1961, beeinflusst. In diesem Sinn bekräftigt sie einige Grundinhalte dieses Vormodells, die gegen die neoliberalen Doktrinen gerichtet sind: Zu den herausragendsten gehören die zentrale Bedeutung des Staates sowie seine Regulierungs- und Interventionsfähigkeit in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, vor allem in der Wirtschaft; die Universalität der sozialen Rechte und die Verpflichtung des Staates, sie zu bewahren; das staatliche Eigentum an den Erdölvorkommen. Sie führt auch Neues ein, wie all das, was mit dem demokratischen Prinzip als bereits erwähnter vorrangiger Aufgabe bei Herausbildung und Arbeit der öffentlichen Gewalten verbunden ist. Sie legt die Merkmale für die Entwicklung der neuen "partizipativen und protagonistischen" Demokratie fest.

Bezüglich der politischen Bedingungen führte die Verfassung mehrere Instrumente direkter Bürgerbeteiligung bei staatlichen Entscheidungen auf den drei Ebenen - lokal, regional und national - ein. Damit stützt sich das politische Modell auf die Öffnung von staatlichen Räumen für die Bürger. Zu den neuen Instrumenten gehören die verschiedenen Formen des Referendums (zustimmend, beratend, wiederrufend und abschaffend), die Gesetzes-, Verfassungs- und verfassungsbildende Initiative, öffentliche Sitzungen und die Bürgervesammlungen (Artikel 70). Die Anwendung des Zustimmungsreferendums für die Verfassung von 1999 und des Referendums über die Abberufung des Präsidenten in 2004 sind konkrete Beispiele dafür, wie dieses neue Recht der direkten Partizipation ausgeübt worden ist und sich entwickelt hat.

Im sozialen und wirtschaftlichen Bereich akzeptiert und fördert die Verfassung von 1999 nicht nur das individuelle Privateigentum, sondern verschiedene andere Eigentumsformen wie das Gemeinschafts- und Kollektiveigentum. Einrichtungen wie Mitbestimmung, Selbstbestimmung, Genossenschaften und jegliche Organisationsformen, die sich an den Werten gegenseitiger Zusammenarbeit und Solidarität ausrichten, sind verankert. Diese Bestimmungen finden ihre Konkretisierung in verschiedenen Rechtsinstrumenten und öffentlichen Politiken. So im Gesetz über die Lokalräte für die Öffentliche Planung (2002), das diese Räte als gemeinsames Planungsorgan der organisierten, lokalen Gesellschaft und der öffentlichen Verwaltung vor Ort schafft (Provea, 2004). Ebenso in den durch das Gesetz über Land und landwirtschaftliche Entwicklung (2001) angestoßenen Landkomitees (CTR), ein Instrument für die Organisation und Mobilisierung der Bevölkerung bezüglich des Besitzrechtes an ländlichem Boden. Auch in den Komitees für städtisches Land (CTU), die mit dem Dekret 1.666 vom Februar 2002 geschaffen wurden, damit die unteren Volksschichten Eigentumsrechte über ihre Häuser wahrnehmen können. Schließlich in den sogenannten "Waserfachgruppen" (MTA) und den "gemeindlichen Wasserräten", mittels deren Hilfe die öffentlichen Wasserunternehmen Organisationsprozesse in den Gemeinden mit dem Ziel fördern, dass die Gemeinden diese öffentlichen Unternehmen betreiben können (Arconada, 2005). Andererseits haben im Zuge der durch erhaltene staatliche Anreize - z.B. Zugang zu Kleinkrediten im Rahmen des von der Regierung aufgelegten Programmes zur Mikro-Finanzierung - Genossenschaften verschiedener Art sehr stark zugenommen (vgl. Provea, 2004). Dies auch dank der Politik des öffentlichen Beschaffungswesen mit "Geschäftsrunden", in denen öffentliche Institutionen und Unternehmen wie die Ölgesellschaft Pdvsa und verschiedene Ministerien Einkaufslisten zur Ausschreibung stellen und dabei Genossenschaften sowie der kleinen und mittelständischen nationalen Industrie den Vorzug geben.

Innerhalb des Sonderbereiches Sozialpolitik der bolivarischen Regierung, konzeptionell an den bereits erwähnten Leitlinien des Wirtschafts- und Sozialplans der Nation 2001-2007 ausgerichtet, erzielen die auf das Recht auf Bildung und Gesundheit zielenden Sozialpolitiken große Wirkung. So die Gründung "bolivarischer" Schulen, die ab 1999 eingerichtet werden, und die Etablierung der Bildungsmissionen Robinson I und II, Ribas und Sucre. Mit dieser Politik soll der Analphabetismus ausgelöscht und das Recht auf Bildungszugang auf allen Niveaus für alle Venezolaner garantiert werden. Es handelt sich um Schlüsselinstrumente, um eine partizipative Demokratie zu festigen, denn mit ihnen wird beabsichtigt, die Grundlagen für eine vollständige Bürgerschaft der gesamten Bevölkerung zu legen. Die Programme sollen den Ansatz des "individualistischen" Bürgers überwinden und die Werte der Solidarität und der sozialen Sensibilität einprägen. Bisher haben sich nach offiziellen Zahlen 3750 bolivarische Schulen gegründet, die nicht nur das Recht auf Bildung, sondern auch das Recht auf Ernährung sicher stellen (Istúriz, 2005). In diesen Schulen erhalten mehr als eine Million armer Kinder neben Uniform, Schulbüchern und Heften kostenlos zwei komplette Essen und zwei Imbisse. Im vergangenen Jahr machte der Bildungsetat 20 Prozent des gesamten Landeshaushaltes aus. Dieses Jahr wird Venezuela als vom Analphabetismus befreit erklärt werden. Eine Situation, die im Kontrast zu unserer unmittelbaren Vergangenheit und der Gegenwart vieler Länder der Region steht.

Die Stadtviertelmission (Misión Barrio Adentro) ist vielleicht das Sozialprogramm, das die größte Aufmerksamkeit der internationalen Presse erregt  und die größte politische Wirkung erzielt hat. Es wurde von der Regierung nach dem Ölstreik 2002-2003 eingeführt, als Antwort an die Bevölkerung von einer dankbaren Regierung, die diese verheerende Konfrontation aufgrund einer beispiellosen Unterstützung durch die unteren Volksschichten überlebte. Die Mission hat in die ärmeren Viertel der venezolanischen Städte Ärzte gebracht, die 24 Stunden am Tag Vorsorgemedizin leisten. Dank eines Abkommens mit der kubanischen Regierung sind bis heute etwa 20 000 Ärzte aus diesem Land nach Venezuela gekommen. Die venezolanischen Ärzte haben nach anfänglicher Ablehnung, Blockade und Angst angesichts der Vorzüge nachgegeben und in den zurück liegenden Monaten hat die Regierung Kurse eröffnet, um die venezolanischen Ärzte in dieser Familien- und Sozialmedizin auszubilden (Radioprogramm Aló Presidente in Radio Nacional de Venezuela, aus dem Internet herunter geladen, Juli 2004). Gegenwärtig haben sich etwa 1500 venezolanische Ärzte und etwa 2000 Krankenschwestern in die Mission eingegliedert. Ab 2004 begann der Bau sechseckiger Gebäude, die dem Arzt als Praxis in den ärmeren Vierteln dienen und in den vergangenen Monaten wurde die Mission Barrio Adentro II gestartet, mit der in den dicht besiedelten Armenvierteln der Stadt Volkskliniken eingerichtet werden sollen. Diese Politik hat im Gegensatz beispielsweise zur Bildungspolitik keine Vorläufer in Venezuela.
Diese und andere Sozialpolitiken belegen die fortdauernde Verpflichtung, die die Chávez-Regierung gegenüber dem Projekt der partizipativen Demokratie eingegangen ist.  Alle Politiken verlangen die Mobilisierung und Organisation der Bevölkerung, damit die bisher verweigerten Rechte zugänglich werden. Diese Sozialpolitiken haben sich, vor allem in den vergangenen zwei Jahren, konstant entwickelt. Erleichtert wurde das durch die politische Stärke der Regierung nach dem Präsidentenreferendum in 2004, das Präsident Chávez im Amt bestätigte, um sein Mandat zu beenden und auch dank der beträchtlichen Steuereinnahmen, die dem Staat aufgrund des Ölpreisanstieges auf dem internationalen Markt zuflossen. Infolge dieser Politiken ist es zu einer Wachstumsdynamik und Bevölkerungsmobilisierung in der venezolanischen Gesellschaft gekommen. Die CTU, MTA, CTR, die Gesundheitskomitees, gemeinschaftliche Wohnungsbau-Organisationen, lokale Planungsräte, die bolivarischen Kreise, sind einige der zahlreichen Volksorganisationen, die sich aufgrund der Hoffnung, einbezogen zu werden und nach dem staatlichen Anstoß, multiplizieren.

Einige dieser Politiken haben große Konflike ausgelöst. So das Gesetz über Böden und Landwirtschaftliche Entwicklung, das bei seiner Umsetzung die Grundbesitzer empörte und zu den Protesten führte, die im Staatsstreich von 2002 mündeten. Sind sie auch nur halbwegs erfolgreich, dann werden diese Politiken eine Demokratisierung des Zugangs unter anderem zu Rechten wie ländliches und städtisches Eigentum, Bildung, Gesundheit, Ernährung, Wohnung und Arbeit erlauben. Rechte, die entscheidende Faktoren für die volle Bürgerschaft von Millionen Venezolaner sind, die bisher von ihnen ausgeschlossen wurden. Die staatliche Unterstützung verschiedener Varianten der Sozialökonomie, darunter die Genossenschaften, die endogenen Entwicklungspole, die über die Mission Mercal gegründeten Verteilsysteme für Lebensmittel mit subventionierten Preisen und außerhalb der privaten Monopole, entkräften die von der Opposition vor gebrachten Anschuldigungen bezüglich einer demagogischen und autoritären Regierung, die sich einfach nur an der Macht verewigen will.

Schlussbemerkungen

Die partizipative Demokratie ist dennoch ein utopischer Horizont, mit zu überwindenden Hindernissen und Herausforderungen auf dem Weg. Als Erdölland kam Venezuela in den zurück liegenden Jahren in den Genuss bedeutender Haushaltsmittel. Die Regierung konnte außerordentliche Einnahmen verzeichnen, mit denen sie die Programme finanzierte. Aber es bleiben viele Sorgen bezüglich der Institutionalisierungsgrade dieser verschiedenen Programme und der Sicherheit ihrer stabilen Finanzierung, wenn die Jahre des Ölbooms einmal vorbei sind. Wir Venezolaner kennen die Jahre des Überflusses und der Großzügigkeit des Ölstaates und wir kennen die Rückschritte, die es bei fallenden Preisen gibt. Andererseits besteht Angst vor der Kooption der Volksorganisationen oder dem Verlust ihrer Autonomie angesichts der staatlichen Bürokratie, deren paternalistischer Kultur und ihrer ausgiebigen Ressourcen. Klagen über Ineffizienz und Korruption sind verbreitet und bleiben ohne befriedigende Antworten der Regierungsseite. Die Qualität der politischen Organisationen und ihrer Führer, ihre Berufung, die partizipative Demokratie zu vertiefen, ist ein weiterer Anlass zur Sorge. Die Überwindung dieser Hindernisse wird den Unterschied ausmachen zwischen einer populistischen Regierung mehr oder einer, die die Demokratie vertieft.

September 2005