Beitrag für den Internationalen Workshop "100 Jahre Friedensnobelpreis für Bertha von Suttner – 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005", Prag 8./9. September 2005
Vor 100 Jahren: Nobels Friedenspreis für Bertha von Suttner
Im Herbst 1875 reiste eine junge Frau von Wien nach Paris, um sich als „sprachenkundige Sekretärin“ zu verdingen. Sie folgte der Zeitungsannonce eines „älteren Herrn“, der ihr nach wenigen Tagen anvertraute, eine ungeheure Absicht zu hegen: „Ich möchte einen Stoff, eine Maschine schaffen, von so fürchterlicher massenhaft verheerender Wirkung, dass dadurch Kriege unmöglich würden!“
Schrecklicher war die Idee des Weltfriedens zuvor nie gedacht worden. Hier keimte das Projekt, den Krieg durch die ihm eigene zerstörerische Logik, die bewusste Überspannung seiner Vernichtungsgewalt ad absurdum zu führen. Es war ein Plan, der sowohl von einem hochstrebenden „Doktor Faust“ als auch von einem höllischen „Mephistopheles“ verfolgt sein konnte. „An dem Tag, da zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde werden vernichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurückschaudern und ihre Truppen verabschieden.“ Dieser Welt-Friedens-Täter, der den schlechthin verheerenden Bannstrahl erzeugen wollte, um die Staaten zum Frieden zu zwingen, war Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits. Die junge Frau: Gräfin Kinsky, alias Bertha von Suttner.
I.
Seit dem Anfang des Krimkriegs hatten fünf militärische Regionalkonflikte mit schweren Blutopfern das Staatensystem Europas erschüttert: 1853/56, 1859, 1864, 1866, 1870/71. Ganz zu schweigen von den britischen und französischen Kolonialkriegen in Asien und Afrika, überdies dem höchst verlustreichen Sezessionskrieg in den USA, wodurch auch andere Erdteile mit ihren Bevölkerungen heimgesucht wurden.
Der deutsch-französische Krieg, bei dem auf beiden Frontseiten mit Dynamit gekämpft wurde, gebar 1871 sogar eine besondere Zäsur der staatspolitischen Verwicklungen: Denn Bismarcks provokatorische Reichsgründung im Spiegelsaal zu Versailles und der darauf folgende Raubfrieden überspitzten den deutschen Triumph gegen die französische Nation. Sie beschworen den gärenden Antagonismus zwischen Frankreich und Deutschland und mit ihm den Krieg aller bisherigen Kriege herauf – das Menetekel eines europäischen Gesamtkonflikts, der (wie wir Heutigen wissen) am Ende zum Weltkrieg entartete.
Mit wachsender Sorge beobachteten Zeitgenossen, wie infolge des Siegeszuges der Industriellen Revolution auch eine verhängnisvolle, noch heute andauernde Entwicklung begonnen hatte: die permanente Revolution der Waffentechnik und das darauf sich gründende Wettrüsten aller Großmächte. Der Rüstungswettlauf trieb riesige Armeen hervor, bestückt mit präzis funktionierenden Infanteriewaffen und weitreichender Artillerie, Magazingewehren und Sprenggranaten, Festungssystemen und Panzerschiffen. Und schon wurde diese Rivalität beschleunigt von Erfindern, Industriellen, Militärtechnikern, die mit Torpedos gerüstete Unterwasserboote und Bomben werfende Flugmaschinen projektierten. Viele Jahrzehnte nach den Napoleonischen Kriegen war die fatale Alternativfrage „Krieg oder Frieden?“ zum dauernden Alpdruck all derer geworden, die eine bürgerliche Gesellschaft der Gerechtigkeit, der Solidarität, des Völkerfriedens herbeisehnten.
II.
1889 feierte die französische Bourgeoisie den 100. Jahrestag ihrer Machtergreifung – der Großen Revolution – mit der Pariser Weltausstellung und der Errichtung des für lange Zeit höchsten Bauwerks der Erde. Im Schatten des Eiffelturms demonstrierten auch andere Nationen ihre neuesten Errungenschaften der Baukunst und Fabrikproduktion, des Verkehrs- und Nachrichtenwesens, der Wissenschaften und Technologie. Aber die Atmosphäre war trügerisch. Hinter den Festreden, Preisverleihungen und Champagnergüssen der betuchten Männer des Kapitals lauerten die feindlichen Konkurrenzen, die alten und immer noch aktuellen Konflikte. In die vordergründige Hochstimmung mischten sich unliebsame Warnungen. Der Eiffelturm zu Paris könnte ein zweiter Turmbau zu Babel sein.
Am Rand der Festivitäten versammelten sich derart sensibilisierte Rüstungs- und Kriegsgegner zum ersten Weltfriedenskongress: Einzelkämpfer und Abgesandte von Zirkeln, Vereinen, Friedensgesellschaften, die ihre verstreuten Rinnsale in Europa und Nordamerika in einem breiten Strombett vereinigen wollten. Drei Wochen vor dem Gründungskongress der II. Arbeiter-Internationale konstituierte sich somit die moderne bürgerliche Friedensbewegung. Ihre einzige Forderung hieß: Vermeidung von Kriegen durch interstaatliche Schiedsverträge, so dass Konflikte zwischen den Staaten durch völkerrechtliche Schlichtung befriedet würden. Logische Folge sollte ein Einhalt der Rüstungen, wenn nicht sogar Abrüstung sein. Für die Propagierung der Zentralidee wurden organisatorische Maßnahmen beschlossen: Gründung nationaler Friedensgesellschaften, Aufbau eines internationalen Koordinierungsbüros, Veranstaltung periodischer Kongresse und Verbreitung wirksamer Friedensschriften. Diese neuartige Antikriegs- und Kongressbewegung wurde von einer Interparlamentarischen Konferenz begleitet, an der Parlamentarier aus 10 verschiedenen Ländern teilnahmen.
Es waren die menschen- und völkerrechtlichen Ideale des Jahres 1789, die von den Friedensfreunden zum Maßstab internationaler Politik erhoben wurden: „Die Brüderlichkeit zwischen den Menschen bedingt die Brüderlichkeit zwischen den Völkern.“ Gemäß dieser ethischen Prämisse erstrebte der Pazifismus eine den Frieden sichernde Rechtsordnung aller Staaten und Völker.
III.
In die Geburtsstunde der modernen Friedensbewegung, die wirksamer Mittel bedurfte, um den Un-Geist des Militarismus und der Kriegsbereitschaft zu bekämpfen, trat unverhofft eine nahezu Unbekannte. Bertha von Suttner veröffentlichte genau im Jubiläumsjahr 1889 ein Buch, dessen Titel dem Pazifismus mit nur drei Worten den kürzesten und eindringlichsten Streitruf verlieh: „Die Waffen nieder!“
Man bedenke: die Dinge dieses Jahrhunderts, ob gut oder schlecht, wurden von Männern gemacht. „Männer machen Geschichte!“ Jetzt aber wagte eine Frau den geistigen Aufstand gegen die ureigenste Sache der Männlichkeit, das militärische Staatsdenken rivalisierender Großmächte. Ihr galt der Krieg nicht als „wichtigster Faktor der Kulturentwicklung“, nicht als „Erwecker der schönsten menschlichen Tugenden“, nicht als „Vater aller Dinge“. Was die öffentliche Meinung als geheiligte Institution behandelte, was die Regierungen gegen pazifistische „Vaterlandsverräter“ unter Staatsschutz stellten, was die Kirchen mit Gebet und Glockenklang absegneten – eben das entlarvte diese Frau als Völkermord, „von Staats wegen“ erlaubtes und begangenes Verbrechen. Hier verblasste die Glorie der Heerführer und Schlachtengewinner, die rühmliche Erinnerung an Alexander, Cäsar und Napoleon, die Hochschätzung ihrer beflissenen Epigonen. Mit allen Mitteln der rationalen Argumentation und der emotionalen Aufwiegelung appellierte diese Frau an die Zeitgenossen: ihre Regierungen und Parlamente in die Pflicht zu nehmen und des Volkes Willen zur Geltung zu bringen. „Das Volk will die produktive Arbeit, will die Entlastung, will den Frieden!“ heißt es im Epilog.
Hier war Schreiben eine Tat. Was diese jedoch von den Agitationen des Pazifismus unterschied: Suttner hatte kein Pamphlet, kein Sachbuch, sondern einen Roman geschrieben. Fiktive „Lebensgeschichte“ ebenfalls einer Frau, die die meisten der genannten Militärkonflikte erfahren und erleiden musste: die vier Kriege von 1859, 1864, 1866 und 1870/71. Niemals zuvor war der Militarismus in Zentraleuropa mit den Mitteln der Kunst so scharf angegriffen worden. Über alle Widerstände hinweg wurde diese Literatur zum Bestseller der Epoche, zum Epochenbuch.
IV.
Bertha von Suttner huldigte dem Fortschrittsglauben der Aufklärung: die Menschheitsgeschichte – eine aufsteigende Kulturentwicklung, beruhend auf den Entdeckungen der Wissenschaften und deren Nutzanwendung. Sie sah eine Ratio in der Geschichte: die Vernunft der Humanität, die sich durch Gedanke und Tat bedeutender Menschen gegen alle Hindernisse durchsetzen würde.
Jedoch dieser Fortschrittsglaube wurde verdüstert durch schlimme Erfahrungen und Einsichten. Sie erkannte, dass „alle Errungenschaften des neuen Geistes“ von Barbaren der modernen Gesellschaft ausgenutzt, „alle Fortschritte der Technik sogleich für Mord- und Vertilgungszwecke“ missbraucht wurden. Im Klima der Staatsrivalitäten, der Wehrhaftmachung und Verhetzung der Völker sah sie ein Militärwesen und eine Waffentechnik wuchern, die bereits alles Bisherige übertrafen – bald aber mit geradezu sinnwidriger Zerstörungskraft gegen die Menschheit entfesselt würden. Es waren nicht mehr nur regionale Kriege – es war ein Krieg des ganzen Kontinents, der am politischen Horizont heraufdrohte. Suttner beschrieb ihn in warnenden Visionen. Dies werde der „große“, der „letzte Krieg des zivilisierten Europa“ sein. Käme er aber um Jahre später, so werde der Missbrauch von Wissenschaft und Technik zu noch viel schlimmeren, nämlich totalen Vernichtungsmitteln führen. Es war Nobels Primärwissen und unheilvolle Prognose, woraus diese Aufklärerin eine Folgerung zog, die uns noch heute bewegt: „Jener Punkt, wo alles, was ist, aufhören muss – der Punkt der Unerträglichkeit – , von dem war die Waffenbelastung der Welt nicht mehr fern. Aller Reichtum, alle Volkskraft, alles Leben nur auf Ein Ziel – Vernichtung – hingelenkt: ein solches System muss endlich die Menschheit vernichten.“
Infolge dieser Erkenntnis, der Wirksamkeit ihres Buches und weiterer Schriften integrierte sich Bertha von Suttner selbst in die Praxis der Friedensbewegung. Sie gründete Friedensgesellschaften in Österreich, Deutschland und Ungarn. Sie wurde auf einem der Friedenskongresse gewählt als Vizepräsidentin des Internationalen Friedensbüros, das in Bern die Aktivitäten vieler nationaler Organisationen abstimmte. Von ihrer Arbeit sagte sie selbst: Ein in Waffen starrender Frieden sei keine Wohltat – statt dessen wolle sie für Vereinigungen wirken, „deren Zweck es ist, [...] durch den gebieterischen Druck des Volkswillens die Regierungen zu bewegen, ihre Streitigkeiten einem [...] internationalen Schiedsgericht zu übermitteln und so ein für allemal an Stelle der rohen Gewalt das Recht zu setzen.“
Das war eine Alternative zu Nobels Idee der gewaltsam massiven Abschreckung: Statt Frieden durch die Drohung einer absolut vernichtenden Superwaffe – Frieden durch Recht!
V.
Suttners Friedensarbeit traf den Zentralnerv der rüstenden Staaten und ihrer nationalistischen Ideologien, besonders in Deutschland und Österreich. „Friedensbestie“ und später auch „Rote Bertha“, hieß die Verteufelung, womit Politiker, Militärs, sogar Literaten reagierten. Unter den Zurufen aber, die der Friedensstreiterin dankten und sie ermutigten: Nobel! In jeder Sprache der Welt müsse ihr Buch „Die Waffen nieder!“ gelesen werden. Er wünschte, dass „der Charme ihres Stils und die Größe ihrer Ideen viel weiter führen werden als alle Werkzeuge der Hölle“.
Dennoch blieb der Erfinder und Großunternehmer des Dynamits zeitlebens ein Zweifler – oder richtiger: ein engagierter Skeptiker. Er sah die Ideen des Schiedsgerichts und der Abrüstung „nur langsam vorankommen“. „Meine Fabriken werden vielleicht dem Krieg noch früher ein Ende bereiten als Ihre Kongresse.“ Aber er spendete hinfort bedeutende Geldsummen für die Friedensarbeit. Am 6. Januar 1893 lautet sein Neujahrsgruß aus Paris: „Liebe Freundin! Ein gutes Jahr für Sie und ihre edelmütige Kampagne, die Sie so nachdrücklich gegen die Unwissenheit und Dummheit führen [...].“ Er machte den Vorschlag eines kollektiven Sicherheitssystems: „Man kann und man sollte bald zu dem Ergebnis kommen, dass sich alle Staaten solidarisch verpflichten, jenen anzugreifen, der andere als erster angreifen wird. Das hieße, den Krieg unmöglich machen und selbst die brutalste und unvernünftigste Gewalt zwingen, zu einem Schiedsspruch Zuflucht zu nehmen oder ruhig zu bleiben.“
Nobel hatte also der Abschreckung durch Waffen nicht abgeschworen. Und doch trug er sich jetzt mit dem Gedanken, einen Friedenspreis zu stiften. An die Erwägung, den Preis „alle fünf Jahre“ und im ganzen nur etwa „sechsmal“ zu verteilen, knüpfte er eine sehr zweifelnde Vorausschau in das 20. Jahrhundert: „Wenn es in dreißig Jahren nicht gelungen ist, das gegenwärtige System zu reformieren, wird man notgedrungen in die Barbarei zurückfallen.“
VI.
Neun Jahre nach Nobels Tod wurde Suttner von seinem Vermächtnis eingeholt: als Trägerin des Friedenspreises. Vor dem Storthing in Christiania (heute Oslo) vertrat sie in ihrem Vortrag die inzwischen erweiterten Programmpunkte des zeitgenössischen Pazifismus. „1. Schiedsgerichtsverträge“. „2. Eine Friedensunion“ möglichst aller Staaten, die jeden Angriff eines Staats gegen einen anderen mit gemeinsamer Kraft zurückweisen sollten (Nobels Idee). „3. Eine Internationale Institution“ zur Wahrung des Rechts zwischen den Völkern und Abschaffung der Notwendigkeit, Krieg in Anspruch zu nehmen (Beispiel im verkleinerten Maßstab: die Vereinigten Staaten von Nordamerika). Dieses Denken war perspektivisch auf Völkerbund oder Vereinte Nationen gerichtet. Noch immer erhoffte die Preisträgerin eine “Ära des gesicherten Rechtsfriedens, in der die Zivilisation zu ungeahnter Blüte sich entfalten“ werde. Jedoch der kritische Blick, mit dem Suttner die Ideale am Weltzustand messen musste, bilanzierte ganz anderes als Frieden: Da war die Menschenschlächterei des russisch-japanischen Kriegs und in dessen Folge die russische Revolution von 1905. In Mittel- und Westeuropa gewahrte sie Säbelgerassel, Pressehetze, Rüstungen. Auf der ganzen Erde wusste sie von Bränden, Raub, Bomben, Hinrichtungen, Massaker – „einer Orgie des Dämons Gewalt“. Ihr Urteil über die moderne Staatenwelt war vernichtend: „Auf Verleugnung der Friedensmöglichkeit, auf Geringschätzung des Lebens, auf den Zwang zum Töten ist bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung aufgebaut!“ Diese Nobelpreisrede spiegelt den Vorabend der Katastrophe, die einen Namen hat: Erster Weltkrieg – mit Maschinenwaffen und Kampfgas, Luftkampf und U-Boot-Krieg, nie gekannten Verheerungen unter Menschen und ihrer Kultur. Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts! Folglich endeten Leben und Werk Bertha von Suttners tragisch. Dennoch: ihre Friedensarbeit ist und bleibt ein historisch verpflichtendes Erbe für uns.