Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung - Westeuropa Das Eurosystem: Eine paradigmenorientierte Darstellung und kritische Würdigung der europäischen Geldpolitik

Auftragsstudie der GUE/NGL-Fraktion des Europäischen Parlaments. von Michael Heine und Hansjörg Herr Manuskripte 13 der RLS

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Reihe

Manuskripte

Autor*innen

Hansjörg Herr, Michael Heine,

Erschienen

Februar 2001

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Nur online verfügbar

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Auftragsstudie der GUE/NGL-Fraktion des Europäischen Parlaments. von Michael Heine und Hansjörg Herr

Manuskripte 13 der RLS

Inhalt

1 Einleitung

2 Ausgewählte Aspekte einer monetären Theorie der Produktion

2.1 Die ökonomische Bedeutung des Geldes und von Preisniveaustabilität in marktverfassten Ökonomien

2.2 Ursachen von Preisniveauänderungen in unterschiedlichen Paradigmen

3 Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB)

3.1 Der organisatorische Rahmen des Eurosystems 27

3.2 Aufgaben, Rechte und geldpolitische Ziele der Europäischen Zentralbank

3.3 Unabhängigkeit des Europäischen Systems der Zentralbanken

3.4 Geldpolitische Instrumente der Europäischen Zentralbank

4 Kritische Würdigung ausgewählter Bereiche der EZB-Politik

4.1 Das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank

4.2 Die beiden Säulen der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank

4.3 Die internationale Ausrichtung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank

4.4 Institutionelle Schwächen der Europäischen Zentralbank

4.4.1 Transparenz, Offenheit und Rechenschaftspflicht

4.4.2 Die Rolle der EZB als Lender of Last Resort

5 Grenzen der Geldpolitik und Notwendigkeit weiterer Integrationsschritte

5.1 Europa als unfertiges Haus

5.2 Fiskalpolitische Probleme

5.3 Lohnpolitische Probleme

Literaturliste

Einleitung

Der Streit um den Geldbegriff zählt nicht

gerade zu den erfreulichen Abschnitten

der Geschichte unserer Wissenschaft.

(L. von Mises)

Mit dem Beginn des Jahres 1999 wurde geldpolitisch eine neue Ära eingeleitet: Seither haben 11 Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) – Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien – faktisch den Euro als gemeinsame Währung eingeführt. Griechenland trat am 1.1.2001 der Europäischen Währungsunion (EWU) bei. Zwar wird der Euro bis Ende 2001 nur im Rahmen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs genutzt und erst in der ersten Hälfte des Jahres 2002 als Bargeld eingeführt, gleichwohl wird seit 1999 vom sogenannten Eurosystem, also von den Zentralbanken der beteiligten Länder und der Europäischen Zentralbank (EZB) eine einheitliche und gemeinsame Geldpolitik betrieben. Damit kam es zu einer unwiderruflichen Fixierung der Wechselkurse und einer Verlagerung der geldpolitischen Kompetenz auf die EZB, so dass die beteiligten Volkswirtschaften ohne Wenn und Aber miteinander verbunden wurden. In ökonomischer Hinsicht ist Euroland seitdem eine Binnenökonomie. Die noch existierenden nationalen Gelder sind somit lediglich die in Kürze verschwindenden unterschiedlichen Etiketten des Euro.

Mit der Einführung des Euro wurden währungspolitische Diskussionen und Projekte beendet, die bereits Anfang der sechziger Jahre begannen und letztlich darauf abzielten, eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen. So kam es Anfang der siebziger Jahre zum sogenannten Werner-Plan, der die Schaffung einer solchen Union für sechs europäische Staaten bereits für die achtziger Jahre vorsah. Allerdings scheiterte die Realisierung dieses Plans an den unterschiedlichen geld- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen der potenziellen Teilnehmerländer und an den Illusionen jener Zeit, man könne auf der Basis flexibler Wechselkurse eine von internationalen Wechselkurszwängen abgeschottete nationale Geld,- Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik betreiben.

Dafür einigte man sich Ende der siebziger Jahre auf ein gemeinsames Europäisches Währungssystem (EWS), an dem zunächst acht und später sogar zwölf europäische Staaten teilnahmen.

Ziel war es, ein Wechselkurssystem zu schaffen, in dem die Wechselkurse der Währungen der beteiligten Länder möglichst nur innerhalb eng festgelegter Bandbreiten von ± 2,25 Prozent schwanken sollten. Damit wollte man die ökonomischen Unsicherheiten, die aus den Währungsturbulenzen seit dem Ende des  Bretton-Woods-Systems resultierten, zumindest regional begrenzen. Faktisch scheiterte auch dieser Versuch einer gemeinsamen Geld- und Währungspolitik in der Krise 1992/93, als mehrere Länder aus dem System ausstiegen und schließlich Bandbreiten von ± 15 Prozent vereinbart werden mussten. Gleichwohl kann das EWS faktisch als ”Trittbrett” für die Einführung des Euro angesehen werden.

Neue Impulse erhielt die Idee einer Wirtschafts- und Währungsunion durch die Einheitliche Europäische Akte, die am 1. Juli 1987 in Kraft trat. Sie führte – auf der Grundlage des Delors-Berichts – schließlich zum Vertrag über die Europäische Union, der im Dezember 1991 in Maastricht vom Europäischen Rat gebilligt wurde. Damit war der Weg frei für die schrittweise Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, einschließlich einer gemeinsamen Währung.

Die Bewertungen der Einführung des Euro und einer damit einhergehenden einheitlichen Geldpolitik laufen weit auseinander. Dies ist insofern kaum verwunderlich, als es zum einen für ein solches Vorgehen kein historisches Vorbild gibt und zum anderen die unterschiedlichen Beurteilungen unterschiedliche Grundauffassungen über die Funktionen des Geldes in Ökonomien vom Typ der Bundesrepublik Deutschland widerspiegeln. Denn es gibt bekanntlich nicht die Volkswirtschaftslehre, sondern unterschiedliche Volkswirtschaftslehren. Grundsätzlich konkurrieren klassische (marxistische), neoklassische und keynesianische Paradigmen miteinander. Auf keinem Gebiet der Volkswirtschaftslehre zeigen sich die grundverschiedenen Auffassungen dieser drei Paradigmen pointierter als auf dem Gebiet der Geldtheorie und -politik. Während Klassik und Neoklassik grundsätzlich davon ausgehen, dass Geld, bezogen auf die realwirtschaftlichen Vorgänge, zumindest längerfristig neutral ist, gehen Keynesianer davon aus, dass ökonomische Prozesse gerade durch Geld initiiert und gesteuert werden, so dass die Vorstellung von der Neutralität des Geldes ein adäquates Begreifen der Strukturen und Prozessabläufe in ”Geldökonomien” nicht nur erschwert, sondern definitiv verhindert.

Marx selbst steht hier in gewisser Weise zwischen den ”Fronten”, da er einerseits in einzelnen Passagen seiner Arbeiten die Bedeutung des Geldes außergewöhnlich deutlich herausgestellt hat, während er andererseits in anderen Passagen die Neutralitätsthese vertreten hat. Letztlich ging er davon aus, dass sich die Gesetze des Kapitalismus unabhängig von der Geldsphäre durchsetzen.

Bewertungen der geldpolitischen Ziele und Instrumente sowie des institutionellen Gefüges des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) spiegeln daher immer bestimmte paradigmatische Überzeugungen wider, selbst dann, wenn sich die Äußernden dessen nicht bewusst sind. Aus diesem Grunde bietet es sich an, zunächst die ökonomische Bedeutung des Geldes für unterschiedliche Paradigmen in knapper Form herauszuarbeiten. In diesem Rahmen sollen auch die unterschiedlichen Auffassungen über die Ursachen inflationärer und deflationärer Prozesse knapp dargestellt werden. Dies wird im zweiten Kapitel geschehen. Im dritten Kapitel werden auf dieser theoretischen Grundlage das institutionelle Gefüge des ESZB sowie die geldpolitischen Instrumente und Strategien erläutert und bewertet. Dabei wird sich zeigen, dass die Bewertungen in der Tat die jeweiligen Paradigmen widerspiegeln. Im vierten Teil werden dann besonders intensiv diskutierte Einzelaspekte der europäischen Geldpolitik unter die Lupe genommen. Fünftens schließlich werden wir die Grenzen der Geldpolitik näher bestimmen, um so die bisherigen Mängel und Lücken des europäischen Integrationsprozesses und die weiteren politischen Gestaltungsaufgaben sichtbar zu machen.