Publikation Globalisierung Tipps gegen Bauchgrimmen und Krieg

World Social Forum, Porto Alegre, 31.1 - 5.2. 2002

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Friederike Habermann,

Erschienen

Februar 2002

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Ich beginne mit Kindern, Kinder sind ja unsere Zukunft. Kinder an der Schwelle zum Jugendlichsein verlieben sich oft heftig. Als ich 12 Jahre alt war, verliebte ich mich in ´Die Grünen´ - welche sich damals gerade in Deutschland gründeten. Diese Partei entstand aus der Bewegung gegen Atomkraft, sammelte aber viele linke Strömungen und war fest entschlossen, nichts anderes als das parlamentarische Standbein einer außerparlamentarischen Bewegung zu sein. Ihr Motto war: "ökologisch, basisdemokratisch und gewaltfrei".

Heute sind die Grünen über 18, damit also erwachsen, und halten Gewaltfreiheit für eine Kinderkrankheit. Statt dem alten Slogan "Frieden schaffen ohne Waffen" stimmen sie nun für Krieg mit Waffen. Statt dem alten Slogan "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin" rufen sie nun: "Stell Dir vor! Es ist Krieg! Lasst uns hingehen!".

Der grüne Außenminister Joschka Fischer - heute symbolisiert er anstelle der Sonnenblume die grüne Partei - hätte nur zu gerne richtig mitgemischt, so bekam man den Eindruck; genauso bei unserem Kanzler Gerhard Schroeder und der Sozialdemokratischen Partei. Schließlich war - und ist - dieser Krieg nicht zuletzt ein Kampf um Hegemonie, auch zwischen den westlichen Machtzentren. Vor allem aber geht es um die globale Hegemonie, mit anderen Worten: um die Absicherung bestimmter, überwiegend westlicher Interessen.

Zum einen war der Krieg eine militärische Machtdemonstration und nicht zufällig geht es in der neuen NATO-Doktrin auch um Ressourcensicherung. Zum zweiten wurde der Krieg genutzt - in den USA, in Europa, wie auch in Lateinamerika - um die Überwachung hochzuschrauben und damit die Vorherrschaft nach Innen abzusichern. Nicht zuletzt aber handelt es sich um einen Kampf um die Zustimmung zur neuen Weltordnung - also um Hegemonie im gramscianischen Sinne. Eine Vorherrschaft, die mitgetragen wird, weil man eigene Interessen daraus ziehen kann - Krieg führen dürfen in Tschetschenien zum Beispiel.

Aber auch eine Vorherrschaft, eine Hegemonie, die unseren Alltagsverstand besetzt. Die vergessen lässt, dass nicht nur am 11. September 5.000 Menschen starben, sondern dass täglich über 50.000 Menschen an unserer Weltwirtschaftsordnung sterben, dass "unendliche Gerechtigkeit" nicht endloses Bombenschmeißen bedeutet und "andauernde Freiheit" nicht die endgültige Abschiebung in Folterstaaten. Dass Gleichheit etwas anderes meint als die Annahme, alle Menschen dieser Welt wünschten, in Aluminium verschweißte Erdnussbutter mit Erdbeermarmelade verzehren zu dürfen.

Bleiben wir kurz bei der Freiheit und der Gleichheit. Marx nennt einen Arbeitsvertrag, welcher aus der Perspektive des Kapitals einen Vertrag zwischen zwei Gleichen darstellt, ironisch ein "wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit". Diese Perspektive beschreibt Marx nicht als falsch. Sie ist nicht falsch, doch sie ist auch nicht richtig, denn es gibt da noch eine andere Perspektive auf den gleichen Sachverhalt, wie Marx anschaulich darlegt: Plötzlich schreitet der ehemalige Geldbesitzer "voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andere scheu, widerstrebend, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markte getragen und nun nichts anderes zu erwarten hat als die - Gerberei".

Die Marxistin und Feministin Nancy Hartsock ergänzt diesen Gedanken: "Wenn wir dem Arbeiter von der Fabrik nach Hause folgen, so erfahren wir erneut eine Verwandlung. Jener, welcher eben noch hintendran ging als der Arbeiter, scheu und widerstrebsam, geht nun aufrecht voran, gefolgt von einer dritten Person, welche die Einkäufe, das Baby und die Windeln trägt".

Dies lässt sich weiterdenken: Folgen wir der einkaufenden Frau - denn auch im Postfordismus ist das noch überwiegend Frauenarbeit - folgen wir also der einkaufenden Frau in den Supermarkt, so tauchen im Hintergrund die wie Leibeigene gehaltenen Arbeiter auf den Kaffeeplantagen in Mexiko auf, die Näherinnen in den Maquiladoras, die durch Pestizide vergifteten Angestellten aus Kolumbien.

Marx war sicherlich einer der, wenn nicht sogar der beste Analytiker der Verhältnisse, den diese Erde gesehen hat. Trotzdem reduzieren sich seine analytischen Fähigkeiten - und auch die von Friedrich Engels - bis hin zur Lächerlichkeit, sowie es sich um die Einbeziehung von Frauen und deren Standpunkte in ihre Analysen handelt. Ihr eigenes Sein bestimmte hier ihr Bewusstsein. So konzentrierte sich Marx auf die Ausbeutung der als männlich gedachten Arbeiter, so waren es Frauen, welche das Patriarchat als grundlegend für den Kapitalismus analysierten, und so sind es heute vorwiegend Menschen aus dem globalen Süden, welche die Wirtschaftsordnung als Fortführung des Kolonialismus anprangern.

Unterdrückte haben nicht immer Recht. Aber fast immer haben sie mehr Recht als jene, die von der Hegemonie profitieren. Denn ihre Wahrheit wird im Zweifel mehr zur Emanzipation beitragen als die Wahrheit der Unterdrücker.

Doch Unterdrückte haben ein Problem! Auch für sie gilt: Die hegemonialen Kategorien und Kriterien sind diejenigen, welche uns am leichtesten in den Kopf kommen - dies ist, was Gramsci das "Alltagsverständnis" nennt.

Marx verfolgt in seinem Fetisch-Kapitel in Band 1 des Kapitals selber die erkenntnistheoretische Frage, warum die Menschen die Formen, in denen sie handeln, nicht als spezifische Formen erkennen. Sie sind nicht bewusst, weil eben das Handeln in ihnen kein Nachdenken erfordert. Es ist zwar möglich, über sie nachzudenken - auch in der Perspektive ihrer Überwindung. Dafür ist aber nötig, diese Formen zunächst einmal sichtbar zu machen - und das ist gar nicht so einfach. Solche Formen sind: die Eigentumsverhältnisse und der Kapitalismus, das Denken in Hautfarben und Kulturen, die Zwangsheterosexualität und die Zweigeschlechtlichkeit, die Logik von "für die USA oder für die Terroristen".

Ich möchte noch einmal auf die Grünen zurückkommen, konkret: auf die guten Grünen. Auf die, welche mit Bauchschmerzen für den Krieg gestimmt haben. Weil sonst die menschheitsrettende grüne Regierungsbeteiligung in Gefahr gewesen wäre. Wenn diese sich, statt mit ihren ParteikollegInnen, mit afghanischen Frauen unterhalten hätten, darüber, wie es ist, statt eines gelben Lebensmittelpaketes eine gelbe Streubombe aufzuheben, so wäre ihr Bauchgrimmen vielleicht in eine heftige Übelkeit verwandelt worden, so dass sie gar nicht mehr hätten abstimmen können.

Denn während angeblich der Krieg auch für die Rechte der Frauen in Afghanistan geführt wurde, gab es keine Stimmen von Frauen aus Afghanistan für den Krieg, sondern nur dagegen. So wurden die afghanischen Frauen wieder überhört, wie schon all die Jahre davor, als die revolutionäre Frauenorganisation RAWA nach Unterstützung ihrer Arbeit rief - gegen die Taliban.

Natürlich waren nicht alle afghanischen Frauen gegen die Taliban, so wie auch viele Arbeitnehmer gerne an den gerechten Tausch glauben. Ein gegenhegemoniales Verständnis muss immer erst erkämpft werden - auch im Kampf mit dem eigenen Alltagsverstand. Dies bedarf sowohl der systematischen Analyse als auch der gemeinsamen Erfahrung in politischer Aktion. Neue Sichtweisen können daher oft erst durch gemeinsames politisches Handeln entstehen. Das ist es, was für mich die globale Widerstandsbewegung am meisten charakterisiert und weswegen auch wir heute hier sind. Es ist das voneinander Lernen, das Austauschen von Ideen, das gemeinsame Kämpfen - auch mal als Ringen miteinander - und das Ausprobieren von Alternativen, was neue Welten ermöglichen kann. Und hoffentlich eines Tages neue Kriege verhindern wird.