Publikation Globalisierung - Soziale Bewegungen / Organisierung - Wirtschafts- / Sozialpolitik ESF London: Ein Forum »zwischen Tür und Angel«

Vom 14. bis 17. Oktober 2004 tagte das dritte Europäische Sozialforum – nach Florenz 2002 und Paris 2003 diesmal in London. Die politischen Entwicklungen der letzten Jahre, sowohl in globaler als auch in regionaler Dimension, und die voranschreitende Debatte innerhalb der sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien um die neoliberale Globalisierung und deren Folgen – wie etwa den Abbau der sozialen Sicherungssysteme – stellten das Forum hauptsächlich vor eine reflexive Herausforderung.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Martin Schirdewan,

Erschienen

November 2004

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Vom 14. bis 17. Oktober 2004 tagte das dritte Europäische Sozialforum – nach Florenz 2002 und Paris 2003 diesmal in London. Die politischen Entwicklungen der letzten Jahre, sowohl in globaler als auch in regionaler Dimension, und die voranschreitende Debatte innerhalb der sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien um die neoliberale Globalisierung und deren Folgen – wie etwa den Abbau der sozialen Sicherungssysteme – stellten das Forum hauptsächlich vor eine reflexive Herausforderung. Zentraler Bestandteil vieler Diskussionen waren die Zukunft und die Perspektiven des Europäischen Sozialforums (respektive des Weltsozialforums) selbst. Gesucht wurde nach dem Sinn des Forums und seiner Zielstellung jenseits alleiniger politischer Debatte. Die Antwort – darin waren sich die meisten Teilnehmer einig – liegt darin, aus der vielseitigen und vielschichtigen Debatte und dem offenen Diskurs einen konkreten politischen output zu erzielen. Andererseits drohe das Forum als ein selbstreferenzieller Debattierclub zu enden und an sich selbst zu scheitern. So jedenfalls lautete der Tenor der Referentinnen und Referenten einer dreiteiligen Seminarreihe mit dem Titel »Zukunft und Perspektiven des ESF/WSF«.

Und so bewegte man sich in London plötzlich in einem mehrdimensionalen Raum. Es hat sich ein Forum der antagonistischen Kräfte zur neoliberalen Hegemonie konstituiert, die die radikale Linke ebenso umfasst wie kirchliche Organisationen, Gewerkschaften, soziale Bewegungen oder Anarchisten, Trotzkisten, Kommunisten, linke Intellektuelle, Arbeiter, sozial Deklassierte. Aber worum handelt es sich bei diesem Forum? Um einen offenen Raum, in dem die verschiedenen Positionen zur Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit einer anderen Welt und dem Einsatz der entsprechend variierenden Mittel diskutiert werden? Oder um einen politischen Akteur? Um die Widerspiegelung einer globalen kritischen Bewegung in all ihren Facetten – oder lediglich um eine Veranstaltungsreihe mit dem thematischen Schwerpunkt »Überwindung bestehender Verhältnisse«?

Die inhaltliche Dimension verdeutlicht, dass das »Was« das »Wie« entschieden beeinflusst. Denn wer in einer Veranstaltungsreihe unter Beteiligung der verschiedenen Akteure des Widerstandes gegen internationale kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung in einem offenen Raum versucht, aus der Negation des Bestehenden im freien, unzensierten Diskurs politische Alternativen zu entwickeln, wird zwangsläufig zu einem politischen Akteur.

Ob es sich, wie die »New York Times« einst formulierte, bei der sich in den Foren konstituierenden globalisierungskritischen Bewegung um die zweite Supermacht neben den USA handelt, wird sich dabei erst noch in der Praxis erweisen müssen. Denn bisher ist der Einfluss des sich formierenden Widerstandes theoretischer Natur. Auf die Frage, was wir bisher erreicht hätten, antwortet Jacques Nikoloff von »ATTAC France«: Wir haben Reflexionen und Analysen bezüglich der neoliberalen Hegemonie und ihrer Ideologie hervorgebracht, haben die Anarchie in den politischen und ökonomischen internationalen Beziehungen beleuchtet. Und Chris Nineham von »Globalise Resistance« ergänzte: Das WSF und seine regionalen Ableger haben den Menschen das Vertrauen gegeben, das Prinzip TINA (There Is No Alternative) des Marktes zu hinterfragen. Seine bisherige Macht läge in den kraftvollen Demonstrationen, mit denen die Regierenden das Fürchten gelehrt würde. Doch ginge es eben nicht mehr nur darum, darüber zu sprechen, wogegen wir seien, sondern zu klären, wofür wir denn stünden. Und somit gelange auch das ESF an seinen Wendepunkt – nämlich an die Frage, wie die Bewegung in konkrete politische Erfolge umgesetzt werden kann.

Die politische Aufgabe, die sich aus dieser Frage ergibt, liegt laut Nineham darin, die Räume für Alternativen auszudehnen, neue Räume zu erobern und damit den eigenen Einfluss zu erweitern. Diese Räume dürften aber nicht entideologisiert sein, sie müssten Platz bieten für viele verschiedene Ideologien, Ideen und Ansätze, denn darin lägen die entscheidenden Antworten für die Zukunft verborgen.

Eine andere in den Seminaren des Forums debattierte Frage, die aber nicht losgelöst von den vorhergehenden Gedanken betrachtet werden darf, drehte sich um das Verhältnis der Bewegungen wie auch des Forums insgesamt zu den politischen Organisationen und Parteien. Es gilt hier um der Effektivität des Widerstandes willen, Netzwerke aus sowohl außerparlamentarischer als auch parlamentarischer Opposition zu entwickeln; es gilt, die zwei Arenen miteinander zu verbinden und die Kreativität der einen in die Gestaltungsmöglichkeiten der anderen zu übertragen.

London bestätigt: Es hat sich eine die verschiedenen politischen Systeme erfassende Bewegung formiert, die sich gegen die Politik derjenigen wendet, von denen sie regiert wird. Das Volk – oder zumindest ein großer Teil von ihm – entzieht im Rahmen einer Globalisierung von unten den Eliten aus Politik und Ökonomie das Vertrauen und beansprucht nicht mehr und nicht weniger als die Gestaltung des eigenen Lebens in einer freien Gesellschaft.

London bestätigt aber auch: Diese Bewegung ist in sich tief gespalten. So verhinderten Exil-Iraker in der zentralen Halle des im Norden gelegenen Hauptveranstaltungsortes »Alexandra Palace« die Teilnahme eines irakischen Gewerkschaftsaktivisten, der, da er einer offiziellen irakischen Organisation angehört, per se in Kollaborationsverdacht mit dem Besatzungsregime geriet. Am nächsten Tag schlug am gleichen Ort eine internationale anarchistische Gruppierung mit eben dem selben Ziel zu: Sie wollte die Teilnahme des Londoner Bürgermeisters und Labourmitglieds Ken Livingston an einem Plenum verhindern (»We dont't like him, and that's why we have squatted the stage« - Wir mögen ihn nicht, und darum haben wir die Bühne besetzt). Dies gelang, doch wurde im Gegensatz zum Vortag die Veranstaltung nach einer gewissen Zeit fortgesetzt.

Beide Vorgänge sind nicht nur Ausdruck der durchaus charmanten Vielfarbigkeit des Forums, sondern zeigen gleichzeitig dessen Grenzen auf. Der offene Raum, den es zu erweitern gilt, kann überhaupt nur Bestand haben, wenn die ihn Betretenden und zur Debatte Nutzenden bereit sind, die Meinungen der Andersdenkenden zu akzeptieren. Die Grenze des offenen Raumes ist die Kooperationsbereitschaft seiner Teilhaber.

Beide Vorgänge hatten freilich auch damit zu tun, dass mit London ein Ort gewählt worden war, bei dem angesichts der britischen Situation – nämlich der Kriegsbeteiligung des Landes – die kriegerischen Konflikte eine besondere Rolle spielen würden. Dass dabei ausgerechnet Libertäre zu diktatorischen Maßnahmen greifen, erscheint als ein die internationale Linke humoristisch darstellendes Paradoxon. Dass mit solchen Aktionen aber gegen die Charta des Weltsozialforums verstoßen wird und den Foren als Ausdruck einer internationalen Widerstandsbewegung Schaden zugefügt wird, war den Aktivisten in ihrem Eifer wohl nicht bewusst. Wenn man der Ansicht ist, die inhaltliche und teilweise durchaus berechtigte organisatorische Kritik am ESF mit gewalttätigen Aktionen artikulieren zu müssen, hat man sich nicht nur in der Wahl der Mittel vertan. Die vermeintlich Kommerzialisierung des Forums (»Another world is for sale«) und die Herausbildung einer informellen Führerschaft anzuprangern, ist legitim. Das Forum als solches anzugreifen, illegitim.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung war auf dem Forum mit einigen sehr interessanten Beiträgen vertreten. Die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung, die sich nicht nur in der Organisation und der Teilnahme an Seminaren, sondern auch in der Herausgabe des sehr lesenswerten und informativen Buches »Eine andere Welt. Das Weltsozialforum« widerspiegelt, war im gegebenen Rahmen ein Erfolg. Dass die Gesamtorganisation des ESF anfänglich chaotisch erschien und einige Mängel aufwies (so waren die Übersetzungsgeräte in nicht ausreichender Anzahl vorhanden) störte die insgesamt positive Atmosphäre nur wenig. Bedauerlich ist allerdings, dass es den Organisatoren nicht gelungen ist, die Veranstaltung in die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Auf der Demonstration blieben so die Forumsteilnehmer hauptsächlich unter sich. Wie aber soll der sich formierende Widerstand erfolg haben, wenn er ohne Öffentlichkeit bleibt?

Eine andere Welt ist möglich, auch wegen oder trotz des dritten Europäischen Sozialforums in London. Das vierte Sozialforum in Athen im Frühjahr 2006 wird ein gänzlich anderes, und bis dahin werden wir der möglichen anderen Welt hoffentlich näher gekommen sein.

Martin Schirdewan ist Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.