Interview mit Peter Strutynski ( AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag) in der Tageszeitung „Neues Deutschland“, Berlin, 10.12.2004:
Die Friedensbewegung hatte sich lange Zeit wenig bis gar nicht um Europa gekümmert. Dafür gab es Gründe: Erstens wurde die EU (früher die EG) lange Zeit mit der Tätigkeit der Brüsseler Kommission insbesondere in Bezug auf die gemeinsamen Märkte, die Agrar- und Strukturförderung in eins gesetzt. Das war für den normalen Bürger und den im Grunde seines Herzens antibürokratisch gesinnten Linken weit weg, bürokratisch und daher extrem dröge. Zweitens gab es bei der Linken eine grundsätzlich positive Einstellung zum europäischen Integrationsprozess, weil er so positiv besetzte Ziele wie Transnationalisierung und Multikulturalismus zu verfolgen schien. Schließlich war die Überwindung von Grenzen und die Vision eines europäischen Bundes freier republikanischer Staaten ein uralter Traum der Aufklärung.
Drittens wurde mit dem ökonomischen und politischen Integrationsprozess Westeuropas von vielen ein Gegengewicht zum Unilateralismus der USA gesehen. In dieser Projektion traf sich die Friedensbewegung sogar mit konservativen Kräften einschließlich der Sozialdemokratie. Deren Ziel war indessen nicht eine rein zivile Macht, sondern eine Großmacht, die auch militärisch »auf gleicher Augenhöhe« mit der Supermacht USA verhandeln könne.
Diese Europaabstinenz rächt sich heute. Die Regierungen der EU-Staaten haben ein derartiges Tempo bei der Umwandlung der europäischen Wirtschaftsunion in einen Militärpakt eingeschlagen, dass die Linke fast hoffnungslos in die Defensive gedrängt wurde. Hinzu kommt, dass die handfesten Militarisierungsabsichten, die im EU-Verfassungsvertrag formuliert sind, der Öffentlichkeit systematisch vorenthalten werden. Wer weiß heute schon, dass die EU-Verfassung den Mitgliedstaaten eine »ständige Verbesserung der Militärkapazitäten« abverlangt? Wer weiß denn, dass die EU mit ihren im Aufbau befindlichen Streitkräften und »Battle Groups« (Schlachtgruppen) rund um den Globus intervenieren können will? Und wer hätte es für möglich gehalten, dass das »alte Europa« zusammen mit dem »neuen Europa« (Rumsfeld) eine »Europäische Sicherheitsstrategie« verabschieden würde, bei der es sich um einen lediglich sprachlich retuschierten Abklatsch der Sicherheitsdoktrin des US-Präsidenten vom September 2002 handelt: Präventivkriege sind danach nicht mehr ausgeschlossen!
Eine Verfassung, die solches festschreibt, darf nicht ratifiziert werden. Darüber ist sich die Friedensbewegung mit anderen sozialen Bewegungen mittlerweile einig. Getan wird aber noch zu wenig. Manche/r verlässt sich wohl darauf, dass das ein oder andere Land, in dem über die Verfassung per Referendum abgestimmt wird, schon Nein sagen wird, womit das ganze Verfassungspaket neu zu verhandeln und damit Zeit gewonnen wäre. Nach dem mehrheitlichen Ja der französischen Sozialisten dürfen wir uns aber nicht mehr so sicher sein, dass das funktioniert. In den zu Beginn des nächsten Jahres anstehenden Referenden in Spanien und Portugal wird jedenfalls eine satte Mehrheit für die EU-Verfassung erwartet.
Es bleibt also nichts anderes übrig, als selbst aktiv zu werden und die Öffentlichkeit über die Inhalte der Verfassung zu informieren. Die einen kritisieren die darin verankerte neoliberale Wirtschaftspolitik, andere das Fehlen demokratischer Beteiligungsrechte, wieder andere den unzureichenden Schutz von Umwelt und natürlichen Ressourcen. Die Friedensbewegung stellt den Militarisierungsaspekt in den Mittelpunkt. So können viele soziale Bewegungen mit eigenen Begründungen unter einem gemeinsamen Slogan agieren: Ja zu Europa, aber Nein zu dieser Verfassung.