Als Irina Zviagelskaja und Vitali Naumkin vor etwa einem Jahr erstmals über das heutige Treffen nachdachten, beseelte uns nicht etwa eine spontane Idee, wie „wir müssten mal einen deutsch – russischen Workshop machen“. Vielmehr war es die grosse Sorge darüber, dass Europa in eine Lage geraten könnte, oder anders gesagt: sich selbst in eine solche manövriert, in der es in einem lebenswichtigen Raum seinen Konfliktstoff nicht mehr beherrscht.
Diese Sorge liess in uns das Bedürfnis reifen, den Zusammenhang von Systemtransformation und dem Entstehen gesellschaftlicher Konflikte, und im Umkehrschluß: ihrer Verhütung, zum Gegenstand einer breiteren deutsch-russischen Beratung zu machen.
Warum deutsch-russisch? Weil in der Ost-West übergreifenden europäischen Dimension die Erfahrung der inneren Konflikthaftigkeit von Transformation und ihrer Folgen, uns, Deutschen und Russen, gemeinsam ist, und uns dazu befähigt, dieses wichtige Thema als ein Gegenstand der Verantwortung von West und Ost anzugehen.
Dass die Rosa-Luxemburg Stiftung, als Stiftung einer Antikriegspartei, der PdS, diese Besorgnis und Herangehensweise teilt, ist kein Zufall. Im Westen ist es der Osten in Gestalt der östlichen Länder der Bundesrepublik, wo Systemtransformation real stattfindet. Selbst hier, unter sozusagen „gesicherten Rahmenbedingungen“ eines „starken“ kapitalistischen Staates, ist Transformation nach zehn Jahren noch immer nicht abgeschlossen und in ihrer gesellschaftlichen Konflikthaftigkeit allgegenwärtig.
Der im Westen nach 1990 vorherrschende Glaube, Transformation sei nur eine Sache des richtigen „Managements“, erwies sich als eine Illusion. Wenn man mit einer Illusion noch leben könnte, so nicht mit deren konzeptionellem Ansatz – mit ihrem neo-liberalen Managementansatz. Er erwies sich als Fehler und es ist an der Zeit, den Strategiewechsel hier anzusetzen.
Selbst die deutsche Bundesregierung musste kürzlich in einem offiziellen Papier für den Osten Deutschlands eingestehen, dass „der Aufbau Ost keine Aufgabe von wenigen Jahren (ist), sondern eher einer ganzen Generation. Hierbei sind auch Fehlentwicklungen aus der Vergangenheit aufzufangen.“ Sie muss konstatieren, dass „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ und „innere Einheit“ sich als defizitär erweisen und „sich die Wahrnehmung der Lebenswelten der Menschen in Ost- und Westdeutschland nach der anfänglichen Euphorie über die wiedergewonnene Einheit wieder auseinander entwickelt“.
Wenn wir uns Transformation und Konfliktprävention verstanden als gemeinsame Verantwortung von West und Ost zuwenden, dann sollten wir dies zugleich mit dem Bewusstsein tun, dass wir mit unserer heutigen gemeinsamen Initiative den deutsch-russischen Dialog mit einer hochwichtigen Thematik bereichern.
Nun zum sachlichen Gegenstand.
Ich werde mich konzentrieren:
erstens, auf den Einfluß äusserer Akteure, vornehmlich des Westens, auf die Transformationsprozesse und ihre Verantwortung; und
zweitens werde ich meiner Behauptung nachgehen, dass ein Strategiewechsel erforderlich ist und mit welchen Prioritäten er erfolgen sollte.
Zunächst möchte ich auf die Frage eingehen, woher die großen politischen Schwierigkeiten kommen, mit denen wir es im Umgang mit innergesellschaftlichen Konflikten im Transformationsraum zu tun haben.
Hier sollte man sehr aufmerksam zur Kenntnis nehmen, daß, im Unterschied zu ihren uns aus Entwicklungsländern bekannten Bewegungsformen, innergesellschaftliche Konflikte offensichtlich unter Bedingungen von Systemtransformation vom Sozialismus zum Kapitalismus eine bestimmte Eigenspezifik entwickeln. Ihr Kern scheint darin zu bestehen, daß mit vorrangig abrupten Mitteln angegangene gesellschaftliche Transformation, worum es sich beim neo-liberalen Ansatz handelt (die sogenannte „Roßkur“, bei der das Pferd ja auch drauf gehen kann), nahezu unvermeidlich zu inneren Konflikten führt, die zum Auslösen gewaltsamer gesellschaftlicher Kettenreaktionen tendieren. In ihnen verliert die Gesellschaft ihre „natürliche“ Fähigkeit zur zivilen Verarbeitung von Konfliktsituationen. Verursacht wird jene Spezifik vor allem durch die die gesamte Gesellschaft ergreifenden, sie mobilisierenden und politisierenden Dimensionen von Systemtransformation.
Die Augen sollten nicht davor verschlossen werden, daß die in den bisherigen innerstaatlichen Konflikten explodierte Gemengelage von gesellschaftlichen Konfliktgütern sich, mehr oder weniger ausgeprägt, in nahezu allen Transformationsländern des GUS-Raums und darüber hinaus findet. Damit bleibt aber auch das Phänomen des sich wechselseitigen Beeinflussens von Systemtransformation, für sie beschrittener Wege und Konfliktregelung sowie Krisenmanagement in diesem gesamten Raum potentiell wirksam. - Das macht jenes Phänomen zu einem europäischen.
Was lässt sich aus Analyse von Konflikten, mit denen wir es im Transformationsraum bisher zu tun hatten, verallgemeinernd feststellen?
1. Die Konflikte zeichnen sich dadurch aus, daß sich in ihnen ein kompliziertes Gemenge von materiellen und immateriellen Konfliktgütern zusammenballte. Scharfe Umverteilungskämpfe um politische und wirtschaftliche Machtpositionen verwoben sich mit Ressourcenumverteilungskonflikten.
Gerade diese Kombination ist in besonders hohem Maße geeignet, die gesamte Gesellschaft zu verunsichern, weil von ihrem Ausgang eine Gesellschaftsmehrheit in ihrer persönlichen Perspektive betroffen ist. Soziale Spannungen stimulierten ethnische, religiöse, kulturelle und regionale Fragmentierungen der Gesellschaft bis hin zu Sezessionismus. Ab einem bestimmten Punkt der Konfliktverläufe verschmelzen in der Regel die materiellen und immateriellen Konfliktgüter im gesellschaftlichen Bewußtsein zu einer Wahrnehmungseinheit, welcher nicht nur elementare Sprengkraft immanent ist, sondern die auch die Entflechtung von Konfliktelementen in partielle Regelungsgegenstände ungemein verkompliziert.
Schließlich hat sich in den Konflikten auch ein gegen westliche zivilisatorische Konfliktbearbeitungsinstrumente „immunisierter“ Typ von Konfliktakteur herausgebildet, der von außen kaum, sondern, wenn überhaupt, nur aus der inneren politischen Logik der jeweiligen Gesellschaft heraus beeinflußbar ist.
2. Selbst punktuelles Konfliktmaterial entwickelt unter den Bedingungen von Systemtransformation die Eigenschaft, schnell in gesamt-gesellschaftliche Dimensionen und Konfliktkonstellationen auszuufern.
Offensichtlich besteht ein direkter kausale Zusammenhang zwischen der Tendenz zu hoher Evolutionsintensität und „Vergesellschaftung“ von innerstaatlichen Konflikten zur Systemtransformation und den für sie eingeschlagenen politischen und wirtschafts- und sozialpolitischen Ansätzen. Systemtransformation und Fähigkeit der Gesellschaft zur zivilen Verarbeitung von Konfliktsituationen beeinflussen sich gegenseitig. Der militant-konfrontative Ansatz, der sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR in den Auseinandersetzungen um die Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Systeme in einer Reihe von unabhängig gewordenen Staaten des post-sowjetischen Raums durchsetzte und dort in den bewaffneten Konflikt führte, hat sich in vielerlei Hinsicht als transformationshinderlich erwiesen: Er bewirkte nationale Katastrophen, erschwerte und verschlechterte die Bedingungen für Transformation und verschliss obendrein Energie und Ansehen ursprünglich demokratisch reformerischer Kräfte.
3. Der gesellschaftliche und politische Mechanismus, nach dem Transformation in den gewaltsamen Konflikt hinüberwachsen kann, scheint folgender zu sein:
Je rigider Transformation vorangetrieben wird, je mehr Gewalttätigkeiten involviert sind und je enger die soziale Basis der transformationsführenden Kräfte ist, desto größer ist das Risiko, daß Transformation in den Konflikt führt.
Gründliches Nachdenken ist vor allem über die Frage nach den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Instrumenten erforderlich, sozusagen nach einer „politischen Tech
nologie“, mit deren Hilfe jener Mechanismus daran gehindert werden kann, zu funktionieren und seine gesellschaftlich zerstörerische Spirale in Gang zu setzen.
Auch in dieser Hinsicht vermittelt uns Erfahrungsanalyse eine Ausgangsthese: Je tiefer das Erfordernis von Transformation und die Unausweichlichkeit vorübergehender Schwierigkeiten von einer Begvölkerungsmehrheit verstanden und mitgetragen werden, je breiter die soziale Basis der transformationsführenden Kräfte ist, desto größer sind die Chancen dafür, Transformation in evolutionäre, friedliche Wege zu leiten und so zu vermeiden, daß sozialer Sprengstoff in gewaltsame Konflikte überspringt.
4. Die Tendenz zur Vergesellschaftung bewirkt, dass einmal ausgebrochene Konflikte „gesellschaftliche Kettenreaktionen“ bewirken.
Diese Spezifik wirkt sich auf die Erfolgsperspektiven von Umgang mit innerstaatlichen Konflikten gravierend aus. Sie stellt innere wie äussere Konfliktbearbeiter vor die Frage, ob jene „Kettenreaktionen“ nicht so breite gesellschaftlichen Folgen bewirken, dass diese sich externer Konflikbearbeitung überhaupt weitgehend entziehen. Selbst bei ihrer gezielten Bearbeitung, wie durch Friedensmissionen internationaler oder regionaler Organisationen, lassen sie sich oft nicht mehr oder nur begrenzt positiv regeln, weil durch deren zerstörerische Wirkungen ein Klima völliger gesellschaftlicher Anarchie geschaffen wird, in dem die Gesellschaft ihre Fähigkeit zu sozialer Selbstregulierung und konstruktiver Konfliktbewältigung verliert.
Wenn meine Überlegungen bis hierher richtig sind, dann leitet sich aus jener Komplexität und Kausalitätsbeziehungen zwischen Transformationsprozessen, Konfliktmaterial, -akteuren, -ursachen und gesellschaftlichem Bedingungsgefüge das Erfordernis ab, Konfliktvorbeugung und –regelung nicht inhaltlich abgekoppelt von den gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu betreiben.
Wenn aber innerstaatliche Konflikte als das zu bearbeiten sind, was sie ihrem Wesen nach sind, nämlich als gesellschaftliche, dann steht internationale Konfliktbearbeitung vor der Frage, ob sie dazu überhaupt in der Lage ist.
Stimmen zu Leistendes und Leistbares, was von externer Konfliktbearbeitung inhaltlich konzeptionell und instrumentell zu bewältigen wäre, miteinander noch überein, oder stößt sie unter den komplizierenden Bedingungen von Systemtransformation bereits an die Grenzen dessen, was sie schon nicht mehr zu leisten vermag?
Läuft Konfliktbearbeitung unter solchen Umständen nicht Gefahr, in Zukunft nicht einmal mehr ihr elementarstes Ziel erreichen zu können, nämlich „Feuer zu löschen“?
Mit anderen Worten: Wenn Systemtransformation die Bedingungen und Anforderungen an Konfliktbearbeitung sowohl im Inneren als auch von außen insgesamt so stark verändert, dann stehen wir vor der Frage, wie sich Verlauf und Austragungsformen gesellschaftlicher Konflikte im Tansformationsraum effektiver beeinflussen lassen.
Das strategische Ziel muß sein, in den betroffenen Regionen das innere Potential zur Konfliktbewältigung aus eigener Kraft zu stärken.
Welche Denkrichtungen legt die Erkenntnis- und Erfahrungsanalyse dafür nahe?
Strategieanpassungen müssen offensichtlich dem Erfordernis gerecht werden, die jeweiligen konkreten Konfliktgegenstände verstärkt in ihrer gesellschaftlichen Ursachen- und Beziehungsverflechtung zu regeln. Das gilt insbesondere für immaterielle Konfliktgüter, wie politische, weltanschauliche oder ethno-nationale Machtkämpfe. So geartete Strategien erheischen zwei parallele politische Handlungsebenen: Eine, die sich um die Regelung des konkreten Konfliktgegenstands bemüht, und eine zweite, die sich, erstere flankierend, dessem sozialem Wurzelgeflecht in seiner inneren und äußeren Beeinflussung widmet.
Während auf der ersten Ebene bei den Vereinten Nationen und ihren Spezialorganisationen, der OSZE und international agierenden NRO’s bereits wertvolle Erfahrungen vorliegen, ist in der Strategie- und Politikanpassung an die neuen Konfliktdimensionen die zweite Ebene bisher ein Schwachpunkt. Externen Konfliktbearbeitern fällt es schwer, mit dem hohen Grad von Evolutionsintensität und „Vergesellschaftung“, zu dem innerstaatliche Konflikte unter Transformationsbedingungen tendieren, Schritt zu halten. Das ist ihnen nicht anzukreiden, weil Transformationsabläufe nicht von ihnen, sondern von anderen, viel machtvolleren äußeren Akteuren beeinflußt werden, nämlich im Wesentlichen von den Staaten des Westens.
Strategieveränderung muss bei ihnen beginnen.
Der bisher vom Westen vorgegebene Weg politischer und wirtschaftlicher „Befreiungsschläge“ oder „Schocktherapien“ hat sich als untauglich erwiesen. Selbst dort, wo dieser Weg nicht als Bürgerkrieg verlief, sondern mit überwiegend politischen Mitteln bisher friedlich beschritten werden konnte, wie in Rußland oder einigen mittelasiatischen Staaten, können weder erzielte Transformationsergebnisse, noch politische und wirtschaftliche Lage als stabilisiert und unumkehrbar angesehen werden. Im Gegenteil, die Konfliktträchtigkeit bleibt hoch. Das belegt auch die nun schon permanent gewordene gesellschaftlichen Krise in Rußland.
Diese Bilanz veranlaßt, ernsthaft über einen alternativen Weg nachzudenken.
Ein solcher Weg muss sich
Erstens, an einem anderen, ich möchte sagen „nicht ideologisierten“ Kriterium für Erfolg oder Mißerfolg von Transformation orientieren. Nämlich am hoch wichtigen Kriterium der Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität und Funktionsfähigkeit von Gesellschaften.
Ein solcher Weg muss,
zweitens, Systemtransformation mit einem evolutionären, reformerischen Ansatz angehen und fortsetzen und dabei danach streben, sie einen im Wesentlichen friedlichen Verlauf einschlagen lassen. Ein solcher Weg bedeutet weder Verzicht auf Reformen, noch auf effiziente Steuersysteme oder Haushaltsdisziplin. Doch läßt „Reformieren“ auch das Einräumen der Möglichkeit offen, eigene originäre, den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen, Erfordernissen und historischen Entwicklungssträngen adäquate Wege für Transformation zu suchen, die die Kategorien „Transformation“ und „Tradition“ mit einander vereint und nicht entzweit.
Gerade Letzteres war einer der gravierenden Fehler kolonialer Mächte im Umgang mit den Gesellschaften ihrer einstigen Kolonien, der uns heute massenhaft sog. „Fundamentalismen“ beschert, mit all jenen Kopfschmerzen, die sie bereiten. Die erstaunliche Langzeitwirkung selbst vor langer Zeit eingeleiteter Fehlsteuerungen gesellschaftlicher Prozesse sollten wir mit im Blick haben, wenn heute gesellschaftliche Transformation praktiziert wird. Niemand, außer wir selbst, kann uns daran hindern, aus Fehlern in der Geschichte zu lernen, wenn es um eine so immens wichtige Angelegenheit, wie Systemtransformation und Konfliktprävention im post-sozialistischen Raum geht. Das reicht bis zu ganz praktischen Fragen: Wo stünden in ihrem wirtschaftlichen Entwicklungsgrad heute „Schwellenländer“, wie Türkei oder Indien, hätten sie nicht in der ersten Etappe ihrer Unabhängigkeit die Entwicklung ihrer Wirtschaften durch bestimmte protektionistische Maßnahmen geschützt?
Drittens schließlich hat ein alternativer Weg von Langfristigkeit der Transformationsprozesse auszugehen und vornherein dem Ziel zu dienen, Konfliktpotentiale zu entspannen und präventiv gewaltsamen Austragungsformen vorzubeugen.
Sich dafür auf geeignete äußere prioritäre Politik- und Handlungsrichtungen zu verständigen, ist eine herangereifte Herausforderung.
Im Großen und Ganzen erheischt das für eine alternative Politik gegenüber Transformationsstaaten:
1.Ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, selbst über Prioritäten bei der Restrukturierung ihrer wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen etc. Systeme zur Steuerung der Transformation zu entscheiden. Im Interesse gesellschaftlicher Stabilität müssen Disproportionen unter Umständen zeitweilig in Kauf genommen werden.
Der Westen ist durchaus in der Lage, bei komplizierten und langfristigen sozialen Transformationsprozessen „verschiedene Geschwindigkeiten“ in der Umgestaltung von gesellschaftlichen Sytemen politisch zu verkraften, wie die von ihm zwar kritisierten aber letztendlich doch tolerierten Demokratiedefizite, ja sogar Akzeptanzdefizite der herrschenden arabischen Regimes zeigen.
2.Mit dem Anbieten fremder Werte- und Normensysteme vorsichtig zu sein. Vielmehr sollte gegenüber autochthonen Systemen Toleranz geübt werden. In aller Regel sind jene in der gesellschaftlichen Praxis durchaus plural. Vor allem ist es die eigene originäre Pluralität, die von einer Bevölkerungsmehrheit hervorgebracht wird. Nur über sie erhalten moderne repräsentative Demokratiemechanismen und Rechsstaatlichkeit die Chance gesellschaftlicher Akzeptanz.
Für jene Gesellschaften in Transformation sind offensichtlich in erster Linie solche Demokratieformen realistisch, die zu erzeugen sie selbst fähig sind. Dazu können auch Experimente gehören, Demokratie zunächst sozusagen „von oben“ einzuführen, wenn sich dadurch die Chance eröffnet, in komplizierten Transformationsphasen gesellschaftliche Destabilisierung zu vermeiden. Warum also soll Transformation nicht sozusagen „im nationalen Gewande“ stattfinden?
In diesem Sinne sollten auch Organisationen, wie die OSZE, Wert auf ein weites plurales Selbstverständnis als „Gemeinschaft von Werten“ legen, in der „Wertegemeinschaften“ ihren gleichberechtigten Platz finden ohne sich vor Majorisierung zu fürchten und politisch zu verschließen.
3.Wirtschaftspolitik sollte ihren Beitrag leisten, indem sie einem strategischen Ansatz folgt, der nicht massenweise sozio-ökonomische Verarmung und Marginalisierung bewirkt oder in Kauf nimmt. Strategien, die Letzteres verursachen, bewirken entweder massenweise gesellschaftliche Lethargie oder Radikalisierung. Beides schadet einem erforderlichen Wandel im Massenbewußtsein, das Transformation und Demokratisierung als Kontinuum und nicht als zerstörerische Ausnahmesituationen begreift. Wie sollte der Dialog über und zwischen unvermeidlichen konkurrierenden Interessen innerhalb der Gesellschaft zum als normal begriffenen Gegenstand offenen demokratischen Streits werden, wenn ihm nicht Kontinuität zugesichert ist? Eine Wirtschaftsstrategie hingegen, die massenweise gesellschaftliche Lethargie oder Radikalisierung bewirkt, konterkariert, was Politik anstrebt - Transformation zu gesicherten demokratischen, rechtsstaatlichen Systemen.
4.Der Gewaltverzicht und seine Durchsetzung müssen oberstes Gebot für Regelung gesellschaftlicher Konflikte bleiben oder werden. Solange unter Transformationsbedingungen Gewalt real zu den wichtigsten materiellen und politischen Ressourcen zählt, ist auch der Schritt in den gewaltsamen Konfliktaustrag kürzer als unter Bedingungen, in denen das Gewaltmonopol des Staates zuverlässig funktioniert. An diesem Zustand, so beklagenswert er auch ist, wird auch äußere militärische Intervention nichts Wesentliches ändern. Wo sie allerdings als unverzichtbar befunden wird, muß sie einer klaren politischen Zielorientierung dienen: Sie muß dem politischen Ausgleich zwischen den zur Konfliktursachenbeseitigung relevanten gesellschaftlichen Kräften dienen. Nur dann macht äußere Intervention Sinn. Alles andere schafft „Sieger und Verlierer“ oder falsche „nationalen Helden“.
5. Dem gängigen Verständnis von Konfliktprävention eine neue Ebene hinzufügen: Transformationsstaaten gezielt helfen, mit Konflikpotential selbst erfolgreich umzugehen. Wenn das Ziel darin besteht, inneres Potential zur Konfliktbewältigung aus eigener Kraft zu stärken, so erheischt das auch von Staaten, mit ihrer Politik gezielt zur Konfliktprävention beizutragen, was für beide Seiten gilt: Für die Staaten mit Konfliktpotential und für die äußeren. Eine solche Politik muß von vornherein kooperative Politik sein. Sie sollte nicht erst dann ein- und ansetzen, wenn es bereits „brennt“.
Hierzu könnte auch gehören, Transformationsländern Ausbildungsleistungen auf dem Gebiet der Konfliktprävention anzubieten. Auch ob und wie sogenannten regionalen „Patronagemächten“ eine größere Rolle bei externer Konfliktprävention und -bearbeitung eingeräumt werden sollte, wäre eine weitere zu bedenkende Frage.
6. Die bisher entstandenen Führungserfahrungen internationaler und regionaler Organisationen beim Umgang mit jenem neuen Konfliktyp sollten weiter erschlossen und verallgemeinert werden. Keine der gegenwärtig bestehenden Organisationen ist allein in der Lage, jene tragischen Konflikte zu verhindern oder zu regulieren. Dazu bedarf es eines konzertierten Vorgehens der Organisationen und der Staaten, das den jüngsten Erkenntnissen und Erfahrungen aus Konfliktregelung und Krisenmanagement Rechnung trägt.
Sicherlich kann davon ausgegangen werden, daß Unterstützen gewaltfreier Transformationsabläufe auch im Interesse der Führungen von Transformationsländern liegt. Darüber miteinander zu reden, ist an der Zeit. Der gegenwärtig wichtigste, weil allen Seiten gleichberechtigt offen stehende Kanal ist die OSZE. Sie verfügt bereits heute über die geeigneten Gremien, sich gezielt der Frage zu widmen, welche konfliktträchtigen Schwachpunkte mit welchen Mitteln gemeinsam wie zu bearbeiten sind. Im Rahmen ihrer Strukturen ließe sich ein Anfang machen, gezielt über Ansprüche und Erfordernisse von Konfliktprävention unter Transformationsbedingungen zu sprechen.
Insgesamt wird Nachdenken über die oben skizzierte Problematik in jedem einzelnen Staatenfall zu unterschiedlichen Prioritäten führen. Die dafür geeigneten diplomatischen Kanäle werden sich finden, so man denn will.