Publikation Warum Nachhaltigkeit?

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Erschienen

Dezember 2002

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Bei diesem Text handelt es sich um die Eröffnungsrede der Konferenz von Günther Bachmann.

Warum eigentlich Nachhaltigkeit? Wofür brauchen wir die Idee der Nachhaltigkeit und diesen sperrigen Begriff, noch dazu als Zeitgeistbegriff des 21. Jahrhunderts ? Reichen nicht die Kategorien der sozialen Gerechtigkeit aus dem 20. Jahrhundert - Verteilungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, Solidarität und Solidargemeinschaft - völlig aus, um aktuelle politische Herausforderungen angehen zu können?

Die Antwort auf diese Frage werden Sie am Ende Ihrer Tagung sicher besser geben können.

Als Auftakt will ich eine These in den Raum stellen. Die Idee der Nachhaltigkeit wirft etwas Neues auf, sie transportiert neue Inhalte für die - auch soziale - Gerechtigkeit im 21 Jahrhundert auf. Der Hintergrund, vor dem die Idee der Nachhaltigkeit zum politischen Leitbegriff wurde - Umweltschutz und wirtschaftliche Entwicklung als Aufgabe globaler Gestaltung - gibt der sozialen, ökonomischen und ökologischen Frage eine neue Dimension.

Nachhaltigkeit ist eine regulative Idee. Nachhaltigkeit zielt nicht mehr vorrangig auf den Staat als den wesentlichen Akteur ab, wie das die Kategorien der sozialen Gerechtigkeit mehr oder weniger immanent taten und tun. Nachhaltige Entwicklung ist nicht einfach ein Programm der staatlichen Daseins- und Wohlfahrtsvorsorge. Der Staat als Akteur ist wichtig, steht aber nicht allein. Ergänzend wird auf die zivilgesellschaftliche Verantwortung und Handlungsmacht abgestellt; das Verhältnis von Staat und Gesellschaft soll neu justiert werden.

Allerdings: Trotz der Betonung von Zivilgesellschaft und Eigenverantwortung ist das politische Konzept der Nachhaltigkeit keine Formel des Neoliberalismus. Beides, staatswirtschaftliches Denken und neoliberaler Marktradikalismus, sind keine Kategorien, mit denen sich Nachhaltigkeit fassen ließe. Was dann? Diese Frage will ich beleuchten.

I

Den Begriff "sustainable development" (ins Deutsche mit "nachhaltiger Entwicklung" zwar unzureichend, aber alternativlos übersetzt) hat die Brundtland-Kommission 1987 in den politischen Sprachgebrauch eingeführt. Sie reagierte auf eine Blockade zwischen der internationalen Umweltpolitik und der wirtschaftlichen Entwicklung der sogenannten Dritten Welt. Sie signalisierte mit ihm den angestrebten Interessenausgleich von Nord und Süd, von Industriegesellschaft und Entwicklungsländern und machte auf die neuen Herausforderungen einer globalen Umwelterhaltung und gerechten Ressourcenbewirtschaftung aufmerksam. Die Kommission definierte: Die angestrebte Entwicklung soll den Bedürfnissen der heute lebenden Menschen Rechnung tragen, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen einzuschränken. Die Brundtland-Kommission schlug vor, eine UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung durchzuführen, die dann im Jahr 1992 in Rio de Janeiro stattfand. Diese beschloss nicht nur die internationalen Regelwerke zum Klimaschutz (als Kyoto-Regime in Gang gesetzt), zur Wüstenbekämpfung und zur Erhaltung der Biodiversität, sondern verabschiedete auch ein Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert, die Agenda 21.

Umweltziele sollen in stärkerer Kooperation mit den verschiedenen Akteuren umgesetzt und partizipative Verfahren eingeführt werden, weil das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung nicht einfach von der staatlichen Ordnungspolitik im Wege des "command and control" verordnet werden kann. Neue Handlungsmuster des bürgerschaftlichen Engagements und der Übernahme von Verantwortung müssen entwickelt werden, um die Verständigung auf Leitbilder, Projekte, auf gemeinsame Strategien und neue politische Formen einer Politik der Selbst-Verpflichtung zu realisieren. In Deutschland wurde dies in den vergangenen Jahren vor allem durch die vielfältigen lokalen Agenda-Initiativen in ersten Ansätzen realisiert. Die gebotene Verknüpfung von Wirtschaft, Sozialem mit dem Ökologischem ist aber noch nicht eingelöst.

Im April 2002 hat das Bundeskabinett die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie mit ihren 21 quantifizierten Zielvorgaben beschlossen. Sie hat den Rat für Nachhaltige Entwicklung einberufen, ein politisches Beratungsgremium, das Personen zusammenführt, die der Idee der Nachhaltigkeit verbunden sind und die gesellschaftlichen Kräfte wie die Unternehmen, die Umwelt- und Verbraucherverbände, die Kirchen, die Wissenschaft und die Entwicklungsorganisationen repräsentieren.

II

Der Begriff ist keine akademische Seminarleistung, sondern Ergebnis realer Krisen in der Nutzung von Natur. Das zeigt seine lange Geschichte. Nachhaltigkeit erscheint angesichts des Ausmaßes heutiger Probleme aber in einem völlig neuem Licht.

Schon lange bevor der Begriff mit der Brundtland-Kommission Eingang in die internationale Politik fand, hatte die Nachhaltigkeit insbesondere im Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts eine Bedeutung als forstwirtschaftliches Konzept zur Bewirtschaftung der Wälder gewonnen. Der Anlass hierfür war eine tiefe Krise der Naturnutzung. Die Wälder wurden intensiv gerodet und abgeholzt, die verbliebenen wurden übernutzt, die Böden verarmten. Die Erzverhüttung beanspruchte in zunehmendem Maße Holz als Brennstoff. Auch in den wachsenden Städten benötigte man immer größere Mengen von Holz für das Bauen. Es drohte ein unwiederbringlicher Verlust der Wälder. Mit dem Grundsatz, nur die Menge an Holz zu ernten, die natürlicherweise nachwächst - und das jedes Jahr, über Jahre und Jahrzehnte hinweg -, legte die Forstreform den Grundstein für das Verständnis der Nachhaltigkeit.

Dieser Start der Nachhaltigkeit war eine ambivalente Angelegenheit, nicht frei von Zielkonflikten zwischen der ökologischen und sozialen wie der wirtschaftlichen Seite. Um die nachhaltige Fortwirtschaft einzuführen, wurde der Waldbestand zunächst inventarisiert und berechenbar gemacht. Die Waldinventur führte zur Aufteilung betriebswirtschaftlich definierter Schläge, zu Aufforstungen, aber auch zur Einführung von Monokultur-Kahlschlägen. Allerdings: Mit der nachhaltigen Bewirtschaftung ging in der Regel das Verbot der Nebennutzungen der Wälder einher (Streunutzung, Waldweide und Harz, Sammlung von Gerberlohe). Das betraf vor allem arme Bevölkerungsschichten und führte an vielen Orten zu sozialen Konflikten. So waren zum Beispiel die Brennholzlese und das Streusammeln in vielen Gegenden Frauensache. Als so genannte Fräulein-Revolten, "Desmoiselles"-Revolten, einem französischen Typ der Forst- und Agrarrebellionen, gingen Überfälle von Frauen auf die Forstbeamten des Staates in die Geschichte ein.

III

Indien hat 1 und China 1,3 Milliarden Menschen (Zahlen von 2000). In Indien ist das Bevölkerungswachstum in einem Jahr so groß wie die Bevölkerung Australiens (19 Mio.). Für 2050 wird prognostiziert, dass Indien China als bevölkerungsreichsten Land überholt.

Es ist also nicht ganz unwichtig, was sich in diesen beiden Ländern ereignet.

Stichwort Klima: Die Zusammensetzung der Atmosphäre hat sich im 20. Jahrhundert signifikant verändert. Der CO2-Gehalt ist seit Beginn der Industrialisierung um 30% gestiegen. Damit wandeln sich wichtige geophysikalische und ökologische Leitparameter der Erde. Wissenschafter prognostizieren zukünftige Temperatursteigerungen von 5,8 und 1,4° C, regional sehr unterschiedlich verteilt, mit vielfältigen Folgen für die Ökosysteme, die Welternährung und die Wirtschaft. Die Flut im Sommer dieses Jahres hat in Deutschland für Klarheit gesorgt. Wenn das Tiefdruckgebiet etwas südlicher durchgegangen wäre, hätte es Bayern voll getroffen. Bayern hat aber nur eine Hochwassersicherheit für ein 20jähriges Hochwasser! Die Klimafolgen werden im Süden Deutschlands schon beobachtet: Am Alpenrand wird es wärmer und feuchter, in den Mittelgebirgen und vor allem in Franken wärmer und trockener - beides mit erheblichen ökologischen und volkswirtschaftlichen Folgen.

Sicher bleiben wissenschaftliche Restdiskussion um die Ursachen für den Klimawandel. Aber unumstritten ist, dass die CO2-Emissionen Wirkungen auf die Atmosphäre haben. Heute werden in den USA 22, in Deutschland 11, in Indien und China 2-4 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr emittiert.

Unterdessen: Armut und Ungleichheit nehmen weltweit zu. Für das südliche Afrika, wo der WSSD stattgefunden hat, wird für die nächsten 10 Jahre ein Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung von heute 56 auf 42 Jahre prognostiziert. Diese Zahlen indizieren unendliches menschliches Leid und eigentlich unvorstellbare ökonomische Probleme in diesen Ländern. Änderungen sind nur denkbar im Zusammenhang mit der - endlich aktiven - Bekämpfung der Armut. Im Norden wird ein Anstieg auf 84 Jahre bis 2045 angegeben - sicherlich mit ganz anderen und wenig gravierenden, gleichwohl aber auch noch nicht gelösten Folgeproblemen.

Der indische Ministerpräsident hat als Gastgeber der Vertragsstaatenkonferenz zur Klimakonvention in Neu Dehli im Oktober aus dieser Situation die Schlussfolgerung gezogen: Wir wollen nachholen. Wir wollen Wachstum. Wenn der Norden uns nicht hilft, dann helfen wir uns mit den gleichen Technologien und Wachstumsstrategien, die der Norden genutzt hat - und zwar auf dem Rücken der Natur und der Menschen, das sei angefügt.

Die OPEC verlangte Entschädigungen für die nicht verkauften Ölmengen, die ihnen durch Klimapolitik des Nordens nicht abgekauft werden. Nebenbei: Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass die moderne Energiepolitik zu Gunsten der Erneuerbaren, der Energieeffizienz und der CO2-Politik schon greift, dann wird er hier geliefert.

Man mag lächeln, wenn man solche Anforderungen hört, und sicher gehören sie zum diplomatischen Muskelspiel im Vorfeld der Verhandlungen, die in den kommenden Jahren zur zweiten Verpflichtungsperiode des Kyoto-Vertrages führen sollen. Aber, ich finde, man sollte sich in den Industrieländern doch mindestens die Frage stellen, was eigentlich wäre, wenn die zitierten Stimmen doch Recht behalten sollten, wenn also die weltweite Klimapolitik doch sehr wesentlich aus der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Industrieländer bezahlt werden muss? Immerhin könnten sie darauf verweisen, dass die europäische Integration und die Erweiterung der Europäischen Union oft als Beispiel für einen Weg der wirtschaftlichen Anpassung und Entwicklung genannt wird. Und hier ist der Finanztransfer in großem Stile von den Nettozahlern in die Gemeinschaft bekanntlich eines der wesentlichen politischen Instrumente.

Dabei: Kyoto und die 1. Verpflichtungsrunde der Industrieländer sind nur ein sehr kleiner Schritt. Gleichwohl ist er strapazierend: Das Statistische Bundesamt hält die Erreichung des nationalen Klimaziels für 2005 von 25% für nicht, die 21% eventuell möglich. Um das 25% Ziel ist es in der Politik recht ruhig geworden. Aber eigentlich wäre noch viel Drastischeres nötig, nämlich eine 80 - 90 prozentige Reduktion von CO2-Emissionen in 2050 (gegenüber 1990), um die weiteren Klimaveränderungen zu stoppen.

Um für einen Augenblick nur von Deutschland zu reden: Zur Erreichung des "Ziel 2050" (2000 Watt-Gesellschaft, Reduktion von CO2 um 80 %) wird eine jährliche Energieeffizienzsteigerung in Deutschland von 4 % für nötig gehalten. Nach der Zielvorgabe der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie soll sich die Energieproduktivität zwischen 1990 und 2020 verdoppeln. Von 1990 bis 2001 hat sich die Energieproduktivität jährlich um 1,8 % erhöht. Zur Erreichung des 4%-Zieles wäre von jetzt an bis zum Jahr 2020 ein durchschnittlicher Anstieg um 2,7 % /a nötig. Der Rat hält 3 % für heute schon möglich, wenn man sowohl auf technologische, als auch auf technische und soziale Innovationen setzt. Das ist eine ganz neue Dimension des Umwelthandelns, der Vorsorge und der Energiepolitik.

IV

Heute hat Deutschland etwa 82 Millionen Einwohner. Auch bei einer jährlichen Zuwanderung von 100.000 Personen wird die Bevölkerung in 50 Jahren nur noch 65 Millionen stark sein. Bis zum Jahr 2050 wird dies dazu führen, dass auf 100 Personen im Erwerbsalter 80 Rentner kommen, während es heute erst 40 sind. Der demografische Wandel in Deutschland wird oft dahingehend interpretiert, dass wir 200.000 Zuwanderer pro Jahr brauchen, um die Sozialversicherungssysteme zu erhalten. Aber diese Sicht greift viel zu kurz. Wichtig ist doch vor allem, was der demografische Wandel für das gesamte gesellschaftliche Leben bedeutet - die Entwicklung der Städte, die Art zu wohnen, wie wir den sogenannten dritten Lebensabschnitt inhaltlich füllen, wie in unserer Gesellschaft der fortwährende Transfer von Wissen organisiert wird. Das wird noch viel zu wenig aufgegriffen als eine politische Gestaltungsaufgabe unter dem Vorzeichen der Nachhaltigkeit.

Und im übrigen: Der Braindrain, der Wegzug von Experten aus Afrika und damit der Abfluss von Humankapital aus diesem Kontinent bringt Verluste in Höhe von etwa 1/3 der gesamten Entwicklungshilfeausgaben der entwickelten Länder ein. Unsere Volkswirtschaften sähen ganz anders aus, wenn wir die Refinanzierung des Naturkapitals einrechnen würden und wenn wir das "Humankapital" beachten würden. Natürlich kann man eine Zeitlang von der Substanz leben, auf Pump wirtschaften. Aber das ist zeitlich begrenzt.

Subventionen von Industrie und Landwirtschaft bedeuten, dass wir bei uns diejenige Wertschöpfung behalten, die andere Länder eigentlich dringend brauchen. Es muss erreicht werden, dass wir die Wertschöpfungsketten in die Entwicklungsländer verlegen. Das ist viel wichtiger, als mit Entwicklungshilfe der Fehl-Trends entgegenzusteuern zu versuchen.

People - Planet - Prosperity ist eine konkrete Umsetzung der Idee der Nachhaltigkeit, People für die soziale Komponente, Planet für die ökologische Komponente und Prosperity für die wirtschaftliche Komponente, für verantwortlichen und umweltgerechten Wohlstand für alle. Zum Wohlstand kommt die Verantwortung - Verantwortung für den Wohlstand in den Industrieländern, Verantwortung für die Armutsbekämpfung in der Welt.

Ich wünsche Ihrer Tagung einen guten Verlauf.Konferenz: Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert.  15.-17. November 2002 in Berlin