Publikation Staat / Demokratie Neue Berliner Identitäten. Zu einer Veranstaltung des Jüdischen Kulturvereins Berlin

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Erschienen

Mai 2002

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"Integration, was, bitteschön, ist denn das?" Darüber diskutierten im Jüdischen Kulturverein Berlin e.V. mit Förderung der Rosa-Luxemburg-Stiftung nicht etwa die Vertreter eingeladener Migrantenorganisationen, noch weniger migrationspolitische Sprecher oder Mitarbeiter aus Parteien, sondern Ur-, Alt- und Rucksackberliner, darunter auch einige Sachsen, eine Frau aus Bayern, doch vor allem die weltläufigen Neuberliner beiderlei Geschlechts. Manche von ihnen wohnen eine Ewigkeit in Ost oder West, einer kam vor drei Monaten aus New York und ist dabei, das Integrationsvermögen Berlins zu erkunden, andere lebten in Polen, der Türkei, Sowjetunion, Schottland und Argentinien.

Geteilt werden Aus-, Einwanderungs-, Exil- und Rückkehrerfahrungen, so ein Gast, dessen Familie 1936 aus einem Odenwalddorf in die Türkei floh, zehn Jahre später nach Chile, dann in die DDR ging, in Moskau studierte und die Wende 1989 seine größte Herausforderung in Sachen Integration nannte, die er bis heute verarbeite. Lebensläufe wurden erzählt, die Zeitgeschichte sind. Wie kommt ein 37-jähriger Jude aus Baku 1992 während des Kriegs gegen Armenien mit einigen Worten Kinodeutsch ("Hitler kaputt", "Hände hoch") nach Berlin? Warum zieht es die in Argentinien geborene Tochter deutscher Juden mit 24 in die elterliche Heimat, für die ihr der Vater den Rat gibt: Du musst dich anpassen! Wie erlebt ein Moskauer Mathematiker mit 57, dass er sich nicht mit dem Beruf, sondern durch Sozialhilfe ernähren muss? Was steckt hinter der Gewissheit, Berlin den Rücken zu kehren? Wie ist es, nach vielen Jahren im veränderten Großbritannien dort auch nicht mehr zu Hause zu sein, und welche Erfahrungen prägen das Kind türkischer Arbeitsmigranten, das in ein deutsches Dorf nachgeholt und wegen dunkler Haut als "Zigeunerin" bezeichnet wird? Diese Frau wandert in die Türkei zurück, fühlt sich wohl, spricht mit deutschem Akzent und geht dann doch nach Berlin, um hier Sozialarbeit für türkische Senioren zu leisten. Ihre Landsmännin aus großbürgerlichem Haus kam erst mit 30 Jahren, als politischer Flüchtling. Sie studierte u.a. Ethnologie und verschrieb sich akademisch der Minderheitenproblematik.

Zentral war an diesem Abend das Thema Integration. Das Wort wird leichtfertig von Politikern benutzt, von Medien aufgeschnappt. Doch für die, die es angeht, scheint es in der auf Deutsch so verkürzten Form belanglos. Wer wird durch wen mit welchem Ziel wo hin integriert? Nicht nur muslimische Frauen können sich mit und ohne Kopftuch in ihrer Community integriert und in der benachbarten Straße ausgeschlossen fühlen. Dauert Integration ein Leben - oder endet sie, wenn Akzeptanz im Alltag überwiegt? Mentalitätsunterschiede zu erkennen und zu verstehen gehört dazu.

Alle waren sich auch einig, dass Integration den Respekt der eigenen Kultur, der unterschiedlichen und der sich im Laufe der Zeit überlappenden kulturellen Identitäten voraussetzt. Schließlich entscheidet jeder Mensch, wie er leben und mit seinen Wurzeln umgehen möchte. "Lassen Sie sich nicht germanisieren!" Diesen Satz gab ein Professor einer jüdischen, aus Polen über Moskau nach Ostberlin gekommenen Frau während ihres Geschichtsstudiums vor über 40 Jahren mit auf den Weg. Integration ist Kommunikation, verläuft in Etappen, braucht gemeinsame Sprache - andererseits: wem schadet's, wenn Einwanderer sich ethnische Nischen basteln, wie die aus Kurdistan geflohenen älteren Yeziden, die in der Nähe von Münster ihre eigene Dorfgemeinschaft bilden, was deutsche Behörden aus prinzipiellen Gründen beenden möchten.

Wir, sagte eine polnische Frau mit deutschem Pass, sollen andere nicht erschrecken, wie desintegrierte Jugendliche es in der U-Bahn gern praktizieren. Ethnische Enklaven könnten bereichern, stattdessen stehen sie unter dem permanenten Verdacht zu untergraben, was als "Leitkultur" und im Sammelbegriff "Ausländer" verschmolzen wird. Wer sich im ersten Leben integriert fühlte, wird anderswo weniger Probleme, dafür Strategien zur Eingliederung und die Gabe haben, das Andere anzunehmen. Identisch mit sich sein heißt nicht, anderes ablehnen.

Integration ist erlernbar, eine Einstellungsfrage. Der Mensch aber bleibe in der Fremde oft ein Fremder, so der Migrant aus dem Odenwald, doch die Frage steht: Wie offen bin ich für die andere Kultur? Was heißt schon deutsch? fragte einer und verglich das mit den USA, wo jede Familie irgendwann eingewandert ist und sich Neueinwanderer mit Staatsgründern, Sprache und Verfassung identifizieren, was in Deutschland aus vielen Gründen undenkbar ist, wo Angst vor Fremden zu Abkapselung führt. Deutsche Politik ist extrem integrationsfeindlich, sagte ein anderer, sie fordert Assimilation, statt Eingliederung zu fördern. Wer die politischen Reden verfolgt, stößt auf Wissensmangel und die verklemmte Verleugnung inter-nationaler Besonderheiten im Einwanderungsgebiet Deutschland. Kriminalisierung ist angesagt, was auch als "Parallelgesellschaft" Eingang in die Staatssprache fand. Das diskreditiert Kultur und Lebensweisen anderer und heizt Vorurteile an.

Die europäische Kolonialgeschichte hat ihre Spuren gelassen, Frankreich und den Niederlanden hat sie andere Landsleute eingebracht als den Deutschen nach 1918 bzw. 1945 und 89. Zwar beginnt Deutschland gerade, sich als Einwanderungsland zu outen, doch es fehlt eine Integrationspolitik, die Migranten-Gruppen unterscheidet, Berufsarbeit als Mittel zur Eingliederung versteht, Spracherwerb unterstützt und die Amtssprache den Bevölkerungen anpasst. Die Wirtschaft hat mit der Greencard-Debatte und dem Ethno-Marketing bereits Änderungen eingeleitet, bevor jene Politiker aller Parteien, die sich behäbig als Fürsprecher der Minderheiten wähnen, diesen Wandel überhaupt bemerkten - das wurde bei dieser großen Runde auch noch festgestellt. Konfernz: Kommen und bleiben. Migration und interkulturelles Leben in Deutschland. am 24./25. Mai 2002 in Köln, in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Nordrhein-Westfalen.