Vom Weltsozialforum - 16. - 21. Januar 2004 in Mumbai (Indien)
Die Bourgeoisie hatte sich bis 1914 ihre Welt geschaffen und sie dann selbst zerstört. Daraus entsprangen die Kompromisse im Zeichen des totalen Krieges mit den Arbeiterorganisationen schon während des ersten Weltkrieges, schließlich der Versuch, eine kommunistische Gegenwelt zu schaffen. Diese ist bekanntlich 1989/91 untergegangen. Seither sind die Bürgerlichen dabei, die Welt wieder zu der von ihnen durchherrschten zu machen. Das heißt heute "Globalisierung". Man will den Fehler des Nationalismus nicht wiederholen und organisiert das gleich in weltweitem Kontext. Weltbank, Internationaler Währungsfonds, die New Yorker Börse und das Pentagon sind ihre wichtigsten Agenten, der "freie Markt" und der imperiale Krieg zwei Seiten der gleichen Medaille. Und man will nicht wieder einen sozialen Gegner erstarken lassen, wie einst die Arbeiterbewegung. Darum etwa hierzulande die dauernden Hiebe auf die Gewerkschaften und das Dafür-Sorgen, dass es nicht wieder marxistische Professoren an den Universitäten gibt. "Es gibt keine Alternative!", lautet der Schlachtruf.
Die soziale Frage stellt sich auf globaler Ebene heute neu: Es ist eine internationale Nobilität entstanden, der diese kapitalistische Weltwirtschaft gehört und die keinerlei soziale Verantwortung verspürt. Die Milliardäre der USA sind wohlhabender als die gesamte Kaufkraft des Riesenlandes "Volksrepublik" China; die reichsten 365 Personen der Welt verfügen zusammen über ein größeres Einkommen als die 1,2 Milliarden der Ärmsten der Welt. Diese soziale Frage aber schafft sich ihren Austrag immer wieder neu, die bürgerliche Gesellschaft ihren sozialen Gegner, der am Ende eben nicht einfach mit Marschflugkörpern aus der Welt zu schaffen ist, und der sich politisch konstituiert im Namen der Demokratie.
Massiver Widerstand formierte sich: Chiapas, Seattle, Genua, Cancun verkörpern die "Schrift an der Wand". "Eine andere Welt ist möglich", lautet sie in den Worten des Weltsozialforums, dreimal in Porto Alegre und nun in Mumbai, in Indien. Entstanden als Gegenentwurf zu den Treffen der Reichen und Mächtigen in Davos war auch das Weltsozialforum von Mumbai wieder ein breiter gesellschaftlicher Ratschlag: Arbeiter und Arbeitslose, Sozialwissenschaftler, Bauern und Umweltschützer, Schwule, Lesben und Vertreter von Jugendbewegungen, Christen, Moslems und militante Linke, Vertreterinnen der Frauenbewegungen, der "Sex-Arbeiterinnen" sowie die Streiter gegen jede Form der Ausgrenzung und viele andere kamen zusammen, die auch hier zuvor so nicht miteinander geredet oder gar demonstriert haben. Auf der Versammlung der sozialen Bewegungen aus aller Welt, die auch hier wieder anlässlich des Sozialforums getagt hatte, wurden sechs Bewegungen ausgemacht, die enger als zuvor im Dialog gestanden hatten:
- Arbeiterbewegung,
- Bauernbewegung,
- Studenten,
- Frauenbewegung,
- Schwule, Lesben und Transgenderbewegung sowie
- die "Ausgegrenzten", die hier in Gestalt der Dalits, der "Kastenlosen" besonders in den Mittelpunkt des Protestes gerückt waren.
In einer Konferenz, die eine der großen brasilianischen Nichtregierungsorganisationen organisiert hatte, saßen auf dem Podium Vertreter dieser sehr verschiedenen Bewegungen, und es begann damit, dass jeder etwas über den Nachbarn oder die Nachbarin sagen sollte. Dabei zeigte sich zweierlei: dass dies schwierig ist, aber dann doch gut funktioniert - der Dialog fand statt.
Bereits am Vorabend des Forums hatte der Internationale Rat des Weltsozialforums in Mumbai in einer ersten Session getagt. Dort berichteten die Vertreterinnen und Vertreter des indischen Organisationssekretariats über die Umsetzung ihres Konzeptes. Sie hatten weniger große Konferenzen vorbereitet, als etwa in Porto Alegre oder auf dem Europäischen Sozialforum in Paris veranstaltet worden waren. Auch hatten sie nur etwa die Hälfte dieser Konferenzen selbst organisiert, die anderen verschiedenen großen Organisationen überlassen. Insgesamt waren außerdem über 1600 Seminare und Workshops angemeldet worden. Die Anbieter waren dann gebeten worden, sich auf der Webseite die anderen Angebote anzuschauen und nach Möglichkeit Veranstaltungen zusammenzulegen. Sie selbst sollten das tun, freiwillig und selbstorganisiert. Hier ist anzumerken, dass bei der Vorbereitung des Europäischen Sozialforums 2003 die französischen Organisatoren in der internationalen Programmgruppe darauf bestanden hatten, diese müsse die Zusammenlegungen organisieren - mit der Intention, auch aus der Seminarliste gleichsam ein europäisches Gesamtkunstwerk zu machen; das Ergebnis war, dass etliche der Anbieter diese Zusammenlegung nicht wollten und verärgert verzichteten. In Indien wurden alle Veranstaltungsangebote akzeptiert, so dass am Ende etwa 1200 Seminare und Workshops im Programm standen, und: die bereits zwei Wochen vor Beginn des Forums mitgeteilten Orte und Zeiten wurden alle realisiert. Bei der Auswertung der deutschen Teilnehmer des Forums in Mumbai murmelte jemand etwas von "Chaos" - die indischen Organisatoren haben zumindest eine bemerkenswerte Chaoskompetenz bewiesen.
Die thematische Palette war in vielem Fortsetzung früherer Debatten: Welthandelsorganisation (WTO) und das beabsichtigte Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), das weltweit die öffentliche Daseinsvorsorge zerschlagen soll, das genmanipulierte Saatgut, Wasser, Bürgerrechte, Gewerkschaften, Umwelt, die transnationalen Konzerne usw. Vergleicht man das Programm mit dem früherer Foren, in Porto Alegre oder Europa, so fallen drei Punkte auf: Krieg und Frieden standen auf besondere Weise im Mittelpunkt, die Lage der Frauen, in Indien und weltweit, sowie die Rechte der "Ausgegrenzten", der "Ärmsten der Armen". Das Thema: der Krieg und die Frauen nahm dabei wiederum einen spezifischen Platz ein. In diesem Sinne lag das Seminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema: "Gender und der nicht enden sollende Krieg" gleichsam an einem zentralen thematischen Schnittpunkt. Es hatte auch deshalb besonderen Anklang gefunden, weil Frauen aus Palästina, Israel, Bosnien und Afghanistan aus eigenem Erleben über die Greuel des Krieges berichtet hatten. Der ebenfalls eingeladenen Frau aus dem Irak hatten die Besatzungsbehörden die Ausreise verweigert, wahrscheinlich als Beitrag zur "Demokratieförderung" im Irak.
Insgesamt waren es über 100.000 Menschen, die am Weltsozialforum in Mumbai teilgenommen haben. Es waren natürlich weniger Menschen aus Lateinamerika da und mehr aus Asien bzw. Indien, als in Porto Alegre - das festzustellen scheint eher eine Platitüde, ist es aber nicht: Es war ja gerade der Sinn der Entscheidung des Internationalen Rates vom Januar 2003, nach Indien zu gehen, um das Weltsozialforum aus dem Ursprungskontext in Lateinamerika zu lösen und es in die Welt zu senden. Die große Resonanz in Indien, aber auch die Teilnahme aus Pakistan, Südkorea und Japan zeigen, dass es sich mittlerweile um ein Weltphänomen handelt.
Und wie wird es weitergehen? Die bürgerlichen Medien haben überwiegend freundlich berichtet. Es ist die alte Vorgehensweise, alternative Bewegungen zurückzuholen in den Schoß der eigenen Kontexte; diese Freundlichkeit heißt auch, es habe nichts Neues gegeben. Wie soll es auch jedes Jahr neue Ideen zur Alternative geben, wo die vorhandenen noch gar nicht umgesetzt sind? Eine andere Variante ist, dass jetzt der Internationale Rat entdeckt wurde. Er sei nicht demokratisch legitimiert. Wie legitimiert man eine Bewegung, die Kraft ihres Charakters keine statuarische Mitgliedschaft kennt? Bei den ersten Foren in Porto Alegre war ein Rat gegründet worden aus Vertretern von Organisationen, die das damals unterstützten. Na und? Er beschließt eigentlich nur, wo das nächste Forum stattfinden soll, und ist Hüter der "Charta von Porto Alegre", die die Sozialforumsbewegung vor Begehrlichkeiten sektiererischer Avantgarde-Gruppen schützen soll. Und das ist wichtig, wissen doch alle, dass dies der Tod der Bewegung wäre.
Der berühmte Sozialhistoriker und Theoretiker des "Weltsystems" Immanuel Wallerstein machte kürzlich in einem Text zum Thema: "Wohin steuert die Welt? Geopolitische Brüche im 21. Jahrhundert" (WeltTrends Nr. 40, Herbst 2003) drei grundlegende Brüche aus, die die Welt im 21. Jahrhundert bestimmen:
- einen Bruch "innerhalb der Triade", insbesondere zwischen Westeuropa und den USA, was nach den Turbulenzen um den Irak-Krieg des Bush nicht verwundern kann,
- den bekannten Bruch "zwischen Nord und Süd" und
- einen "Davos-Porto Alegre-Bruch".
"Porto Alegre" steht hier nicht für den realen Ort, sondern als Synonym für die Bewegung der Weltsozialforen. In beiden, in dem "Geist von Davos" wie in dem von "Porto Alegre", sieht Wallerstein Transformationsbewegungen, die auf die Veränderungen in der Welt, die "strukturelle Krise des Weltsystems" reagieren. Sie tun dies aber grundsätzlich verschieden, entgegengesetzt, sie sind die Pole, zwischen denen die politischen und moralischen Grundentscheidungen über die Zukunft getroffen werden: ist der Mensch, sind seine Bedürfnisse und Interessen das Maß aller Dinge, oder aber ist dies eine entgrenzte Profitwirtschaft. Wallerstein betont: "Der Bruch zwischen dem Geist von Davos und dem von Porto Alegre lässt sich geographisch nicht lokalisieren. Er ist aber der grundlegendste unter den dreien. An seinen Rändern wird nicht um die Zukunft der nächsten 25 bis 50 Jahre gerungen, sondern der nächsten 500 Jahre."
Auch deshalb sollten wir Mumbai jetzt nicht kleinreden lassen. Hinzu kommt: dass die Charta von Porto Alegre weiter gilt, heisst auch, dass Parteien als solche auf dem Sozialforum nichts zu suchen haben. Aber sie werden zugleich gebraucht, um Dialogpartner zu sein und die Ideen des Sozialforums in den politischen Raum zu tragen. Das Bewusstsein darum hat seit Paris und Mumbai weiter Platz gegriffen. Das bedeutet aber, eine solche Partei hat nur eine Chance als Partei der Alternative, als eine, die die Ideen der Sozialforen aufzunehmen vermag, ohne die sozialen Bewegungen instrumentalisieren zu wollen. Der "Davos-Porto Alegre-Bruch" konstituiert auch das Parteiensystem neu: auf der einen Seite die Parteien des "Geistes von Davos", das Kartell der Parteien der Sozialkürzung, des Neoliberalismus, auf der anderen Seite die des "Geistes von Porto Alegre", die da gewiss sind: "Eine andere Welt ist möglich!" Das wird auch hierzulande nicht ohne Folgen bleiben.