UTOPIE kreativ, H. 115/116
(Mai/Juni 2000),
S. 525-533Debatten über historische Forschung sind immer auch politische Debatten, bei denen es oft mehr um die Interpretation geschichtlicher Sachverhalte als um die Sachverhalte selbst geht. So ist die Buchenwald-Forschung der neunziger Jahre eine Kontroverse, die dem Zeitgeist und den ideologischen Auseinandersetzungen der »postkommunistischen Ära« überhaupt entspricht. Historiker und vor allem die Öffentlichkeit haben dabei ihre Aufmerksamkeit speziell auf eines gelenkt: die sogenannte »Geheimakte Buchenwald«.
Die »Geheimakte« umfaßt Dokumente einer parteiinternen Untersuchung, die die KPD beziehungsweise SED 1946 gegen Ernst Busse und andere Häftlingsfunktionäre einleitete, nachdem anonyme Beschuldigungen wegen deren Verhalten im KZ Buchenwald an die zuständigen Parteistellen herangetragen worden waren. Ernst Busse, in Buchenwald für einige Zeit Lagerältester und mehr als drei Jahre lang Kapo des Häftlingskrankenbaus (Revier), war 1946 thüringischer Innenminister. Er stand somit im Lichte der Öffentlichkeit, weshalb die Partei in der Zeit des längst ausgebrochenen Kalten Krieges Anlaß hatte, die Vorwürfe gewissenhaft zu prüfen und Busse gegebenfalls auf einen unauffälligeren Posten abzuschieben.
Die Vorwürfe gegen Busse & Genossen lauteten wie folgt:
Erstens: Im illegalen KPD-Aktiv des KZ Buchenwald habe es scharfe politisch-ideologische Kämpfe zwischen Parteifraktionen gegeben, infolge derer eine gewisse Zahl von Genossen mit dem Tode bedroht worden sei.
Zweitens: Ernst Busse hätte sich als Revierkapo gemeinsam mit seinem Stellvertreter, Otto Kipp (ebenfalls KPD), am sogenannten »Abspritzen« von Häftlingen mitschuldig gemacht, d.h. an der Tötung durch Giftinjektion.
Drittens: Durch die Schuld Busses sei ein sowjetischer Genosse umgekommen. Der Betreffende war ihm durch sowjetische Kontaktleute als Feind der Partei benannt worden, weshalb er ihn nicht ins Revier aufnahm. In Wirklichkeit sei gerade das Gegenteil der Fall gewesen, d.h. ein eigentlich zuverlässiger Genosse sei zu Unrecht denunziert und infolgedessen nicht geschützt worden. Busse hätte, bevor er seine Entscheidung traf, erst Rücksprache mit den russischen Verantwortlichen halten müssen.
Viertens: 1944 wurde ein russischer Offizier, der vor seiner Hinrichtung geflohen war, vom Lagerschutz der SS ausgeliefert. Die Partei habe nichts für seine Rettung unternommen.
Fünftens: Busse und Kipp hätten wiederholt das im Sommer 1943 eröffnete Bordell (sog. Sonderbau) besucht. Ferner habe eine der Huren eine Zeitlang auf Busses Zimmer im Revier gelebt.
Sechstens: Als ab etwa 1944 Paketsendungen des Roten Kreuzes in Buchenwald eintrafen, hätten sich KPD-Funktionäre an den Inhalten der Pakete bereichert. Überhaupt hätten einige Häftlinge in zu verurteilendem Maße Privilegien genossen.
Das Parteiverfahren begann im Oktober 1946 mit einer Gegenüberstellung Busses mit Toni Waibel und Victor Drewnitzki, zwei der mutmaßlichen Ankläger. Es folgte eine Reihe einzelner Vernehmungen von Parteimitgliedern, aus denen – im Unterschied zu späteren Verfahren – weniger ein inquisitorischer Geist als vielmehr das Bestreben, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, spricht. Im Abschlußbericht der Kommission wurden die Anschuldigungen in allen wesentlichen Punkten zurückgewiesen. Kritische Anmerkungen finden sich nur zum Verhalten Busses in der Bordell-Frage und zum Umstand, daß einzelne Genossen Geschenke ins Bordell getragen haben. Die Kommission wies in ihrem Bericht wiederholt darauf hin, daß für nicht eingeweihte Häftlinge mitunter der Eindruck entstanden sein könnte, die Funktionäre hätten mit der SS gemeinsame Sache gemacht, während sie tatsächlich nur »einen gewissen äußerlichen Umgang« mit ihr pflegen mußten.1
Im ganzen beinhalten die Protokolle der Untersuchung kaum etwas, das zur Revision bisheriger Forschungsergebnisse zwingt. Sie belegen die Verfehlungen einzelner und sind ansonsten »lediglich« dazu geeignet, die ganze Ambivalenz des Häftlingslebens, insbesondere des Wirkens der Funktionäre innerhalb der sog. Häftlingsselbstverwaltung zu verdeutlichen. Sie dokumentieren zweifelsfrei, daß der Widerstand im KZ kein »sauberer« war, lassen ihn bei kritischer wie sachkundiger Prüfung aber trotzdem nicht als inhuman oder unmenschlich erscheinen.
Zu anderen Schlußfolgerungen kam freilich die Öffentlichkeit, nachdem der Inhalt der »Geheimakte« in entsprechend geeigneter Weise an sie herangetragen wurde. Im Sommer 1992 wurden die Dokumente an die Gedenkstätte Buchenwald übergeben, welche, nach erster Sichtung, noch in ihrem Jahresbericht 1992 eine historisch-kritische Edition derselben ankündigte. Über die kommunistischen Häftlingsfunktionäre heißt es darin u.a.: »Nach einer Phase unreflektierter Heldenverehrung werden sie wieder als Menschen erkennbar, denen menschliches und moralisches Versagen, Egoismus und Schwäche eigen sind.« (Neue Zeit, Berlin, 5. 3. 1994)
Zumindest für Fachleute enthielten die Dokumente nichts Sensationelles, weil diese mit den Problemen und mit einzelnen Fakten seit Jahren vertraut waren. Ebensowenig sensationell schien die Sache für die westdeutsche Öffentlichkeit zu sein, behandelte doch schon Eugen Kogon in seinem berühmten Buch »Der SS-Staat« viele Fragen, die nun mit der Geheimakte aufgeworfen wurden. Das alles hinderte die Herren und Damen der Presse jedoch nicht, auf Sensation zu machen und sich in Enthüllungsjournalismus zu üben. Noch ehe die historisch-kritische Herausgabe der Dokumente besorgt worden war, gab die Thüringer BILD-Zeitung am 12. Februar 1994 den Startschuß mit einer Serie unter Titeln wie »So halfen Kommunisten den Nazis beim Morden« und »Wer KPD-Bonzen stört, landet im Todesstollen«. Wer der BILD-Zeitung das Material zuspielte, ist nicht sicher; jedenfalls gelangten von nunan mehr und mehr Einzelheiten aus den Dokumenten in die Presse. Die Neue Zeit, die FAZ und Springers Welt am Sonntag griffen die »Debatte« begierig auf, ND und junge welt hielten dagegen.
Nachdem die Presse bereits mit der »konservativen Demontage des Widerstands« (junge Welt) begonnen hatte, folgte 1994 die Veröffentlichung der vorab besprochenen Dokumente. Der Auftrag zur Herausgabe war derweil von Harry Stein an Lutz Niethammer übergegangen, einen Historiker aus Hessen, dem im Zuge der Wende ein Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Jena zuteil geworden war. Seit sein Name sich mit der Buchenwald-Debatte verband, gab Niethammer sich betont sachlich und reserviert; er geißelte sogar die BILD-Zeitung, »Enthüllungen in ›Schmierereiform‹ betrieben zu haben« (FAZ vom 11. 4. 1994). Die erhitzte Debatte sei ihm und seinen Mitarbeitern Anlaß gewesen – so sagte und schrieb er jetzt –, die Herausgabe der »Geheimakte« und anderer Dokumente zu beschleunigen, um die Diskussion zu versachlichen. Heraus kam dabei eine einigermaßen schludrig bearbeitete Quellenedition, deren Titel lautete: »Der ›gesäuberte Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald«. Sich widersprechende Angaben, unkorrekte biographische Fakten, ungenannte Informanten, spekulative Äußerungen finden sich darin in nennenswerter Zahl.
Es gehe ihnen nicht um eine »Schmähung des Widerstands«, betonen die Herausgeber im Vorwort, sondern vielmehr um »rettende Kritik« – hatte doch die SED durch ihre Heroisierung den Helden die menschlichen Züge genommen, die man ihnen nun quasi wieder rückverleihen wolle, um sie damit umsomehr zu würdigen. Außerdem – so das Bekenntnis – ginge es weniger um den Widerstand an sich als vielmehr um den Umgang der SED mit ihren Buchenwalder Genossen und die antifaschistische Legendenbildung in der DDR.
Gegen die Absichten der Herausgeber wäre nichts einzuwenden, aber die Einleitung, die Niethammer & Co dem Dokumententeil voranstellen, straft ihre Proklamationen Lügen. Der illegalen Buchenwalder KPD wird eine »mafiose Struktur kollektiver Selbstbehauptung« unterstellt, die vor allem die Sicherung des Überlebens der eigenen Kader zum Ziel gehabt hätte. »Das Geheimnis dieser Kaderschonung hieß Selbstverwaltung und Opfertausch.« Im Klartext: Funktionen im System der sogenannten Häftlingsselbstverwaltung hätten die Kommunisten nur besetzt, um die eigene Haut zu retten – und das, weil die Umstände ohnehin nichts anderes zuließen, zuungunsten anderer. Daß es der KPD dadurch gelang, die Verhältnisse für die gesamte Häftlingsgemeinschaft zu bessern, liest sich eher wie ein ungewolltes Eingeständnis, und daß es ihr gelang, im April 1945 21.000 Menschen, darunter 3.000 Juden und etwa 900 Kinder, vor der Vernichtung durch die SS zu retten, wird erst gar nicht erwähnt. Stattdessen weiß Lutz Niethammer, daß die Funktionshäftlinge, insbesondere die roten Kapos, eine »herrschende Zwischenschicht im Machtgefüge des Lagers« waren, daß es eine »Kooperation zwischen SS und ›roten‹ Funktionshäftlingen« gegeben habe, daß der Zusammenhalt der »kommunistischen Kader … durch die materiellen Vorteile der Privilegien gefestigt« worden sei, und last but not least die Masse der Häftlinge, vor allem der aus dem Ausland, die KPD-Funktionäre »als Teil der deutschen Herrschaft über das Lager« erlebt hätten. Und schließlich: »… die Buchenwalder Kommunisten waren Deutsche. Was sie mit der SS teilten, waren nicht deren politische Ideologie und Ausmerzungsstrategien, sondern – wie die meisten Deutschen – der konventionalisierte alltägliche Sozialrassismus. Die Nazi-Begriffe ›Berufsverbrecher‹ oder ›Asoziale‹ gingen ihnen ohne zu zögern von den Lippen, Zigeuner hielten sie wie die meisten Deutschen für undurchsichtiges Gesindel, die konventionellen Stereotype der Deutschen über ihre Nachbarnationen waren den meisten von ihnen nicht bewußter als dem Rest der Gesellschaft …«2
So eifrig, wie die »Enthüllungen« der »Geheimakte Buchenwald« vor ihrer Veröffentlichung in den Medien bejubelt worden waren, ging das Feuilleton der bürgerlichen Presse nun dazu über, das Erscheinen des Niethammer-Bandes abzufeiern. In der »Süddeutschen Zeitung« (29. 11. 1994), in der »Welt« (7. 1. 1995), im »Tagesspiegel« (4. 3. 1995) und später selbst in der »taz« war man des Lobes voll, während Niethammer in »Die Zeit« (4. 11. 1994) und in der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (20. 12. 1994) noch Kritik von rechts erfuhr, weil er die stalinistischen Säuberungen nicht genügend thematisiert bzw. die Enthüllungen der Dokumente »als Angebot zur ›rettenden Kritik‹ unterbreitet« habe. Ausgewogener wurde der Band nur in der »Frankfurter Rundschau« (17. 12. 1994) besprochen, während die Gegenstimmen erneut in der »jungen welt« (21. 3. 1995) und in »Neues Deutschland« (12. 12. 1994 und 21. 3. 1995) nachzulesen waren.
Perfide und gleichzeitig bloßstellend an dem Presserummel war, daß die Lohnschreiber des Bürgertums sich zu Anwälten linker Moral aufspielten. Als wenn der FAZ, ihren Geldgebern und ihren Claqueuren jemals an einem wirksamen und humanen Widerstand gelegen gewesen wäre! Die heute so sehr gescholtene KPD (bzw. SED) kann nicht nur die parteiinterne Untersuchung von 1946 für sich verbuchen, bei der sie ihre Funktionäre streng auf deren Verhalten während der Nazi-Zeit überprüfte. Sie kann sogar, was das Buchenwalder Parteiaktiv anbelangt, auf die Einsetzung einer Partei-Kontroll-Kommission am 12. April 1945, nur einen Tag nach der Befreiung, verweisen. Die Kommission schloß seinerzeit 59 Mitglieder aus der Partei aus, zumeist wegen Flucht aus dem KZ ohne Parteiauftrag oder wegen politischer Inaktivität während der Haft. In einzelnen Fällen wurden die Ausschlüsse wegen »unsauberen« Verhaltens oder enger Zusammenarbeit mit der SS beschlossen. Die KPD – selbst ein Aktivposten im antifaschistischen Widerstand – achtete also durchaus auf die Moral ihrer Mitglieder. Aber was taten die bürgerlichen Parteien? Hat überhaupt noch eine andere deutsche Partei ihre Mitglieder nach 1945 auf Herz und Nieren geprüft? Und ist nicht schließlich die Empörung der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora verständlich, die fragte, woher Niethammer, ein Mann »aus dem Lande der Globke und Kiesinger, der Oberländer und Filbinger, der Blutrichter Hitlers und Gestapo-Polizisten«, denn das Recht nähme, mit Schimpf und Schande über die Antifaschisten und den Umgang der DDR mit ihnen herzufallen?3
Es darf nicht vergessen werden, daß es in der alten Bundesrepublik praktisch keine historische Forschung über Buchenwald oder den dortigen Widerstand gab. In vierzig Jahren BRD erschienen zwar eine Reihe von Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge, aber diese Veröffentlichungen kamen in aller Regel durch die Unterstützung des jeweiligen politischen Umfelds der Personen zustande. Beiträge zur Buchenwald-Forschung wurden weder im Rahmen irgendwelcher universitären Forschungsprojekte noch mit Hilfe der diversen staatlich geförderten Stiftungen oder Institute geleistet. Ausnahmen sind lediglich eine 1969 an der Universität Marburg vorgelegte Dissertation über das Volksfrontkomitee in Buchenwald sowie die 1978 veröffentlichte Studie Falk Pingels von der Universität Bielefeld, die den Titel trägt: »Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung in Konzentrationslagern«. Diese im Vergleich zur DDR-Forschung äußerst magere Ausbeute verweist darauf, daß es nach 1990 weniger darum ging, einen jahrelangen Forschungsrückstand wettzumachen, als vielmehr darum, auch auf dem Gebiet des antifaschi- stischen Widerstands die ideologische Endabrechnung mit dem Sozialismus zu betreiben bzw., über diese hinaus, radikaloppositionellen Geist zu kompromittieren.
Während zwei in den neunziger Jahren veröffentlichte Bücher des Hildesheimer Historikers Manfred Overesch dieselbe Stoßrichtung aufwiesen wie der Niethammer-Band, indes aber weniger Beachtung fanden, drohte eine Neuerscheinung von 1996, das Bild vom blutbefleckten Widerstand zu relativieren. Es handelt sich um den von David A. Hacket herausgegebenen »Buchenwald-Report.« Dieser kam auf Betreiben amerikanischer Militärs, denen das Lager im April 1945 in die Hände gefallen war, zustande. Mit dem Ziel, die Welt und insbesondere die deutsche Öffentlichkeit über die Greueltaten der Nazis aufzuklären, entsandten sie am 16. April 1945 ein Team des Nachrichtendienstes der Abteilung für psychologische Kriegführung des alliierten Oberkommandos in Paris nach Buchenwald. Es stand unter der Leitung von Lieutenant Albert G. Rosenberg und erarbeitete gemeinsam mit einer Gruppe von Häftlingen, deren Kopf der Österreicher Dr. Eugen Kogon war, in weniger als vier Wochen einen Bericht über Funktionsweise und Binnenstrukturen des Lagers. Der Bericht galt jahrzehntelang als verschollen. Da eine Kopie des Originals in den Händen Kogons verblieben war, der 1946 sein darauf fußendes Buch »Der SS-Staat« veröffentlicht hatte, wurde die Öffentlichkeit dennoch mit seinem Inhalt vertraut. Eine andere Kopie verblieb bei Lt. Rosenberg. 1987 übergab er sie seinem Kollegen Hacket von der Universität El Paso in Texas mit der Bitte um Veröffentlichung.
Die Herausgabe des Buchenwald-Reports stellte die Forschung vor keine gänzlich neuen Fragen, waren doch die meisten seiner Inhalte schon durch Kogon bekannt, während sie sich streckenweise auch mit denen des Berichts vom Internationalen Lagerkomitee aus dem Jahre 1946 deckten. Der Report bot »lediglich« die Chance, die aktuelle Debatte über das Verhalten der »roten Kapos« vom Kopf auf die Füße zu stellen. »Die Dokumente des Niethammer-Buches«, schrieb Georg Fülberth in »Konkret« (1/97), »werden durch den Buchenwald-Report nicht entkräftet, aber es wird der Kontext der gesamten Lager-Realität sichtbar. Die beiden Bände verhalten sich komplementär zueinander.« Daß dieser Kontext die Meinungsmacher nicht interessierte, weil es ihnen nun mal um etwas ganz anderes ging, wußte und weiß Fülberth natürlich ebenso.
In der FAZ, dem »Tagesspiegel«, in »Die Zeit« und in der »Frankfurter Rundschau« monierte man eher, daß das Verhalten der Funktionshäftlinge nicht ähnlich wie bei Niethammer besprochen sei und daß Kogon als quasi wichtigster Mann bei der Erstellung des Reports unter der Kontrolle der Kommunisten gestanden habe, daß es sich bei dem ganzen Bericht also um eine kommunistische Mogelpackung handle, für die ein Bürgerlicher seinen Namen hergegeben hätte. Angemessen behandelt wurde der Report nur im ND, in der Süddeutschen Zeitung und in der Neuen Zürcher Zeitung, denn dort verlegte man sich weniger auf die Konstruktion kommunistischer Verbrechen, sondern sprach über das, worum es eigentlich geht: die Verbrechen der Nazis.
So sehr sich die Debatte der vergangenen Jahre in den allgemeinen Trend fügte, den Widerstandskampf als (zumindest potentiell) verbrecherisch hinzustellen, so wenig trug sie dazu bei, die Geschichte des KZ Buchenwald weiter zu erhellen. Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten eine ganz erhebliche Zahl wissenschaftlicher Studien über das Lager entstanden war – die meisten davon in der DDR –, obwohl ferner viele ehemalige Häftlinge ihre Erinnerungen veröffentlichten und auch in den neunziger Jahren verschiedene Memoiren erschienen sind, läßt sich nach wie vor ein beträchtlicher Forschungsbedarf konstatieren. Es gibt bis heute keine umfassende Darstellung der Geschichte des KZ Buchenwald, und dementsprechend sind auch diverse einzelne Aspekte des Lagers ungenügend erforscht.
Dasselbe gilt für die Geschichte des Widerstands im Lager, die vor allem eine Hinwendung zu folgenden Schwerpunkten erfordert:
der Aufbau und die Entwicklung der illegalen KPD im Lager;
der Kampf um die Besetzung der Funktionen im System der sogenannten Lagerselbstverwaltung, d.h. die Einsetzung gewissenhafter Antifaschisten als Kapos, Blockälteste, Lagerälteste etc.;
die Einbeziehung der ausländischen Häftlinge bzw. die Internationalisierung des gesamten organisierten Widerstands; sowie
der Aufbau militärischer Gruppen, die Beschaffung von Waffen, das Schmieden von Aufstandsplänen usw.
Zu diesen wesentlichen Aspekten des Buchenwalder Widerstands liegen Forschungsarbeiten vor. Sie ließen sich weiterführen und um neue Erkenntnisse bereichern, wiewohl einer solchen Rekonstruktion auch gewisse Grenzen gesetzt sind. Über einen Widerstand, der unter den Bedingungen der Illegalität und unter strengster Einhaltung der Konspiration geleistet wurde, können naturgemäß nur die Beteiligten Zeugnis ablegen, und sie können dies in der Regel auch nur insofern, als sie selbst in die entsprechende Tätigkeit involviert waren. Die meisten der Veteranen sind jedoch bereits tot. Und während die Zahl jener, die noch befragt werden können oder die sich eventuell erst jetzt zur Niederschrift ihrer Erinnerungen entschließen, schwindet, bleibt dem Historiker allein der Rückgriff auf Zeugnisse, die schon lange vorliegen und ebendeshalb oftmals Beachtung fanden.
Trotz dieser Erschwernisse kann die Arbeit, die Historiker in früheren Jahren begonnen haben, erfolgreich weitergeführt werden. Zu fragen ist dabei allerdings, ob nicht ganz neue Akzente gesetzt werden sollten. Kann es wirklich nur darum gehen, nahtlos an die DDR-Forschung anzuknüpfen, nachdem sich mit dem welthistorischen Umbruch von 1989/90 auch der gesellschaftliche Rahmen, in dem Forschung stattfindet, geändert hat?
Der Niethammer-Band und die ihn begleitende Pressekampagne müssen als der »negative« Ausdruck dieses Umbruchs betrachtet werden: Lutz Niethammer und seine Co-Autoren machen, wie schon deutlich wurde, den Schritt rückwärts und ziehen in Zweifel, was man bereits anders wußte, daß nämlich die Übernahme der Häftlingsfunktionen zu den wesentlichsten Voraussetzungen eines organisierten, erfolgreichen Widerstands gehörte. Nun muß gefragt werden, ob der Schritt vorwärts gemacht werden kann, ob es eventuell einen »positiven« Ausdruck der historischen Wende gibt.
Die Rhetorik dieser Frage verrät, daß der Autor sie bejahen will. Diente die ostdeutsche Buchenwald-Forschung letztlich der Legitimierung des antifaschistischen Staates DDR, so entfiel mit dem Ende dieses Staates die Unterordnung der Forschung unter jenes spezielle Partei- oder Staatsinteresse. Im durchaus nicht antifaschistischen Staat BRD wird es dagegen sogar zur Notwendigkeit, das zu leisten, was Niethammer versprach, aber keineswegs hielt, nämlich den Menschen sichtbar zu machen, der sich hinter dem antifaschistischen Helden verbirgt. Nur so wird dessen Geschichte für Jugendliche wieder verständlich und kommensurabel. Wenn das Bürgertum bestrebt ist, aus Widerstandskämpfern Verbrecher zu machen, dann sollten Linke bestrebt sein, diese Kämpfer und ihre Organisation realistischer als zuvor darzustellen.
Neue Akzente in der Forschung zu setzen, befreit indessen nicht von der Aufgabe, unter bestimmten Gesichtspunkten an der weiteren Rekonstruktion der Widerstandsgeschichte zu arbeiten. Paradoxerweise eine Reihe der Dokumente, die Niethammer veröffentlicht hat, hierbei durchaus hilfreich.
Anhand zweier Beispiele soll im folgenden verdeutlicht werden, worin konkret Forschungsdefizite bestehen und welche besonderen Fragestellungen aus einer neuen Schwerpunktsetzung u.a. resultieren. Dabei handelt es sich erstens um den Aufbau der Parteiorganisation in Buchenwald und zweitens um solche Probleme, die mit der Kooperation zwischen deutschen und ausländischen Antifaschisten zusammenhängen.
Was das illegale KPD-Aktiv in Buchenwald anbelangt, herrscht vor allem Unklarheit darüber, ab wann im Lager eine zentralistisch strukturierte, gefestigte und handlungsfähige Parteiorganisation existierte. So schrieb zum Beispiel Klaus Drobisch in seiner Monographie über den Buchenwalder Widerstand: »Bis Mitte 1939«, also nach zweijährigem Bestehen des Lagers, »war die illegale KPD-Organisation so weit entwickelt und gefestigt, daß sie über ihre Reihen ausstrahlte. Sie hatte im Lager wichtige Positionen errungen und verteidigt, auf die sie sich bei der Weiterführung des illegalen Kampfes stützen konnte«.4 Zu einem ganz anderen Schluß kommt Niethammer im Vorwort seines Dokumenten-Bandes: »Eine Kontrolle der Funktionshäftlinge durch die KPD als Partei im Lager war zu dieser Zeit noch kaum möglich. Denn ein organisierter Zusammenhang bestand erst in Rudimenten und gründete auf der landsmannschaftlichen Bekanntschaft kleinerer Gruppen von Genossen aus unterschiedlichen Reichsteilen.«5 Hier steht Urteil gegen Urteil.
Zweifellos untertreibt Niethammer, denn auf mehr oder minder lose Verbindungen können die Beziehungen zwischen den KPD-Mitgliedern nach zwei Jahren Aufbauarbeit nicht reduziert werden. Andererseits stellt Drobisch, dessen Fazit den Tatsachen eher gerecht wird, die Umstände besser dar, als sie waren. Immerhin bestätigen die Aussagen jener beiden KPD-Funktionäre, deren Hafterinnerungen in den neunziger Jahren veröffentlicht wurden, Niethammers These mehr als die von Drobisch: Sowohl Otto Roth, einer der führenden Köpfe der illegalen Militärorganisation, als auch Emil Carlebach sind der Ansicht, daß mit dem gegen Widerstände durchgesetzten Aufbau einer zentralistischen Parteiorganisation erst im Herbst 1939 begonnen wurde.6
Zweierlei ist daher zu beachten: Erstens wurde am 20. April 1939 anläßlich des 50. Geburtstags Hitlers eine Reihe von Häftlingen im Rahmen einer »Gnadenaktion« entlassen. Die Entlassungen betrafen zwar eher »Asoziale« als Politische, aber unter letzteren befanden sich recht viele Funktionäre. Und zweitens verschleppten die Nazis mit Kriegsbeginn im September desselben Jahres ca. 1000 Antifaschisten, darunter um die 700 Kommunisten, nach Buchenwald. Daß die bereits vorhandenen Parteistrukturen durch die Entlassungen im April teilweise wieder zusammenbrachen und daß auf Grund des ganzen Personalwechsels eine Umstrukturierung ohnehin nötig wurde, versteht sich von selbst. Außerdem sind die Zeugnisse einzelner zum Teil mit Vorsicht zu werten. Während Carlebach schon im September 1938 nach Buchenwald kam und die damaligen Verhältnisse aus eigenem Erleben kennt, wurde Otto Roth erst im September 1939 ins Lager gebracht. Um Klarheit über die Festigkeit der Parteiorganisation zu gewinnen, müssen also in erster Linie Auskünfte jener Häftlinge herangezogen werden, die bereits um 1937/38 in Buchenwald waren.
Interessant sind ferner die Diskussionen, die mit dem Umbau der Partei einhergingen. Internen Widerstand gab es vor allem von seiten einer Leipziger Gruppe um Walter Jurich und von einigen anderen. Sie argumentierten dahingehend, daß ein zentralistischer Aufbau unter KZ-Bedingungen zu gefährlich sei; um prinzipiell-weltanschauliche Fragen ging es ihnen weniger. Trotzdem spürt man bei Lutz Niethammer, der die Existenz solcher Opposition ausdrücklich betont, wie sehr ihn die Lust des Voyeurs beflü- gelt, über parteiinterne Konflikte berichten zu können. Die Ironie der Geschichte: Trotz aller Differenzen hat es bis zu Jurichs späterer Entlassung eine gute Zusammenarbeit zwischen ihm und der zentralen Parteileitung gegeben bzw. unterstützte er die allgemeine Linie der Partei. Ersichtlich wird das nicht zuletzt aus jenen Dokumenten, die Niethammer himself veröffentlichte.7
Es gab durchaus gewalttätigere Konflikte als den zwischen Jurich und der Parteileitung, doch deutet auch bei kritischer Sicht alles darauf hin, daß schlichte Meinungsverschiedenheiten in Buchenwald gewiß zu einem nicht geführt haben: zu stalinistischen Säuberungen.
Noch wesentlich größere Forschungsdefizite bestehen hinsichtlich der Zusammenarbeit deutscher und ausländischer Häftlinge im illegalen Widerstand. Um diese Zusammenarbeit erfolgreich in Angriff zu nehmen, mußten vor allem zwei Hindernisse aus dem Wege geräumt werden:
a) der unendliche Haß gegen alles Deutsche, den die ausländischen Häftlinge verständlicherweise mit ins Lager brachten, auf dessen Boden aber keine Solidarität zwischen ihnen und den deutschen Antifaschisten gedeihen konnte; und
b) die Differenzen, die sich aus der unterschiedlichen Mentalität bzw. der politisch-kulturellen Prägung der Häftlinge ergaben.
Probleme dieser Art wurden in DDR-Publikationen nicht verschwiegen, aber ihr Ausmaß und ihre Dimension fanden trotzdem keine hinreichende Beachtung.
Nachdem es gelungen war, Verbindungen zwischen Linken beider Nationen aufzubauen, verminderten sich die Konflikte trotzdem nicht: Nach dem Zeugnis polnischer Kommunisten trug dafür Alfred Bunzol, der Verbindungsmann der KPD zur polnischen Organisation, eine nicht geringe Verantwortung. Er habe, so heißt es in einem im Buchenwald-Archiv befindlichen Bericht, verhängnisvollerweise die Methoden des politischen Kampfes unter den Deutschen auf den Kampf unter den Polen übertragen und nach der Devise gehandelt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns bzw. ist ein Faschist. Masseneinfluß konnten die polnischen Linken auf diesem Wege nicht erlangen, bedurfte es doch einer behutsamen, ausdauernden Arbeit, die die Stimmungen und die Eigenheiten der polnischen Häftlinge berücksichtigte. Daß der Einfluß der Rechten schließlich doch noch zurückgedrängt werden konnte, war ein Ergebnis jahrelangen Kampfes und eines ewigen ›auf und ab‹.8
Der Bericht, auf den hier Bezug genommen wurde, umfaßt über 70 Seiten, während er in dem unter Leitung Walter Bartels herausgegebenen Dokumenten- und Materialienband »Buchenwald. Mah-nung und Verpflichtung« auf ganze zwei Seiten zusammengestutzt wurde.9 Ein solches Vertuschen hilft nicht weiter. Wenn die Schwierigkeiten bei der internationalen Zusammenarbeit im Lager wenigstens annähernd erfaßt werden sollen, müssen auch die unbequemen Zeugnisse berücksichtigt werden. Dessen ungeachtet verweist der Umstand, daß im Buchenwalder Widerstand der Internationalismus über den nationalistischen Zwiespalt siegte, darauf, wie wenig man sich auch hier vor diesen Debatten zu hüten braucht.
Sicherlich hat die Geschichte der KPD im Buchenwalder Widerstand auch ihre dunklen Seiten. Aber wer aus der Geschichte lernen will, muß sie eben trotz alledem eingehend studieren.
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Ulrich Peters – Historiker, arbeitet über den NS-Faschismus.
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1 Vgl. Lutz Niethammer (Hg.): Der ›gesäuberte‹ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Berlin 1994. S. 264ff. 2 Vgl. ebenda S. 31-58. 3 Neues Deutschland, 12. Dezember 1994. 4 Klaus Drobisch: Widerstand in Buchenwald. Berlin 1977, S. 31. 5 Lutz Niethammer: Der ›gesäuberte‹ Antifaschismus, S. 32. 6 Vgl. Arthur Roth (Hg.): Unter den Augen der SS. Otto Roth und der bewaffnete Aufstand im KZ Buchenwald, Bonn 1995. S. 94f. EmilCarlebach: Tote auf Urlaub. Kommunist in Deutschland. Dachau und Buchenwald 1937-1945; Bonn 1995, S. 85f. 7 Vgl. Lutz Niethammer: Der ›gesäuberte‹ Antifaschismus. S. 312f. |