UTOPIE kreativ, H. 113 (März 2000), S. 276-283
Michael Chrapa – Jg. 1950; freiberuflicher Soziologe, Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft für Konflikt- und Sozialstudien (FOKUS e.V.), Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Merseburg, zuletzt in »UTOPIE kreativ« zusammen mit Dietmar Wittich: »Panta rhei«. Veränderungen im Umfeld sozialistischer Politik, H. 109/110 (November/Dezember 1999), S. 71-82.
Betrachtet man die zehnjährige Geschichte der PDS, so fällt auf: An Prognosen und Analysen zur Perspektive dieser Partei war eigentlich kein Mangel. Öffentliche Kommentare zur PDS, selbst gehässige, brachten ihr in der Regel eher Nutzen (und Wählerstimmen) als Schaden, kurioserweise auch dann, wenn der Anlaß »skandalumwittert« war. Unter den Prophezeihungen zur PDS fehlten auch die nicht, die ihr baldiges Ende voraussagten: Ob als »Therapieverband für Alt-Stalinisten« oder als »Ost-Milieu-Partei« – immer schienen es nur noch drei, vier Jahre bis zum absehbaren Untergang zu sein.Auf den ersten Blick ist genau das Gegenteil eingetreten. Die PDS kann – gemessen am parlamentarischen Kräfteverhältnis – real zur drittstärksten Partei in Deutschland werden. Sie bliebe allerdings mit dem in best-case-Szenarien prognostizierten Wert von acht bis zehn Prozent Wählerstimmen stets eine »kleine« politische Partei. Die Chancen der PDS beruhen auf einem weiter erschließbaren Wählerpotential im Osten und auf wichtigen Einflußmöglichkeiten im Westen, die sich schrittweise entwickeln werden, die aber unzweifelhaft vorhanden sind.
Wie lassen sich Irrtümer und Fehlprognosen über den bisherigen Entwicklungsweg der PDS erklären? Zum einen waren es sowohl durch Wunschdenken als auch durch politische Instrumentalisierungen entstandene Stereotype, die Abwehrpositionen gegenüber der PDS und mangelnde Einsichten bestimmten. Hinzu kamen Elemente einer »Dämonisierung« dieser Partei, gleichsam in Form von projizierender Schuldzuweisung, die den klaren Blick trübten. Zum anderen gab es im wissenschaftlichen Diskurs Oberflächlichkeiten und Borniertheit, teils aber auch einfach traditionell »überalterte« politologische Sichtweisen. Einige Forscher – ausgerüstet mit ihrem scheinbar bewährten Instrumentarium – verkannten nicht nur die Spezifik der Ost-Verhältnisse, sondern auch die Tatsache, daß die gesamte politische Landschaft in Deutschland in Bewegung geraten ist. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema »Parteien im Rahmen des politischen Systems« erfassen gegenwärtig ein brisantes und bedeutsames Feld. Dabei fallen mehrere Komplexe ins Gewicht:
Zum einen unterstreichen die aktuellen politologischen Diskussionen, daß das »Parteimodell« für die Bewältigung solcher Komplexaufgaben wie »Zusammenfassung und Verdichtung von Einzelinteressen und ihre Transformation in Handlungsprogramme« [1], »politische Führungsfähigkeit« und die »Verbindung zu sozialen Großgruppen« de facto nicht zu ersetzen ist. Parteien sind und bleiben ein überaus wichtiges Moment leistungsfähiger Demokratien.
Ein zweiter, eng damit verknüpfter Gesichtspunkt besteht darin, daß unter den Bedingungen wirtschaftlich-sozialer Umbrüche Entscheidungen über den Grad der politischen Regulation in der Gesellschaft – gleichsam die »Möglichkeiten des Politischen« – neu bestimmt werden müssen. Mitunter kennzeichnet man dieses Spannungsfeld auch mit Kategorien wie »Neuentdeckung des Politischen« oder »Wiedergewinnung der Politik« [2].
Drittens verändert sich spürbar das »Umfeld« von Parteien durch Wandlungen in der soziokulturellen Struktur sowie in den Interessenkonstellationen von Großgruppen und Milieus bei Verbleiben und Reproduktion von sozialer Spaltung sowie der Ost-West-Differenz. Dies geschieht bei einer weiterverlaufenden Ausformung der »Mediengesellschaft« mit Einfluß auf die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Kommunikationsstrukturen vieler Menschen. [3]
Als Resultat der genannten Veränderungsprozesse kann viertens ein besonderer »Einstellungswandel« in bezug auf Felder des politischen Handelns konstatiert werden. Dies schließt sowohl »Mißtrauen« gegenüber Politik und Politikern [4] als auch neue Formen politischer Artikulationen (z.B. bei Jugendlichen) oder die aktuell zunehmende »Instabilität des Wahlverhaltens« (z.B. Abschmelzen der Stammwählerschaften) ein. Gerade bei letzterem ist eine interessante Dynamik zu beobachten: Die Tatsache, daß der Umfang von Wechsel- und Nichtwählerschaft tendenziell den der sogenannten Stammwähler übersteigt, bildet eine Situation ab, in der mehr denn je Stimmberechtigte zunächst unentschlossen bleiben, neue Orientierungen suchen und sich oft kurzfristig auf der Grundlage geistiger »Aushandlungsprozesse« entscheiden, ob oder welche Partei sie wählen. Diese Bewegungen im Wahlverhalten führen letztlich zu einer erkennbaren Dynamik in den Wahlergebnissen mit deutlichen Folgen für das politische Kräfteverhältnis.
Als ein fünfter Aspekt wäre schließlich zu betonen, daß die Funktionsweise gegebener Parteien den in hohem Tempo entstehenden Anforderungen modernisierter Gesellschaften oft nur ungenügend gerecht wird. Unter den Schlagworten »Partei der Zukunft«, »Modell der Kommunikationspartei« oder »Parteireform« [5] sind hier verschiedene Gestaltungsszenarien entstanden, die allerdings nur in beschränktem Umfang Eingang in tatsächliche Umbauprozesse gefunden haben.
Die PDS nimmt im bundesdeutschen Parteiensystem einen besonderen Platz ein. Betrachtet man ihre Entwicklung, fällt – grob analytisch unterschieden – ein »Mix« von »überkommenen« und »erworbenen« Problemlagen ins Auge, wobei etliche Problemfelder naturgemäß ineinander greifen.
Zu den »überlieferten« Problemen sind – auch nach zehn Jahren Existenz der Partei noch spürbar – die Mitglieder- (und Alters-) struktur, die »Ostlastigkeit« sowie die Schwierigkeiten der Verankerung und Einflußnahme in den alten Bundesländern zu zählen. Hinzu kommt das Weiterwirken zum Teil traditionaler, linksdogmatischer, aber auf jeden Fall stark differenter ideologisch-kultureller Elemente und Sichtweisen. Die PDS ist durchaus eine »pluralistische Partei«, wobei die Vielfalt allerdings häufig in Form von »Graben-« und »Glaubenskämpfen« zutage tritt. Dementsprechend bleibt die Diskussionskultur innerhalb der PDS weiterhin von Zügen eines überkommenen Dogmatismus gezeichnet.
Die »erworbenen« Probleme wären vor allem durch die Betrachtung der Entwicklung zwischen 1990 und 1998/99 genauer zu erfassen. Insgesamt sind in diesem Zeitraum Aufgabenfelder, durch die Wählerschaft getragene Erwartungen und Machtzuwächse entstanden, auf die sich die PDS nicht vorbereitet hatte. Als Folge davon kam es insbesondere in den letzten zwei Jahren zu einer gravierenden »parlamentarischen Fixierung« der Partei und zum Aufbrechen dessen, was man »funktionale Spaltung« nennen könnte. Beide Faktoren haben organisatorische, personale und politisch-moralische Konsequenzen, die von ihren Wirkungen her auch negativ zu Buche schlagen können.
Auf organisatorischem Gebiet wären hier die einseitige Ausrichtung auf die »funktionierenden« Strukturen im Umfeld parlamentarischer Institutionen, die breitere Herausbildung informeller Entscheidungsstrukturen und eine gewisse Schwächung der »Basisarbeit« zu sehen.
Personal ist die Installierung einer »1.« und »2. Ebene« in den Parteihierarchien (»Spitzen-/Berufspolitiker/innen« und mögliche »Nachfolgekandidaten/innen«) zu beobachten, was zu einer relativen Abwertung der 3. Ebene (»Mitgliedschaft«) führt, dies insbesondere in Hinsicht auf Kommunikationsteilhabe und Entscheidungsprozesse. Damit verknüpft muß – zumindest vom Ansatz her – von möglichen mentalen Veränderungen bei Berufspolitikern/innen (Wahrnehmungsstrukturen, Problembewußtsein, Kommunikationsmuster u.a.) gesprochen werden. Auch die PDS besitzt bereits ihr entwickeltes Feld »mikropolitischer Machtkämpfe«.
Politisch-moralisch betrachtet wäre zu konstatieren, daß die PDS mittlerweile durchaus die Möglichkeiten für plan- und realisierbare »Parteikarrieren« bietet. Die Ehrenamtlichkeit, für viele Jahre ein Markenzeichen und eine Stärke dieser Partei, erhält den Geruch des Zweitrangigen. Der solidarische Zusammenhang von Menschen, vor allem im Kreise Älterer, gerät in einen Widerstreit zum »Funktional-Modell« der Partei.
Hinzu kommt, daß die Reflexion über die innerparteiliche Entwicklung und das Streben nach Einflußnahme darauf im Rahmen der PDS jahrelang de facto gering geschätzt wurden. Nur zögerlich und mit zahlreichen Mißverständnissen belastet, begann im Jahr 1999 die Diskussion über eine »Parteireform«. [6]
Für die PDS verbindet sich die Notwendigkeit struktureller Umgestaltung mit der Erarbeitung eines erneuerten Grundkonsens über Charakter und Ziel dieser Partei. In diesem Kontext werden Verlauf und Ergebnisse der programmatischen Debatte weitreichende Konsequenzen haben. Obwohl es auch bei der öffentlichen Formulierung dieser Zielsetzung – der Erarbeitung neuer strategisch-programmatischer Aussagen in den letzten Monaten – bereits zu ernsthaften Mißverständnissen gekommen ist, bleibt eine solche Aufgabe aktuell.
Eine außerordentlich wichtige Frage bildet dabei die Positionierung der Partei zum Thema »Soziale Gerechtigkeit«. Um die Bedeutung dieses Problemkreises genauer zu beleuchten, liefert ein Rückblick auf die politischen Entwicklungsprozesse in den neunziger Jahren wichtige Anhaltspunkte:
Ohne Leistungen der Aktivistinnen und Aktivisten der PDS (in der Alltagsarbeit, im Parlament, im Wahlkampf) gering zu schätzen, ist ein überaus wichtiger Grund für den Erfolg der PDS darin zu sehen, daß sie – historisch betrachtet – »zur rechten Zeit am rechten Ort« war. Dieser Gedanke läßt sich folgendermaßen empirisch belegen:
In Untersuchungen Mitte der neunziger Jahre wurde die politische Landschaft Deutschlands dahingehend vermessen, in welchem Abstand sich die jeweiligen Parteien zu den Eckdimensionen großer gesellschaftlicher Konfliktlagen befinden. Zur Anwendung kamen die Werte-Paare »Autoritarismus« versus »Libertarismus« und »Marktfreiheit« versus »Soziale Gerechtigkeit«. [7] Die PDS nahm in diesem Spektrum eine Sonderposition ein. Sie befand sich »weit links«, allein, ganz in der Nähe des Wertes »Soziale Gerechtigkeit«. Die hierfür zugrunde gelegten Daten entstammen den Jahren 1994/95; zur gleichen Zeit aber begann ein Umschwung im öffentlichen Denken. Mehrere empirische Studien dokumentieren, daß sich in Ost und West die gesellschaftliche Konfliktlage dramatisch verschob. Soziale Widersprüche (wie die zwischen »Arm« und »Reich«, zwischen »Arbeitgebern« und »Arbeitnehmern«) wurden 1996/97 um 20 bis 30 Prozentpunkte stärker betont als dies etwa 1993 der Fall war (siehe Tabelle 1) [8]. Die soziale Frage und damit verknüpft das Problem sozialer Spaltung der Gesellschaft erlangte im Bewußtsein der Menschen ein neue, weitaus gewichtigere Dimension.
Für die PDS bedeutete dies: Die Partei hatte in ihrer Öffentlichkeitswirkung zwei große und sich reproduzierende Widerspruchsfelder – die soziale Spaltung der Gesellschaft und in Verbindung damit die »Ost-West-Differenz« – frühzeitig thematisiert und »besetzt«. Etlichen »Individualisierungs-« und »Lebensstilisierungs-« Deutungen zum Trotz gab es im Konfliktbewußtsein von Mehrheiten der Bevölkerung in den letzten Jahren eine deutliche Verlagerung in diese Richtung. Salopp ausgedrückt, konnte die PDS – dem Igel in der Furche gleich – bei den Wahlen 1998/99 ausrufen: »Ick bin all hier!«
Aktuelle Daten verweisen auf eine bis in die Gegenwart reichende Brisanz des Themas (siehe Tabelle 2). Konkretere Analysen zur Situation im Bundesland Sachsen-Anhalt belegen:
Die ungelösten Aspekte sozialer Probleme werden im Osten mehrheitlich zumeist recht kritisch reflektiert. »Arbeitslosigkeit« bleibt unvermindert in den Augen von vier Fünfteln der Befragten das Problem Nr. 1 und rangiert im Bewußtsein weit vor Umwelt- oder Gleichstellungsfragen. Interessanterweise findet auch der »Nord-Süd-Konflikt« eine beachtliche Wahrnehmung.
Die Meinungen lassen eine gewisse »Spaltung« der Parteianhängerschaften erkennen. Die PDS-Anhängerschaft bildet diejenige Gruppe, die in den meisten Fällen die Problemlagen am schärfsten betont. Beachtliche Aufmerksamkeit für soziale Fragen ist auch bei der (sachsen-anhaltinischen) Anhängerschaft der Bündnisgrünen zu erkennen. Für das PDS-Umfeld fällt ferner ins Gewicht, daß sie faktisch die einzige Gruppierung darstellt, die sich der Benachteiligung von Frauen deutlich zuwendet.
Mitunter wird in diesem Kontext die »Ähnlichkeit« zwischen den Meinungen der PDS- und der DVU-Anhängerschaft diskutiert, wobei das Argument eines gleichartig vertretenen Sozialprotestes eine Rolle spielt (Felder: »Renten«, »Sicherer Arbeitsplatz«, »Soziale Gerechtigkeit«, »Einkommen«, »Aufstieg«). Die hier aufgeführten Daten würden eine für die weitere Debatte wichtige These erhärten, daß es vor allem die persönliche Betroffenheit und dementsprechende Frustration von DVU-Anhängern/innen ist, die sie in die Nähe radikaler Urteile führen. Die von ihnen als fehlend beklagte »Gerechtigkeit« hat wenig(er) mit dem Blick auf die Gesellschaft, aber viel mit dem Gefühl persönlicher Benachteiligung zu tun (vgl. Indikatoren: »Soziale Gerechtigkeit«, »Arbeitslosigkeit« – »Arbeitsplatz«, aber auch »arme versus reiche Länder«, »Benachteiligung von Frauen«).
Insgesamt ist erkennbar, daß die PDS sowohl angesichts der in der Bevölkerung weit verbreiteten Einstellungen zu Aspekten der sozialen Frage als auch in Hinblick auf die Positionen ihrer Anhängerschaft günstige Chancen (und ebenso die Verpflichtung) hat, das Thema »soziale Gerechtigkeit« zu einem Kernpunkt der programmatischen Debatte werden zu lassen.
Die Formulierung neuer strategisch-programmatischer Aussagen verbindet sich für die PDS organisch mit der Gestaltung einer neuen »Grundkonstruktion« der Partei. Für den Erfolg der in Angriff genommenen »Parteireform« wird die stabile »Öffnung der PDS zur Gesellschaft« ein entscheidendes Kriterium darstellen, wobei nicht abzusehen ist, ob eine solche Orientierung tatsächlich gelingt. Als Blockaden dieses Prozesses werden öffentlich-medial zumeist die Konflikte zwischen »Modernisierern« und »Traditionalisten« thematisiert. Eine solche Widerspruchslinie ist weiterhin zweifellos vorhanden; sie wird jedoch – so eine These des vorliegenden Beitrags – zunehmend von einem dazu »quer« liegenden Konflikt überlagert. Dieses bisher noch wenig besprochene Problem betrifft die Auseinandersetzungen folgender »Lager«:
Auf der einen Seite existieren starke Gruppierungen, die als »Kompetenzorientierte Modernisierer« bezeichnet werden könnten. Sie sind besonders im parlamentarischen Umfeld verortet und vertreten Bestrebungen in Richtung auf erhöhte »Positionsmacht« und größere parlamentarische Einflußmöglichkeiten. Aus ihren Reihen kommen berechtigte Forderungen vor allem in bezug auf konzeptionellen Vorlauf für Politik-Projekte und in Hinsicht auf gesicherte Professionalität bei der Wahrnehmung politischer Verantwortung. Verkürzt gesagt, treten diese Personen vor allem für das »Funktional-Prinzip« und für die Machtorientierung der PDS im politischen System ein.
Parallel dazu wirken vom Einfluß her schwächere Gruppen, für die als Charakteristik der Begriff »Bewegungs- und wertorientierte Modernisierer« gelten könnte. Gemeinsam ist diesen keineswegs homogenen Zusammenschlüssen, daß die »Wertegemeinschaft PDS« deutlich betont und eine verstärkte zivilgesellschaftlich-außerparlamentarische Ausrichtung der Partei angestrebt werden. In einem solchen Kontext verlaufen gegenwärtig Diskussionen über neue Kommunikationsstrukturen und über den Ansatz, politische Aktivität in Form »gesellschaftsoffener Projekte« zu betreiben. [9] Ebenfalls in der Debatte sind Überlegungen über die Notwendigkeit eines »kritisch-reflexiven Politik-Stils«. Darunter wäre ein modernes Muster von politischem Verhalten zu verstehen, in das klare Wertorientierungen, eine explizite politische Moral und charakteristische Kompetenzen bei Entscheidungs-, Lern- und Kommunikationsprozessen eingeschlossen sind. Als Markenzeichen der skizzierten Gruppe kann das Bestreben gelten, die »normale« Funktionalität der PDS im politischen System zu sichern und zugleich ihren Charakter als »moderne Bewegung« auszuprägen.
Betrachtet man die Entwicklung der PDS, dann werden – zumindest äußerlich – gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Weg der (Bündnis-) Grünen erkennbar. Es stellt sich die Frage, inwieweit eine solche Parallelität begründbar ist. In der Tat scheinen Vergleiche zwischen den Grünen (vor allem in ihrer »aufsteigenden Phase«) und der PDS heute so abwegig nicht zu sein. Für eine solche Betrachtung stehen die Tatsachen, daß beide Parteien klein und gewissermaßen »fragil« sind, daß sie durch die Ausgrenzung herrschender Kräfte beeinflußt und geprägt wurden. In Hinsicht auf den Umgang mit Macht und mit Blick auf die komplizierten innerparteilichen Mechanismen ergeben sich frappierende Parallelen. Gegen den Vergleich sprechen die Argumente der verschiedenen Herkunft und Geschichte dieser Parteien sowie ihrer unterschiedlichen »strategischen Grundideen«, obwohl bei genauerem Hinsehen zweifellos auch einige inhaltliche Überschneidungen zu finden sind.
Wird die absehbare Perspektive der PDS ins Auge gefaßt, dann ließe sich festhalten:
Die meisten parteitheoretischen Betrachtungen des politischen Systems bestätigen, daß in modernisierten, hochkomplexen Gesellschaften Parteien nur dann eine langfristige Chance haben, wenn sie einen besonderen Platz in der politischen »Bedürfnisstruktur« einnehmen. Anders gesagt: Jede Partei muß tatsächlich »gebraucht« werden. Für die PDS bedeutet dies, daß ihre Chance in der Besetzung und Verknüpfung der Felder »Soziale Gerechtigkeit«, »Modernität« und »Handlungsfähigkeit« besteht. Darunter sind keineswegs vereinfachte Image-Bilder mit dem Charakter von Wahlkampfslogans zu begreifen; vielmehr soll dadurch ein ganzes Strategiebündel verdeutlicht werden:
Soziale Gerechtigkeit: Dieser Problemkreis wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eines der wichtigsten sozialen und politischen Felder in den Auseinandersetzungen des kommenden Jahrzehnts darstellen. Die PDS könnte sich hier mit einem originären Beitrag zur (neuen) Gestaltung sozialer Beziehungen im Bemühen um die Durchsetzung menschenrechtlicher Forderungen einbringen. Damit verknüpft wären praktische Handlungsbestrebungen zum Abbau sozial-materieller Ungleichheiten, gegen Ost-West- wie auch Nord-Süd-Disparitäten und nicht zuletzt Aktivitäten in Richtung auf Chancengleichheit der Geschlechter. Soziale Gerechtigkeit besitzt sehr vielfältige Facetten und Ansatzpunkte.
Modernität: Der Ansatzpunkt der PDS kann sich hier zunächst auf Akzeptanz und »Nutzung« vor allem solcher Aspekte wie Dynamik und »Ausstattung« moderner Gesellschaften richten. Damit verbunden sind Forderungen (und Schritte) in Richtung auf stete Weiterentwicklung und kritische Reflexivität im Umgang mit organisatorischen Formen. Dies setzt auch Maßstäbe für den Politik-Stil der PDS.
Handlungsfähigkeit: In enger Verbindung mit den ersten beiden Elementen steht die PDS hier vor der Aufgabe, die konkrete Ergebnisorientierung im Rahmen ihrer Tätigkeit durchzusetzen und zu verstärken. Daraus resultieren weitere Anforderungen an die Kommunikations- und Organisationskompetenzen sowie an die Befähigung zur wissenschaftlich gestützten konzeptionellen Arbeit.
Die hier benannten Chancen für die PDS sind durchaus real; andererseits bleibt der Weg der Partei in verschiedener Hinsicht »offen«. Die im Beitrag nur skizzenhaft angesprochenen inneren Probleme wiegen in der Realität schwer. Wie dem auch sei, die Zukunft der PDS wird letztlich davon abhängen, welche »Grundkonstruktion der Partei« sich weiter entwickelt. Die PDS muß unter den Anforderungen von modernisierten Markt- und Kommunikationswelten effektiv tätig sein, kann aber Gefahr laufen, eine kaltherzige »Funktional-Partei« zu werden, die ihren Wertekonsens verliert. Sie kann die kommende Erschütterung durch größere Mitgliederverluste (sicher nach den Jahren 2002 bis 2005) auffangen oder auch nicht. Möglich ist, daß ihr das Kunststück gelingt, als eine »normale« Partei im politischen System zu arbeiten und gleichzeitig ein Stück »moderne Bewegung« zu bleiben (oder zu werden). Als positiver Ansatz wäre zu werten, daß verschiedene Modelle von »Mitglieder-«, »Wähler-«, »Dienstleistungs-« oder »Kommunikationspartei« neben anderen Varianten bereits Erwähnung in einigen Debatten gefunden haben.
Etliche der hier formulierten Fragen wären demnach gegenwärtig nicht eindeutig zu beantworten. Als »Weichenstellungen« sind die Entscheidungen in den nächsten zwei Jahren zu betrachten, die sich auf die Erarbeitung neuer strategisch-programmatischer Aussagen und auf die »Parteireform« beziehen. Nicht allein die Ergebnisse, sondern auch die Art und Weise, wie diese bedeutsamen Vorgänge in der Partei gestaltet werden, können Auskunft über den zukünftigen Weg der PDS geben.
Natürlich hat auch die PDS selbst etwas zum eigenen Erfolg beigetragen. Sie hat vielleicht mehr Chancen genutzt, als sie selbst hatte. Der Drang der PDS in die Parlamente war für sie mit dem Zwang verbunden, sich gegenüber der Gesellschaft zu öffnen. Es wäre mit der PDS sicherlich nichts geworden, wenn man uns mit uns selbst in Ruhe gelassen hätte. Dies allein reicht natürlich noch nicht für Zukunft, aber es spricht für unsere Resistenz – und auch für die Fähigkeit, die Strategien der anderen gegenüber der PDS zum eigenen Vorteil auszunutzen. Und wie die Situation sich gegenwärtig darstellt, können wir uns wohl auf unsere Konkurrenten dahingehend verlassen, daß sie auch zukünftig Strategien entwickeln werden, die der PDS eher nutzen als schaden.
Auf allen Ebenen der parlamentarischen Arbeit gibt es heute sowohl Ausgrenzung und Wettbewerb als auch – zumindest in Ansätzen – Akzeptanz und Kooperation. Aber auch hier genügt natürlich nicht »die einfache Wahrheit« (Volker Braun). Wenn man es sich einfach machen wollte, könnte man sagen: Kooperation findet vor allem in Schwerin und Magdeburg statt (wobei in der Öffentlichkeit bemerkenswerterweise kaum noch zwischen den beiden unterschiedlichen Kooperationsformen differenziert wird); Wettbewerb hätten wir dann in Dresden und Erfurt, wo die PDS nach den letzten Landtagswahlen nicht nur den Listenplatz mit der SPD getauscht hat, sondern in eine neue ›Spielklasse‹ aufgestiegen ist; und Ausgrenzung findet in Berlin statt – auf Landes- wie auf Bundesebene.
Es lohnt aber, sich der Problematik noch etwas differenzierter zu nähern. Die PDS hat sich sicherlich seit 1989/90 häufig geirrt. Mehr als sie selbst geirrt aber haben sich ihre Kritiker, Beobachter und Begleiter. Dafür gibt es eine Reihe von Indizien. So habe ich zum Beispiel am 17. Januar 1994 – das ist das historisch exakte Datum – auf einer Landespressekonferenz in Magdeburg erklärt, daß gegen die drohende ›Große Koalition‹ in Sachsen-Anhalt auch ein Tolerierungsmodell denkbar wäre. Darauf reagierten dann die akademischen Politikwissenschaftler aus Halle mit längeren Abhandlungen, in denen sie – bis zum Wahltag und darüber hinaus – unablässig ihre Studentinnen und Studenten belehrten, warum es völlig unmöglich sei, daß es je in Deutschland zu einer solchen Tolerierung kommen könne. Das wären lediglich Ausnahmeerscheinungen in skandinavischen Ländern. Dieselben Herren Professoren lassen heute Dissertationen über das »Magdeburger Modell« schreiben. Ein anderes Beispiel ist der persönliche Phantasieverzicht von Reinhard Höppner, Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, der seit dem ersten Zustandekommen einer Tolerierung bei allen Gelegenheiten erklärt, daß er sich deren Wiederholung nicht vorstellen könne. Kürzlich hat er nun erklärt, daß für ihn eine Situation nicht vorstellbar ist, in der die PDS als stärkerer Partner mit einer SPD in Juniorposition koaliert. Aber seit wann ist Mangel an Phantasie ein politisches Argument?
Die PDS hat sicherlich viele Brüche, Irrungen und Wirrungen hinter sich. Und sie hat sich dabei erheblich gewandelt. Noch größer als der Wandel der Partei selbst waren jedoch die Wandlungen in der Kritik der PDS. Man vergleiche nur die jüngste Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung über die PDS vom Oktober 1999 mit entsprechenden früheren Arbeiten (siehe Marginalien – d. Red.).
Auch die Situation im Bundestag stellt sich differenziert dar. Da ist zunächst die harte Ausgrenzung. So wurden zum Beispiel Ende 1999 vier Enquête-Kommissionen eingesetzt. Der Beschluß über deren Einsetzung wird formell durch alle anderen Fraktionen, aber nicht durch die PDS getragen – jedoch nicht, weil die PDS etwas gegen diese Kommissionen hätte, sondern weil ihr das Recht auf Mitwirkung durch die andern Fraktionen verweigert wird. Ähnliches hat vor kurzem auch bezüglich eines Antrags im Bereich der Entwicklungspolitik stattgefunden, als es darum ging, einen fraktionsübergreifenden Beschluß zur Unterstützung der Opfer einer Sturmkatastrophe in Lateinamerika zu fassen. Dieser Antrag ist am Widerstand der CSU und derjenigen Ost-Bürgerrechtler, die heute in der CDU sind, gescheitert, weil diese um jeden Preis gemeinsame Beschlüsse zusammen mit der PDS vermeiden wollen. Daß dies für die CDU selbst allmählich zum Problem werden könnte, hat zumindest der Parteivorsitzende Schäuble bereits erkannt, aber bisher konnte auch er sich nicht gegen die ›hardliner‹ in den eigenen Reihen durchsetzen.
Die aggressivste Konfrontation mit der PDS betreibt allerdings die Fraktion der Bündnisgrünen. Das hängt insbesondere mit der Situation um den Kosovo-Krieg zusammen.
Inzwischen findet im Bundestag aber auch ein Wettbewerb zwischen den Parteien unter Einschluß der PDS statt. Das wäre noch vor zwei Jahren nahezu undenkbar gewesen. Die CDU analysiert zum Beispiel inzwischen ziemlich genau die Positionen der PDS, und zwar insbesondere dann, wenn es um Ost-Fragen geht. So wird die PDS in den Debatten immer öfter mit Aussagen ihrer Landtagsabgeordneten – zum Beispiel zum Braunkohleabbau – konfrontiert, weil die CDU erkannt hat, daß Braunkohle für die PDS ein ›schwieriges‹ Thema ist. Das kann durchaus als eine Form von Wettbewerb angesehen werden – die aber nicht mit einer Anerkennung der PDS verwechselt werden darf. Immer noch geht es in erster Linie darum, die PDS ›zu erledigen‹. Und dennoch darf von dieser gleichen PDS inzwischen sogar ›gelernt‹ werden. Das hat zumindest Angela Merkel in bezug auf eine bessere Verankerung ihrer Partei im öffentlichen Leben, in Institutionen und Verbänden usw. eingefordert. Und das wird auch tatsächlich gemacht.
Im Verhältnis zur SPD bezieht sich der Wettbewerb insbesondere auf alles, was im Zusammenhang mit dem Thema ›soziale Gerechtigkeit‹ steht. Hier kann die PDS sicherlich auch noch einiges erreichen. Neu ist, daß erstmals eine größere Anzahl von Anträgen im Haushaltsausschuß Berücksichtigung gefunden hat – von ca. 100 waren es bisher etwa 20. Das geschah zwar nicht immer im Alleingang, oft auch im Zusammenwirken mit ähnlichen Anträgen der SPD, aber das stellt doch einen qualitativen Sprung dar. Allerdings meiden bisher noch alle Minister der Koalition unsere Fraktion, obwohl entsprechende Einladungen bereits vor einiger Zeit intern übermittelt wurden. Das wäre zweifellos ein wichtiger Durchbruch, den wir unbedingt erreichen wollen. Wenn zum Beispiel Minister Riester die Fraktion besuchen würde, wäre bereits das Ereignis – unabhängig vom Ergebnis der Beratungen – ein Wert an sich.
Kooperation findet zumeist nur punktuell statt. Vor dem Kosovo-Krieg waren wir allerdings schon etwas weiter. Grundsätzlich halten wir bei allen parlamentarischen Initiativen die Mitte-Links-Option offen, und wir denken, daß langfristig auch die SPD an einer solchen Zusammenarbeit interessiert sein sollte. Dieses Interesse müßte sich vor allem darauf gründen, daß die SPD bisher der PDS faktisch kampflos den ›Ost-Bonus‹ überlassen hat. In bezug auf eine ganze Reihe von Fragen wäre es durchaus vorstellbar, daß einzelne Forderungen der PDS in die Politik der SPD Eingang finden – schon weil die SPD dann darauf hoffen könnte, die PDS für bestimmte Beschlüsse, die zum Beispiel den Osten betreffen, mit haftbar zu machen. Wir würden uns einem solchen Konzept natürlich prinzipiell verweigern, aber es wäre die Basis für Verhandlungen über eine partielle Kooperation. An diesem Punkt sind wir zwar noch lange nicht, aber wir werden dahin kommen. Solche ›Durchbrüche‹ sind nicht planbar. Sie ereignen sich eher zufällig – immer dort, wo Politik gezwungen ist, Neuland zu betreten.
Unsere Strategie wird es auch weiterhin sein, inhaltlich Anschluß zum linken Rand der SPD zu halten. Wir können kein Interesse daran haben, daß sich zwischen uns und der SPD eine neue Gruppierung – etwa eine Art ›USPD‹ – formiert. Aus meiner Sicht ist es auch wenig wahrscheinlich, daß die PDS durch größeren Pragmatismus bei politischen Entscheidungen, was manche vielleicht auch als Bewegung nach ›rechts‹ interpretieren, insgesamt ihren Status verliert. Viele dieser Bewegungen sind im Falle der PDS eher Schritte vom Jenseits ins Diesseits.
Eine strategische Herausforderung erwächst uns allerdings aus der Tatsache, daß die SPD die Regierungsformen in Magdeburg und Schwerin auf Bundesebene völlig ausblendet. Am Anfang haben wir das mit einiger Nachsicht behandelt, weil wir vermeiden wollten, daß die SPD dadurch ständig der Kritik von CDU und CSU ausgesetzt wird. Aber inzwischen mußten wir einsehen, daß die unterschiedlichen Formen des Zusammenwirkens der PDS mit der SPD beim Regieren auf Landesebene von vielen SPD-Genossen als eine Art ›Sündenfall im Ausland‹ angesehen werden. Damit wird im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten ein deutsches Spezifikum kenntlich. Die Schwelle zwischen Land und Bund ist – für die PDS als dezidiert linke Partei – übernatürlich hoch. Ansonsten läuft im Bundestag auch zwischen CDU und PDS viel mehr, als öffentlich wahrnehmbar wird. Das hat vor allem auch damit zu tun, daß sich die beiden großen Fraktionen inzwischen in einem Maße zerstritten haben, daß sie auch in Verfahrensfragen kaum noch aufeinander zugehen können. Faktisch werden 99 Prozent aller Energie darauf verwandt, die jeweils andere Seite selbst bei simpelsten Dingen möglichst zu behindern. Die Bündnisgrünen gehen in diesem Hickhack nahezu vollständig unter, so daß es oft an den kleinen Fraktionen von FDP und PDS ist, in festgefahrene Fragen des parlamentarischen Verfahrens wieder Bewegung zu bringen.
Bezüglich der von mir bereits erwähnten Mitte-Links-Option geht es der PDS nicht in erster Linie um eine Koalition auf Bundesebene etwa 2002. Eher geht es um ›Koalitionsfähigkeit‹ – was ein Unterschied ist, der allerdings im alltäglichen Medienrummel kaum vermittelbar ist. Koalitionsfähigkeit meint hier zuallererst, daß wir in der Lage sind, unsere politischen Zielstellungen – das, was demokratischer Sozialismus ist – möglichst genau umreißen zu können. Hier hat die PDS sicherlich deutliche Fortschritte gemacht. Dazu gehört auch, daß wir demnächst ein Rentenkonzept vorlegen können, das auch in bezug auf seine haushaltstechnischen Seiten den Vergleich mit anderen Vorschlägen nicht zu scheuen braucht und das im Zusammenhang mit einem Konzept für eine Wertschöpfungsabgabe präsentiert werden wird. Aber dazu gehört auch, daß die PDS zukünftig der Versuchung widerstehen muß, sich auf Parteitagen eine ›Wunschrepublik‹ zusammen zu beschließen, die dann am Montag danach mit dieser Welt nichts mehr zu tun hat. Und dazu gehört, den überkommenen oder neu kultivierten geistigen ›Avantgardismus‹ zu überwinden.
Die vordringlichste Aufgabe besteht für die PDS in den Jahren bis 2000/1 sicherlich darin, einen behutsamen Imagewechsel einzuleiten. ›Behutsam‹ sollte er vor allem deshalb sein, weil sich natürlich niemand gern von dem trennt, weswegen er gewählt wird. Ferner ist es ein Glücksfall für die PDS, daß die Politikfelder ›Ost‹, ›Soziales‹ und ›Frieden‹ sich als so zentral erwiesen haben. Man stelle sich nur vor, daß die ›innere Sicherheit‹ einen derartigen Stellenwert erlangt hätte – was von einigen CDU-Strategen durchaus beabsichtigt war –, dann hätte die PDS sicherlich größere Mühe. Jetzt kommt es darauf an, die bisher bewiesene Kompetenz auf mindestens zwei Feldern zu ergänzen: bei der ›Wirtschaftsförderung‹ und auf dem Gebiet der ›Zukunftsfragen‹, wo es insbesondere um Jugend und Bildung geht.
Insgesamt ist die PDS gut beraten, das Denken in den Dimensionen eines ›Juniorpartners‹ Schritt für Schritt abzulegen. Viele unserer Konzepte gehen zu stark von der Frage aus: Wieviel politischen Spielraum können wir einnehmen, den uns andere zubilligen? Das ist natürlich eine bedenkliche Form von geistiger Selbstbeschränkung. Was nicht heißen soll, daß die PDS demnächst über Koalitionen oder die Benennung von Ministerpräsidenten nachzudenken hätte – aber auch das wird irgendwann eine Rolle spielen. Zunächst müssen wir eine Art geistiger Selbstbefreiung erreichen. Dazu brauchen wir jene gesellschaftliche Reibung, der wir viel verdanken, auch wenn sie für uns nicht immer angenehm war. Die PDS wird von außen zu Vernunft und Einsicht gebracht oder gar nicht. Nach wie vor ist die Partei nicht in der Lage, die durchaus vorhandenen Entwicklungspotentiale durch eine Form innerer Selbstmobilisierung zu erschließen. Deshalb sollten wir vor allem unseren Kritikern ›danken‹.
Tabelle 1: Subjektive Wahrnehmung von Konflikten in Deutschland [10]
Angaben in Prozent, gerundet, Konfliktwahrnehmung = Sehr stark + Stark
Wahrgenommene Konflikte zwischen | Bundesgebiet Ost | Bundesgebiet West | ||||
| Zeitpunkt | Zeitpunkt |
| |||
| 2/ | 11/ |
| 2/ | 11/ | |
1993 | 1996 | 1996 | 1993 | 1996 | 1996 | |
»Arm«-»Reich« | 58 | 86 | 88 | 36 | 75 | 80 |
» Arbeitgebern«-»Arbeitnehmern« | 66 | 80 | 86 | 50 | 71 | 77 |
»Ost«-»West« | 60 | 74 | 79 | 50 | 62 | 63 |
»Ausländern«-»Deutschen« (»Asylbewerbern«-»Deutschen«) | (75) | 78 | 77 | (84) | 71 | 77 |
»Links«-»Rechts« | 70 | 71 | 67 | 66 | 60 | 57 |
»Jung«-»Alt« | 20 | 32 | 31 | 20 | 36 | 36 |
»Männern«-»Frauen« | 10 | 36 | 30 | 14 | 33 | 35 |
Tabelle 2: Politische Einstellungen: Bewertungen sozialer Probleme in der Gesellschaft Bundesland Sachsen-Anhalt, Oktober 1999 [11]
Zustimmung zur Aussage, Angaben in Prozent, gerundet. A=Anhängerschaft
Aussagen | Gesamt | CDU- | FDP- | B/Gr- | SPD- | PDS- | DVU- |
A | A | A | A | A | A | A | |
Bedrohliche Probleme sind | |||||||
Hohe Arbeitslosigkeit | 79 | 58 | 40 | 65 | 80 | 89 | 57 |
Soziale Spaltung der Gesellschaft | 68 | 39 | 45 | 61 | 61 | 83 | 48 |
Beziehungen zwischen reichen und armen Ländern | 58 | 53 | 58 | 85 | 63 | 70 | 59 |
Sicherung auskömmlicher Renten für alle | 56 | 47 | 50 | 45 | 39 | 68 | 55 |
Umweltbelastung | 44 | 26 | 30 | 68 | 38 | 52 | 19 |
Benachteiligung von Frauen | 35 | 26 | 15 | 28 | 35 | 48 | 14 |
In der Gesellschaft ist ein ungelöstes Problem | |||||||
Guter/sicherer Arbeitsplatz | 82 | 76 | 61 | 88 | 76 | 83 | 88 |
Erleben sozialer Gerechtigkeit | 68 | 48 | 47 | 57 | 56 | 77 | 71 |
Solidarische Beziehungen zwischen den Menschen | 59 | 42 | 53 | 47 | 60 | 63 | 47 |
Ausreichendes Einkommen | 53 | 38 | 50 | 39 | 52 | 66 | 71 |
Chancen für beruflichen Aufstieg | 34 | 30 | 28 | 19 | 37 | 42 | 42 |
Für mich persönlich ist ein ungelöstes Problem | |||||||
Guter/sicherer Arbeitsplatz | 55 | 54 | 39 | 46 | 55 | 58 | 67 |
Erleben sozialer Gerechtigkeit | 55 | 40 | 39 | 48 | 42 | 70 | 80 |
Ausreichendes Einkommen | 50 | 38 | 37 | 19 | 49 | 54 | 70 |
Solidarische Beziehungen zwischen den Menschen | 34 | 29 | 21 | 32 | 37 | 36 | 30 |
Chancen für beruflichen Aufstieg | 32 | 21 | 11 | 11 | 27 | 42 | 44 |
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1 Thomas Meyer: Die Transformation des Politischen, Frankfurt/Main 1994, S. 231.
2 Hermann Scheer: Zurück zur Politik, München 1995, S. 157ff.; Ulrich Beck: Kinder der Freiheit, Frankfurt/Main 1997, S. 9-33.
3 Henry Kreikenboom: Einstellungen der Bürger zu Parteien, in: Oscar W. Gabriel: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997, S. 167-187.
4 Peter R. Schrott: Politische Kommunikation und Wahlverhalten, in: Oscar W. Gabriel: Politische Orientierungen …, a.a.O., S. 507-532.
5 Ingrid Reichart-Dreyer: Parteireform, in: Oscar W. Gabriel u.a.: Parteiendemokratie in Deutschland, Opladen 1997, S. 338-356.
6 Ernsthafte Politisierung der Vorstandstätigkeit muß beginnen. Von der Klausurtagung des Parteivorstandes der PDS am 5. Juli 1999, in: Presse- und Informationsdienst (PID), Nr. 27/99, Berlin 1999.
7 Gero Neugebauer, Richard Stöss: Die PDS. Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten, Opladen 1996, S. 278.
8 Michael Chrapa, Dietmar Wittich: Projekt Gesellschaftskritische Potentiale, 1996-98. Halle/Berlin 1998.
9 Vgl. Rainer Lindemann: Die Parteiorganisation der Zukunft. Innerparteiliche Projektarbeit, Münster/ New York 1995.
10 Quellen: Datensurvey 1993, Projekt Gesellschaftskristische Potentiale, 1996-1998
11 Quelle: FOKUS-Studie: "Politische
Landschaft", Halle 1999