UTOPIE kreativ, H. 115/116
(Mai/Juni 2000),
S. 470-478Was für ein schöner Jahrhundertbeginn. Ein Waffenhändler schmierte die Bosse der christlichen Regierungspartei, damit Thyssen eine Panzerfabrik in Kanada aufrüste. In zynischer Phrase nennt er es »Landschaftspflege«. – Die sozial und ökologisch daherkommende Nachfolgeregierung genehmigte ihrer Rüstungslobby die Lieferung des neuesten Kampfpanzers »Leopard II« an die türkische, auf Menschenrechtsbruch und Kurdenjagd spezialisierte Armee. Es sei »nur ein einziges Testfahrzeug«. Man spielt unsere Proteste herunter, hält aber die lukrative Bestellung von 1 000 Stück als Option der deutsch-türkischen NATO-Bruderschaft vorsorglich unterm Tisch. – Eine eiserne Jungfrau von Niedersachsen erstritt vor Europas hohem Gerichtshof ihr Anrecht auf Kampfanzug und tödlichen Waffengebrauch. Sogleich sprach der Bundesminister für »Verteidigung«, seit dem Vorjahr schon Kriegsminister, von »Gleichberechtigung der Frau« (die sonst doch zuerst auf die Straße gesetzt, an den Kochtopf verwiesen wird). Er läßt Personalstellen vorplanen und erwartet den Umsturz des Grundgesetzes, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bewaffnung der Frauen nicht vorgesehen hatte.
Ist das die Spitze des Eisbergs, der im Fachjargon »Disposition zur Kriegführung« heißt? Es sind nur Indizien, eine Art flüchtiger Vögel auf dem klirrenden Monstrum, das uns frieren, womöglich gar sterben macht und das tief in die Abgründe der Staatenwelt reicht. Da sind die zahllosen Waffenwerkstätten und Forschungs-labors, bevölkert von Leuten, die von humanen Geboten der Ethik unbeschwert den Tod denken, erfinden, fabrizieren – und unterhalten von Kreaturen, die aus jedem Mordwerkzeug ihr Kapital wuchern lassen. Da sind Kasernen und Manövergelände, Flugplätze und Kriegshäfen, tatsächliche Kampfgebiete mit Millionen Soldaten, wobei der Zusatz »bis an die Zähne bewaffnet« nur ein niedliches Wortspiel wäre. Mobile Panzerkorps und Luftlandetruppen, global operierende Flotten und Bomberstaffeln. Einsatzbereite Atomwaffen und Trägerraketen, die den allegorischen Begriff der »Bombe« längst zur poetischen Untertreibung gemacht haben.1 Stützpunkte rund um den Erdball. Selbst im Kosmos allgegenwärtige Spionage- und Alarmsatelliten, militärsprachlich als »strategische Aufklärungs- und Leitsysteme« bezeichnet.
Um in der semantischen Schönfärbung zu verweilen: Was sind denn von alledem die »völkerverbindenden« Resultate? – Rüstungswettlauf, Erpressung und Geiselnahme, feindliche Staatenkonflikte und wirklicher Krieg. Alles in allem: Droh- und Explosivkräfte staatlich hochorganisierter, aber privatwirtschaftlich produzierter Militärgewalt. Noch immer gilt Krieg als Politik mit anderen Mitteln. Frieden ist Vorkriegszeit.
I.
Noch immer. Oder schon wieder? – Hatten wir nicht mit den Ideologien des Kalten Krieges gebrochen? Nicht Schluß machen wollen mit dem regierungsamtlichen Irrsinn, in einem Angstfrieden leben zu müssen, der auf dem höchst unsicheren »Gleichgewicht des Schreckens«, dem Risiko des atomaren Untergangs beruhte? »Pflugscharen« anstelle von »Schwertern«! So hatte doch der alttestamentliche Streitruf2 geheißen – angesichts der verschärften Gefahren zu Anfang der achtziger Jahre: Brüsseler Raketenbeschlüsse der NATO, Konflikte in Polen, Invasionen in Afghanistan, Grenada und auf den Falkland-Inseln, »Nachrüstung« der Mittelstreckenraketen in der Alt-BRD und »Nach-Nach-Rüstung« in der DDR, Abbruch der amerikanisch-sowjetischen Abrüstungsverhandlungen in Genf. Allzu kurz ist das Gedächtnis für vergangene Fakten. Doch damals fanden sich im Osten wie Westen Menschen genug, die für eine Alternative einstehen mochten.
Ehe ein Holocaust der Menschheit geschah, war Vorrang für allgemeinmenschliche Gattungs-Interessen vor politischen Gruppen-Interessen, war ebenso Schutz der nahen und fernen Umwelt, der natürlichen Lebensgrundlagen, geboten. Anstelle der Hypertrophie des Macht- und Klassenkampfdenkens mahnten wir gewaltfreie Konfliktlösungen und Dialog, friedlichen Wettbewerb und Kooperation der Gesellschaftssysteme an. Anstelle des verordneten »Wehrunterrichts« verlangten wir Friedenserziehung. Anstelle der hegemonialen Führungsrolle und des angemaßten Wahrheitsmonopols der Politbüros traten wir zum Zwecke des Weltfriedens für ein tolerantes Bündnis aller Sozialisten, überdies mit Pazifisten, Christen und Kirchen ein. Das Reform- und Friedensverlangen schien bald beflügelt durch »Perestrojka« und »Neues Denken«: die weltpolitische Botschaft, die – nach 1917 – noch einmal von Osten kam. Dieser ist zu verdanken, daß mit den Gipfeltreffen der Präsidenten der Supermächte eine Umkehr von militärischer Bedrohung und Abschreckung zu gemeinsamer Sicherheit, also auch Abrüstung, einige Konturen gewann.
Das Ende der nicht-kapitalistischen Staaten Europas und damit der bipolaren Konfrontation kam plötzlicher, als die Strategen des »Westens« nur denken konnten. Bei den Demonstrationen, Podiumsdebatten, Medienauftritten, Runden Tischen hegten wir die durchaus vage Hoffnung: Man könnte durch die Entmachtung der bürokratisch-zentralistischen SED-Führungsorgane und der »Stasi« zu einem demokratischen Sozialismus gelangen, der im sozialen, politischen, nicht zuletzt moralisch-kulturellen Wettbewerb mit der Alt-BRD bessere Lebensbedingungen für das arbeitende Volk hervorbrächte. Unser Verfassungsentwurf enthielt Menschen- und Staatsbürgerrechte, die auf dem Bonner Grundgesetz aufbauten, aber eine erweiterte, in den Massen basierende und durch Volksentscheid erwählte Demokratie verhießen. In der Außenpolitik hielten wir – selbst nur mit friedlichen Mitteln vorgehend – völkerfreundliche Deklarationen und Vorleistungen zugunsten einer entschiedenen Abrüstung, sogar Entmilitarisierung in der Mitte Europas für nötig. »Ein wirklicher Friede in Deutschland und in Europa, gegründet im unbedingten Friedenswillen unseres Volkes, das dem Krieg und der Rüstung für immer entsagt – das wäre jetzt eine große Botschaft für die Völker der Welt«.3 So lautete die Quintessenz unserer Denkschriften an die letzten, diesmal frei gewählten DDR-Minister der Übergangsregierung de Maizière. Wir wirkten für eine »Utopie«, die, in Jahrhunderten gewachsen, »jetzt zu verwirklichen« sei, und ertrugen den Spott, der uns »blauäugig« nannte. Es ist nun einmal die historische Rolle der »Linken«, daß sie in den Umbrüchen der bürgerlichen Gesellschaft nicht bloß das »Menschen-Mögliche«, sondern auch das »Menschen-Notwendige« einfordern.
Immerhin formulierte der Moskauer Vertrag vom 12. September 1990, der dem vereinten Deutschland die völkerrechtliche Souveränität verlieh, das Friedensgebot (Art. 2), den Verzicht auf ABC-Waffen (Art. 3.1), die Reduzierung konventioneller Streitkräfte (Art. 3.2). Die Regierungen an Rhein und Spree gaben ihr Versprechen, »daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen« werde und »Handlungen, die geeignet sind (…), das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten«, als »verfassungswidrig und strafbar« gelten. Boutros Ghali, Generalsekretär der UNO, gemahnte an das Scheitern des Völkerbundes und sprach vom »glücklichen Geschick« der Vereinten Nationen: die Welt vielleicht doch noch im Sinne der Charta gestalten zu können. »Das Ende des Kalten Krieges hat uns vom Rande einer Konfrontation zurückgebracht, welche die Welt bedroht und unsere Organisation allzuoft gelähmt hat (…). Es mag für unseren Planeten, der nunmehr aus anderen Gründen nach wie vor in Gefahr schwebt, nicht noch eine dritte Chance geben« (Agenda für den Frieden, 53).
II.
Mit dem Ausgang des Weltkonflikts zwischen den Großmächten des Kapitalismus im »Westen« und den Ländern des staatsmonopolistischen Sozialismus im »Osten« schwand die augenblickliche Gefahr des atomaren Infernos. Grund genug für ein befreites Aufatmen der Menschheit. Mehr noch: »Die Waffen nieder!« – Bertha von Suttners hundertjährige Losung4 – schien nicht weit vor dem Ziel.
Die USA und die NATO hatten ihren Feind, den »Kommunismus«, das demagogisch beschworene »Reich des Bösen«, verloren – somit auch den stets genannten Urgrund ihrer andauernden, sich modernisierenden Rüstungen, ihrer weltumspannenden Stützpunktpolitik und Kriegsbereitschaft, ihrer nie preisgegebenen Strategie des Ersteinsatzes von Atomwaffen. Darf man annehmen, daß sich die profitorientierten Rüstungskonzerne glücklich schätzten, künftig statt automatischer Handwaffen nur computerisierte Küchengeräte, statt Panzern und Bombenflugzeugen nur Drei-Liter-Autos und Solarkraftanlagen zu bauen? Darf man hoffen, das Pentagon und die NATO-Institutionen seien froh und bereit gewesen, den Großteil ihres kostspieligen Personals zu entlassen, damit dieses einen weniger martialischen Job suche?
Schon im Januar/Februar 1991 tobte der High-tech-Krieg »Wüstensturm« gegen den Irak, der allerdings durch seine Aggression gegen Kuweit keineswegs schuldlos war. Je länger die amerikanisch-britische Strafexpedition dauerte und irakische Ölfelder brannten, desto mehr erhob sich aber die Frage der Zweck-Mittel-Relation.5 Wer jetzt für ein konsequentes Embargo, jedoch auch gegen die sechswöchigen Bomberangriffe und den zynischen Test neuester Waffen auf die Straße ging, erfuhr das Alarmgeheul und die speienden Wasserwerfer einer gesamtdeutschen Polizei. Obwohl am Persischen Golf selbst nicht beteiligt – jetzt war ganz Deutschland ein NATO-Mitglied. Bonner Minister predigten erhöhte Verantwortung für Europa, sogar für die Welt und verschrien »Friedenstrottel«, die das Ansehen der neuen und großen BRD im Ausland beschädigen würden.
Die Hymnen und die Friedensschwüre der Wiedervereinigung waren verklungen. Nun waren und sind andere Texte zu lesen. Francis Fukuyama zum Beispiel, Planungsspezialist des US-Außenministeriums, bilanziert das Ende des Kalten Krieges und schreibt über kommende heiße Kriege mit Berufung auf den Philosophen einer längst verflossenen Epoche:
»Ohne den Krieg und die Opfer, die er verlangt, wird der Mensch laut Hegel verweichlicht und egozentrisch; die Gesellschaft versinkt in eigensüchtigem Hedonismus, und die Gemeinschaft wird letztlich zerfallen.« Mit der Kaltschnäuzigkeit des Schreibtischstrategen fügt er hinzu: »Eine liberale Demokratie, die alle zwanzig Jahre einen kurzen, entschlossenen Krieg zur Verteidigung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit führen könnte, wäre bei weitem gesünder und zufriedener als eine Demokratie, die in dauerhaftem Frieden lebt …«6
Es mag nicht vergessen werden, daß hier der Verstand eines Liberalismus waltet, der auf den Vorrang des kapitalistischen Eigentums gerichtet ist und in allen bürgerlichen Revolutionen seit 1640/49 und 1688/89, 1776 und 1789 die sozialen Erwartungen der kämpfenden Massen enttäuscht, die Volkssouveränität geschmälert, die Volks-Demokratie erstickt, die unterentwickelten Völker ins Kolonialjoch gebeugt hat. Die gedachte Demokratie, mit liberalistischen Konstitutionen und Kapitalbewegungen, ist heute in den G-7-Staaten verkörpert – unter Vormacht der USA. Nach dem Ableben der Pax sowjetica beharrt die Pax americana auf einer Weltwirtschaftsordnung, in der 80 Prozent der global verfügbaren Ressourcen von jenen 20 Prozent der Weltbevölkerung verbraucht werden, die in den reichen Ländern des Nordens leben. Pax americana im Verbund mit den »westlichen« Großmächten steht für das »Zentrum«, das mit dem Schlachtruf »Globalisierung« die absolute Hegemonie gewinnen will. Es versucht, seine Gesellschaftsordnung, Kapitaldominanz, formaldemokratische Werte den historisch und kulturell anders gewachsenen Völkern der »Peripherie« zu oktroyieren – und es verfügt dabei über mindestens fünf Monopole: die Überlegenheit der Technik und Technologie, die Kontrolle der globalen Finanzströme, den weltweiten Zugang zu den natürlichen Ressourcen, die Herrschaft über Medien und Kommunikationen, nicht zuletzt den Besitz der zahlreichsten und neuesten Massenvernichtungswaffen. »Freiheit« und »Unabhängigkeit«, die reizenden Worte aus Fukuyamas Begriffsdschungel, bedeuten für diese durchaus souveränen, wohlhabenden und hochgerüsteten Staaten nichts Geringeres als »freien Zugang« zu allen gewünschten Naturschätzen, Billiglohnkräften, Kapital- und Warenmärkten im »Rest der Welt«.
Von »unseren nationalen Interessen« spricht Präsident Clinton, wenn er die bestausgerüsteten Boys in den Einsatz fern von Washington schickt. Könnte es sein, daß Amerikas Golfkriege im Namen des UN-Sicherheitsrats zu »schlechter« Letzt um Kuweits Erdöl, die Bodenschätze der ganzen Region geführt wurden? Abgesehen vom angstmachenden Exempel militärischer Überwucht – zensurgerecht auf den Bildschirm gezaubert. Wie Zeus seinen Feuerstrahl fiktiv über die wehrlosen Völker des Altertums warf, so schleudern raketenbestückte Piloten ihre tödliche Fracht realiter auf den nahezu verteidigungsunfähigen Gegner. 1 : 1000 etwa beträgt der Verlust auf beiden Seiten der Front. Ein solcher Krieg hat sein Wesensmerkmal, Zweikampf zu sein, verloren. Unablässige Rüstung der High-tech-Waffen scheint zu genügen, hinfort geringer gewappnete Staaten und Völker zu erpressen, zur Botmäßigkeit zu zwingen. Vielleicht ist die Voraussage ernst zu nehmen, wonach künftig etwas weniger Krieg, desto mehr Gewalt sein wird.
Doch Hegemonialmacht braucht Rüstung. Rüstung braucht »Schurkenstaaten« und »Kriegsgefahr«: das Bild eines akuten oder künftigen Feindes. Da ist nach dem Bestsellerautor Fukuyama auch der Bestsellerautor Samuel P. Huntington im Gespräch. Für den Politologen und Berater des Pentagon gerät nach dem Ende des Kalten Krieges sozial gegensätzlicher Gesellschaftssysteme nunmehr ein Krieg der Kulturen, der Kulturkreise in Sicht, die durch verschiedene Weltanschauungen, Religionen, Werte, Gesellschaftsstrukturen geprägt sind. Die »Interessen« der USA würden insbesondere durch den Aufstieg Chinas, des konfuzianischen Kulturkreises, und durch die Expansion des Islam bedroht. »Auf jeden Fall werden asiatisches Wirtschaftswachstum und muslimischer Bevölkerungsdruck in den kommenden Jahrzehnten zutiefst destabilisierende Auswirkungen auf die etablierte, westlich dominierte internationale Ordnung haben. (…) Infolgedessen werden die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts die anhaltende Resurgenz nichtwestlicher Macht und Kultur sowie den Zusammenprall der Völker nichtwestlicher Zivilisationen mit dem Westen und miteinander erleben«.7 Damit der »Westen« politisch und wirtschaftlich überdauere, müßten die USA »ihre Identität als westliche Nation bekräftigen und es als ihre globale Rolle definieren, die Führungsnation der westlichen Kultur zu sein« (507).
III.
Wir sind wieder wer! hörte man allzubald nach der deutschen Wiedervereinigung aus Bonner Regierungskreisen. Dem Weißen Haus sichtlich vorauseilend, anerkannte Außenminister Genscher die Sezession und die staatliche Souveränität Sloweniens und Kroa tiens: Die BRD war 1991 unter den Staaten der erste, der die Axt an Jugoslawiens Vielvölkerschaft legen half. Serben, die (anders als kroatische Ustascha) in zwei Weltkriegen auf der richtigen Frontseite, also gegen die Aggressoren Deutschland und Österreich, gekämpft und gelitten hatten, wurden benachteiligt, verteufelt, vertrieben. Seitdem ist Jugoslawien der Kampfplatz ethnischer und zugleich nationalistischer Volksgruppen: die offene und quälende Krebswunde Europas.
Vor diesem Hintergrund haben Politiker und Militärs der NATO zum Wandel ihrer Strategie geblasen. Schon 1992 ist in den Richtlinien des deutschen Bundesministers der »Verteidigung« von künftigen Bundeswehreinsätzen für »vitale Sicherheitsinteressen« die Rede: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung« (Bonn, 26. November 1992, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Ziffer 8). Vier Monate später, am 19. März 1993, verlautbarte Außenminister Kinkel, Gentschers Nachfolger, in der FAZ: »Gegenwärtig bewegen wir uns vom Interventionsverbot im Namen staatlicher Souveränität hin zum Interventionsgebot im Namen der Menschenwürde und humanitären Hilfe« (Verantwortung, Realismus, Zukunftssicherung. Deutsche Außenpolitik in einer sich neu ordnenden Welt). Menschenrecht bricht Völkerrecht: endlich – oder bedenklich?
Wo immer Menschen verfolgt werden, die vor dem Maßstab der Humanität unschuldig sind, bleibt eine »höhere Macht« zu wünschen, die »Recht auf Leben« sichert und den Codex der Menschenrechte vermittelt. Da Gott nicht barmherzig und keineswegs allgegenwärtig ist, muß dies die UNO sein – aufgrund eines stets verbesserten Völkerrechts und unbeeindruckt von Machtinteressen einzelner ihrer Mitglieder. Fukuyama freilich hält wenig davon. Nach seiner Ansicht ist »souveräne Gleichheit aller Mitglieder« ein Geburtsfehler der Vereinten Nationen, so daß er seiner Regierung rät, sich »mehr an der NATO« zu orientieren (Ende der Geschichte, 379).
Tatsächlich reifte im ursprünglichen Atlantischen »Verteidigungs«-Bündnis das Schlangenei, das »out of area« heißt: Militäreinsatz außerhalb der Bündnisregion, um Streitparteien gewaltsam zu befrieden, wobei auch eigene Interessen nach Gutdünken zu erfüllen sind. Der CDU-Fachminister für potentielle Militärinterventionen beanspruchte gar den hehren Begriff »Friedensethik«, um die Interventenrolle zu beschönigen, hingegen Pazifisten und Antimilitaristen zu entmündigen (Rede vom 5. Februar 1996).8 In der Schule von Amerikanern und Briten haben Bundeswehrkontingente erste und wachsende Erfahrungen gesammelt: Kambodscha, Somalia, Bosnien und Herzegowina. Aber der blanke Sündenfall der Außen- und Militärpolitik Deutschlands, das in der historischen Stunde der Wiedervereinigung seine »Friedenspflicht« gelobte und dem »Angriffskrieg« abschwor, heißt »Kosovo« – richtiger: Angriffskrieg gegen den überlebenden Rest der Föderativrepublik Jugoslawiens.
Das erste Opfer eines jeden Kriegs ist die Wahrheit. Gewiß sind Serben an allen nationalen und ethnischen Konflikten des ehemaligen Staatsgebiets schwerwiegend beteiligt. Und gewiß verletzte die Belgrader Zentralregierung das Minderheitenrecht, als sie die Unruhen der albanischen Kosovaren mit dem Entzug der Autonomie, mit Repressalien und Vertreibung beantwortete. Daß aber Serben die ganz alleinigen Bösewichter des Balkans seien, ist die Propagandalüge der NATO, die Falschmeldung deutscher Regierungen und Medien, die die Zerschlagung der Föderativrepublik und ihres staatlichen wie gesellschaftlichen Eigentums seit nunmehr zehn Jahren betreiben. Unter den fünf Millionen Flüchtlingen befindet sich eine Million Serben; auch sie beklagen ihre Toten, ihre verlorenen Heimstätten. Die Verhandlungen in Rambouillet mißachteten Jugoslawiens Souveränität gröblichst, indem sie die Militärkontrolle der NATO im gesamten Staatsterritorium verlangten, wobei dieser Annex B des ultimativen Vertragstextes der Öffentlichkeit verschwiegen wurde.9 Unterwerfung im Frieden oder Krieg – hieß die einzige Alternative. Allein die Serben sollten als die Rechtsbrecher gelten.
Jedoch die NATO-Offensive brach Völkerrecht.10 Es existierte kein UNO-Mandat. Die sich selbst mandatierenden Paktmächte vollzogen den bereits angekündigten Salto mortale vom Verteidigungs- zum Interventionsprinzip. Ihr Angriff ignorierte den Rechtsgrundsatz der Staatssouveränität, der auch dem UNO-Mitglied Jugoslawien zusteht. Während die deutschen Außen- und Kriegsminister zum Tyrannenmord aufhetzten, wurde die gesamte serbische Zivilbevölkerung als Geisel genommen. Die Folgen könnten unter anderen Konstellationen wohl Kriegsverbrechen bedeuten: Verwundete, Tote und noch mehr Vertriebene unter jugoslawischen Staatsbürgern. Zerstörung der zivilen Infrastruktur mitsamt der internationalen Donauschiffahrt. Wiederum Mißbrauch des Kriegs zum Test verbotener und neu entwickelter Waffen (Streu- und Splitterbomben, Uranmantelgeschosse und Graphitbomben). Aufheizung des Hasses und der Vertreibungswut unter allen Bewohnern des Kosovo. Es war ein siebenwöchiges Schlachtfest, bei dem die höhnischen Überflieger selbst nichts riskierten und die von ihnen gemordeten Zivilisten, die bombardierten Eisenbahnen, Brücken, Fabriken, Auslandsbotschaften als zufällige »Kollateralschäden« abrechneten. Dieser Krieg sei für den Frieden notwendig! tönte die tägliche Medienlosung. Sie war das verlängerte NATO-Schwert, das die Friedensbewegungen enthaupten sollte.
Ist dieser schreckliche Vorgang, den wir nicht »Kosovo«, sondern NATO-Krieg nennen, das Menetekel des neuen Jahrhunderts? Oder darf man mit historisch verlängerter Geduld wieder einmal auf die Vernunft der Staaten und der Völker hoffen? Jetzt, da die Rauchschwaden verzogen, die Toten verscharrt, die Ruinen geblieben sind, kommt die Frage auf, wie lange die NATO-Besetzung im Kosovo dauern und wer alles wieviel für den Wiederaufbau zahlen soll. Wann und wie wird Jugoslawien einen Frieden bekommen? Die staatsnahen Medien, die den Angriffskrieg, die Aggression also, wie im Veitstanz begleitet haben, schweigen sich über Kriegsfolgen aus. Die Politologen orakeln über »antihumanitären Humanismus«, über nötige und leider auch fragwürdige »Doppelmoral«. Sogar im Lager der Krieger zischelt das Unbehagen: Die Deutschen hätten die Amerikaner in den Balkankonflikt hineingezogen. Die Amerikaner hingegen hätten der Europa-Union just in den Geburtsstunden des EURO zeigen wollen, wer die Welt-Ordnungsmacht sei. Die Militärintervention als Friedensmittel erscheint zweifelhaft.11 Schon wird auf das Gegenbild »Südafrika« gewiesen, wo ein langes und konsequentes Embargo den Krieg vermieden, die Apartheid gebrochen hat. Aber die atlantischen Strategen liegen im Fangeisen ihrer eigenen martialischen Politik: Nur lau ist ihr Einspruch gegen Rußlands Kaukasuskrieg – wobei sie doch unterderhand ein »nationales Interesse« an Tschetsche niens Sezession wie an der ganzen Öl- und Handelsregion vom Kaspi-See bis zum Balkan hegen.
IV.
Noch immer besteht die fatale Alternative, in der seit Jahrhunderten zwei Entwicklungslinien widerstreiten. Die erste und dominierende Linie offenbart Tendenz und Triebkräfte von Staatspolitiken, die mit den Mitteln des Hegemoniestrebens, der permanenten Rüstung und der verheerenden Kriege zum Ruin der Moral und Kultur, zum Massenmord »von Staats wegen«, letzten Endes zum Exitus der Menschheit führen. Die zweite, gegenläufige Linie aber bezeugt das Bedürfnis und die Interessenträger einer anderen Politik: Sie ist verkörpert in Friedensdenken und Friedensbewegungen, Menschenrechtsdeklarationen und Völkerrechtsgeboten, Völkerfreundschaften und universalen Föderationen, die auf vernünftige und friedliche Konfliktlösungen abzielen – auf eine Verwirklichung gemeinsamer Sicherheit, Gleichberechtigung, Solidarität und schließlich des Weltfriedens. – Krieg oder Frieden? Von Machtstreben verursachte Katastrophen oder von Friedenswillen rational gesteuerte Entwicklung? Welche Kraft dieser entscheidenden Alternative wird in Gegenwart und Zukunft obsiegen?
Vor diesem welthistorischen Hintergrund haben führende PDS-Politiker in den Monaten vor dem Münsteraner Parteitag die Möglichkeit verfochten, Militäreinsatz und Krieg aufgrund von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats im »Einzel«- oder auch »Ausnahmefall« bejahen zu können. In der Partei, die sich nach den Golfkriegen als »dem Pazifismus verpflichtet«, sogar als »entschiedene Gegnerin von Kampfeinsätzen jeglicher Art, ob unter UNO- oder NATO-Helmen«, erklärte (Zum 50. Jahrestag der UNO-Gründung)12 , ist die leninistische Unterscheidung zwischen guten und bösen, »gerechten« und »ungerechten« Kriegen wieder aufgekommen. Was von den »realpolitischen« Diskussionsmachern nicht ganz und gar unmißverständlich als höchstes Prinzip verfochten wurde, ist das unbeirrte Nein gegen Militärgewalt und Krieg, ihre Ersetzung durch alle nur möglichen Initiativen und Instrumentarien zwecks Konfliktlösung und Friedensstiftung. Nomen est omen: »Pazifismus« ist in ihrem (allerdings fehlgeschlagenen) Antrag an den Parteitag gestrichen worden.13 Sind denn Produktion und Einsatz der Nuklearwaffen keine Todesgefahr für die Menschheit geblieben, so daß die pazifistische Maxime »Die Waffen nieder!« vernünftig ist? Hat nicht die ebenfalls pazifistische Losung »Pflugscharen statt Schwerter« vormals die Kraft der Friedensemotion von Millionen erwiesen und politische Entscheidungen erzwingen können? Trotz antimilitaristischer Beteuerungen des Parteivorstands: Ideen und Praktika der Friedensbewegungen – zumal der internationalen Konflikt- und Friedensforschung – scheinen durch lebendige Zusammenarbeit keineswegs ausgeschöpft.14
Wohl könnten Situationen aufkommen, wo ein Aggressor oder ein Massenschlächter á la Pol Pot durch militärische Aktivitäten der UNO in eine gewünschte Welt-Friedens-Ordnung gezwungen werden muß. Der PDS stünde es dabei wohl an, in Kooperation mit anderen Friedenskräften dafür zu wirken, daß Konflikte möglichst mit unkriegerischen Mitteln befriedet, im Falle einer unvermeidbaren Militärintervention die Zweck-Mittel-Relation streng kontrolliert und imperialistische Vorteilsnahme durch die von der UNO beauftragten Staaten ausgeschlossen würde. – Doch überhaupt: Ist jetzt die übereilte Erwägung des Jaworts für Militäraktionen und Krieg die gebotene Klugheit einer alternativen Partei? Wäre nicht Entmilitarisierung in der Mitte Europas, wenigstens die Beseitigung von ABC-Waffen, die bessere Streitsache? Könnte nicht selbst Japans halbhundertjährige Verweigerung, an Kriegen teilzunehmen, eine militärpolitische Ermutigung sein?15
Noch ist Zeit, der Menschheit ein Zeichen zu setzen: Ein ehrlicher Friede, gegründet im Friedenswillen von Deutschen, die dem Krieg und der Rüstung entsagten – das allein wäre die große Botschaft für die Völker Europas, der Welt. Der blanke Hohn, der da von »Blauäugigkeit« spricht oder gar »Friedenstrottel« verteufelt, ist erträglich. Auch zu Jahrhundertbeginn gilt der Satz: Es ist die geschichtliche Rolle der »Linken«, daß sie in den Umbrüchen der bürgerlichen Gesellschaft nicht bloß das »Menschen-Mögliche«, sondern auch das »Menschen-Notwendige« einfordern.
******************************
Helmut Bock – Jg. 1928, Historiker, Prof. em. Dr. phil. habil., Berlin
|
1 »Sollen wir die Gattung Mensch vernichten, oder soll die Menschheit auf den Krieg verzichten?« Einstein-Russell-Manifest, 9. Juli 1955 2 »Denn vom Zionsberg in Jerusalem wird der Herr sein Wort ausgehen lassen. Er weist mächtige Völker zurecht und schlichtet ihren Streit. Dann schmieden sie aus ihren Schwertern Pflugscharen und aus den Spitzen ihrer Speere Winzermesser. Kein Volk wird mehr das andere angreifen, und keiner lernt mehr das Kriegshandwerk. Jeder wird in Frieden zwischen seinen Feigenbäumen und Weinstöcken wohnen …«. 3 Fortsetzung des Textes: »Das wäre zudem ein historischer Gewinn auch für alle, die bei der Restauration des großen Kapitals soziale und politische Verluste beklagen: Denn was die Menschen östlich von Elbe und Thüringer Bergen betrifft, so wären ihre nahezu halbhundertjährigen Mühen, nach dem zweiten Weltkrieg ein neues Deutschland in einer friedensfähigen Welt zu errichten, nicht ganz und gar vergebens gewesen.« 4 »Wache gibt es – ganz Hellwache –, welche die Menschheit aus dem langen Schlaf der Barbarei erwecken wollen und tatkräftig, zielbewußt, sich zusammenscharen, um die weiße Fahne aufzupflanzen. Ihr Schlachtruf ist: ›Krieg dem Kriege‹, ihr Losungswort – das einzige Wort, welches noch imstande wäre, das dem Ruin entgegenrüstende Europa zu erlösen – heißt: ›Die Waffen nieder!‹« Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte, hg. von Sigrid und Helmut Bock, Berlin 1990. Darin das Nachwort »Arbeiten für den Frieden« 5 »Eines jedoch haben die Krisen in Kuweit, Jugoslawien und der UdSSR gemeinsam. Sie zeigen, daß die ohnehin leise Stimme der Vernunft endgültig schweigt, wenn Waffen sprechen. Sobald Militärs das Heft des Handelns übernommen haben, bestimmt ihre ›Logik‹ den Gang der Ereignisse, müssen Diplomatie und Politik ins zweite Glied zurück. Und noch etwas ist unübersehbar: Die Krisen kommen uns geographisch näher und greifen zeitlich wie kausal ineinander.« 6 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 434 f. 7 Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998, S. 188f. 8 Volker Rühe: Mut zur Verantwortung – Deutschland und der Friede in Europa. Rede in der Sankt-Katherinen- Kirche zu Hamburg. 9 »Im Ergebnis langdauernder Verhandlungen erklärte sich Präsident Milosevic in Rambouillet und Paris gegenüber den [noch – HB] mit diplomatischen Mitteln operierenden Staaten des ›Westens‹ bereit, dem Kosovo größere Autonomierechte und -realität als vor 1989 einzuräumen, weigerte sich aber entschieden, der NATO Exterritorialitäts- und Manövrierrechte für ganz Jugoslawien einzuräumen.« Hermann Klenner: Ethnische Minderheiten im Völkerrecht, in: Berliner Debatte INITIAL, 10/1999 10 Völkerrecht und Rechtsbewußtsein für eine globale Friedensordnung, hg. v. Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik e. V., Dresden 2000 11 Oliver Tolmein: Welt – Macht – Recht. Konflikte im internationalen System nach dem Kosovokrieg, Hamburg 2000 12 Zu ursprünglichen Positionen der Partei des demokratischen Sozialismus: 13 Zur veränderten Diskussionslage der Partei des demokratischen Sozialismus: 14 »Zu der zu neuem Leben erweckten Ideologie des gerechten Krieges ist die Konzeption eines gerechten Friedens die einzig vernünftige Alternative.« 15 Sylvia-Yvonne Kaufmann (Hg.): Frieden schaffen! Mit UNO-Waffen?, Berlin 2000 |