UTOPIE kreativ, H. 117
(Juli 2000)
S. 661-668Der wesentliche Wandel von der SED zur PDS ist das Ende der These von der »Weltanschauungspartei«, weil daraus in der Konsequenz erst Interessenpolitik, Achtung von Demokratie und Toleranz gegenüber Andersdenkenden folgen. Weltanschauungen haben immer etwas ganzheitlich Bestimmendes. »Vorstellungen vom Wesen und vom Zusammenhang der Dinge, der Welt, des Menschen« – so Adorno – begannen im 19. Jahrhundert bisherige metaphysische Glaubensgefüge zu überlagern, kamen aber weiterhin »dem subjektiven Bedürfnis nach Einheit, nach Erklärung, nach letzten Antworten« entgegen. Sie konstituierten Sphären »der zum System erhobenen Meinung«1 und kolportierten auf vielfache Weise das »Versprechen, die geistige Welt und schließlich auch die reale eben doch aus dem Bewußtsein einzurichten«2. Klemperer sprach gar von einem »Klüngelwort«3. Er arbeitete heraus, daß der Begriff »Weltanschauung«, wie er um die Jahrhundertwende und dann im Nationalsozialismus verstanden wurde, den genauen »Gegensatz zur Tätigkeit des Philosophierens« ausdrückte und in Tradition einer Opposition »gegen Dekadenz, Impressionismus, Skepsis und Zersetzung der Idee eines kontinuierlichen und damit verantwortlichen Ichs«4 stand. Dieser Gegensatz zum Philosophieren und zum Recht auf eigene Ansichten kennzeichnete auch den Begriff (und die gesellschaftliche Praxis) in der DDR (Ausnahmen mögen die Regel unterstreichen.)
Pluralität der Ansichten bedeutet die Abkehr von jedem Absolut-heitsanspruch. Das aber bedeutet, es gibt jeweils mehrere richtige Antworten, zwischen denen entschieden werden muß: »Was ist plausibel und mehrheitsfähig?« Es ist wohl die nachwirkende Erfahrung mit der Avantgardetheorie, daß diese Offenheit oft mit Prinzipienlosigkeit und Beliebigkeit verwechselt wird. Dabei ist dieser Vorwurf jedoch auch Ausdruck von Mangel an Diskurs über die Kriterien des Handelns und Entscheidens – wenn man so will, über die »Gesinnung«, aus der heraus agiert wird. Prüfsteine für »richtiges« Handeln – auch in der Politik – sind bestimmte »Grundwahrheiten«, die die handelnden Personen innerhalb ihrer Klientel beachten müssen, die auszudrücken und umzusetzen von ihnen erwartet wird, die aber selbst nur angenommene Gewißheiten darstellen.
Wer danach forscht, bekommt es mit »Glaubenselementen« zu tun, an denen man selbst hängt, die anderen wichtig sind, die in einer Gemeinschaft als »normal«, »logisch« und »authentisch« erscheinen, mitunter als »ewig«, zumindest von langer Dauer.5 Soziale Bewegungen – wie gerade die sozialistische, die besonders stark mit Werten aufgeladen ist – sind Kulturen. Sie »leben« durch ihre Gewißheiten. In ihnen teilen die Subjekte auch die Irrtümer. Als »wahr« gelten dann jene Annahmen, auf die man sich einigt, etwa in einem Parteiprogramm.
Für jemand, der von außen auf diesen Wandel blickt, ist es schon erstaunlich, daß dieser zentrale Punkt in der Debatte über die künftige Programmatik der PDS – die Frage nach den »Gewißheiten« innerhalb der Pluralität und den Kriterien und Quellen für linke Moral – so wenig Beachtung findet. Obwohl (oder gerade weil?) zum Beispiel in der Friedensfrage (und nicht nur hier) die »Gesinnungsnerven« blank lagen, macht sich anscheinend eine Position des ›Nur-nicht-daran-rühren‹ zunehmend breit.
Anläßlich des 150. Geburtstages von Eduard Bernstein, den so recht niemand gern zu feiern scheint, bieten sich dazu einige Gedanken an, geht doch auf ihn die damals (1901) in der Arbeiterbewegung seltsame Frage zurück, ob Sozialismus überhaupt als Wissenschaft möglich sei (das war immerhin ein paar Jahre vor dem für moderne Sozialwissenschaften bedeutsamen »Werturteilsstreit«6).
Bernstein relativierte zwar die Frage – Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich? –, verneinte aber die Antwort. Der Sozialismus habe ein idealistisches Element, »ein Stück Jenseits«, etwas, »was sein soll«7. Das war schon starker Tobak zu einer Zeit, als eine Mehrheit unter den Sozialdemokraten gerade die Wissenschaftlichkeit ihrer Weltanschauung gegenüber jenen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien hervorhob, die ihre Ziele und Motive religiös begründeten oder sich – wie die Minderheit der Liberalen – auf Adam Smith und andere klassische Ökonomen beriefen, die mit Marx’ »Kapital« als überwunden galten. Mehr noch, es dominierte die Vorstellung, die Partei habe »keinen Glaubens- oder Gewissenszwang« auszuüben.8
Um der Arbeiterbewegung plausibel zu machen, daß nämlich »nicht die Thatsache des Mehrwerts schlechthin …, sondern die Mißbilligung des Mehrwerts durch die Massen«9 entscheidend sei, forderte Bernstein, Sozialismus stärker ethisch zu begründen – da sich aus der Ökonomie, wovon man zunächst mit Gewißheit ausgegangen war, keine objektive Gesetzmäßigkeit hin zu einer neuen Gesellschaftsordnung ableiten ließ. Seine Erlebnisse in England sensibilisierten Bernstein hinsichtlich der – in Deutschland wesentlich schwächeren – damaligen ethischen Kulturgesellschaften. Diese sollen wiederum von Bebel 1896 auf dem Kongreß des ethischen Bundes in Zürich der »Humanitätsduselei« bezichtigt worden sein.10 Von viel weitreichenderer Bedeutung aber war die Abgrenzung Bernsteins von seiner eigenen – bis dahin sehr dogmatischen – »materialistischen« Marx-Interpretation und der daraus abgeleiteten angeblich ›wissenschaftlichen‹ sozialistischen Weltanschauung.
Wenn Sozialismus eine wissenschaftliche Lehre ist, dann ist er es auch als Weltanschauung. Andere Weltanschauungen sind dann per Definition unwissenschaftlich. Wenn aber jede Weltanschauung unwissenschaftlich ist (oder genauso wissenschaftlich wie andere), weil es hier gar nicht um Wissenschaften geht, sondern um kulturelle Ansichten, um Systeme von Werten und Meinungen, dann ist wohl Max Weber zuzustimmen, daß »›Weltanschauungen‹ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren«11. Wenn dies also gilt, dann ist »wissenschaftlicher Sozialismus« zumindest schlechte Utopie, aber auf alle Fälle genau so wahr oder falsch wie jede anders begründete Gesellschaftslehre. Es gilt auch der Umkehr-schluß: Sozialismus ist aus mehreren Weltanschauungen ableitbar, aus christlicher oder moslemischer Sicht ebenso denkbar wie aus »wissenschaftlicher« im traditionellen Sinne der (deutschen) Arbeiterbewegung.
Um dem Eindruck zu widersprechen, daß es sich hier um einen längst vergangenen Streit handelt, sei auf einen kleinen Artikel von Rolf Stöckel (MdB, SPD) in der Ausgabe 1/2000 der Zeitschrift Berliner Republik verwiesen. Dort kritisiert der Autor, daß vie- le Politiker seiner Partei im Osten Deutschlands (der Herkunft nach zumeist Theologen) dem christlichen Missionsauftrag zu oft Priorität geben und dadurch »kulturell haarscharf neben den Einstellungen einer großen Mehrheit der Bevölkerung« liegen. Generalisierend kommt er zu dem Schluß: »Das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und christlichen Kirchen hat sich historisch von der antiklerikalen Tradition weg, zu einer kritisch-partnerschaftlichen Zusammenarbeit entwickelt.« Dies ist wohl richtig beobachtet. Angemerkt werden muß jedoch: Auf dem Wege dahin hat sich die deutsche Sozialdemokratie weltanschaulich pluralisiert. Das Godesberger Programm von 1959 nennt als Quellen des »demokratischen Sozialismus«: die christliche Ethik, den Humanismus und die klassische Philosophie. Was sind demgegenüber die Quellen des demokratischen Sozialismus der PDS?
Für den jahrelang in Marxismus-Leninismus und in den »drei Quellen und Bestandteilen« Geschulten ergeben sich an dieser Stelle mindestens zwei Fragen danach, wie es die Linke halten will: Woher nimmt sie ihre Ethik(en), wenn es um weltanschauliche Gewißheiten bzw. Grundaussagen geht? Wie hält sie es mit Religionen und Humanismen? Das Antworterfordernis ergibt sich nicht direkt aus dem, was Politiker gewöhnlich Sachzwänge nennen. Doch zeigt jede Politik, daß früher oder später nach Werten (Überzeugungen, Glaubenssätzen usw.) gefragt wird, aus denen sich Begründungen für bestimmte Strategien und Einzelmaßnahmen herleiten.
Mit den Werten hat es aber eine eigentümliche Bewandtnis. Sie sind in bestimmten sozialkulturellen Räumen gültig, folgen selbst bestimmten geistigen Herleitungen und Autoritäten und bündeln sich in Kultursichten, die mehrheitlich noch immer religiös geprägt sind, auch wenn nicht-religiöse Weltdeutungen an Boden gewinnen. Sie begleiten die Moderne.
So eindeutig in der Mehrheit wie in Ostdeutschland sind nicht-religiöse Sichten aber sonst nirgendwo: »Als religiös verstehen sich 1990, 1994 und 1995 rund 55 Prozent der Bevölkerung im Westen und rund 30 Prozent im Osten, als überzeugte Atheisten rund 5 Prozent im Westen und rund 20 Prozent im Osten.« Der östliche Teil Deutschlands ist »von der Religion weiter abgerückt als der Westen; er ist stärker säkularisiert«. Es ist dies »der massivste Unterschied zwischen den Landesteilen«12.
Wenn also das Ende der Weltanschauungspartei gekommen ist, wie geht sie dann mit solchen Befunden um? Mehr noch, wonach richtet sich die Anhängerschaft? Woran richtet sie sich auf und aus? Das ist erst in zweiter, dritter oder vierter Linie – je nach Gesinnung – eine Frage der Religion, aber immer eine nach den Überzeugungen, dem Weltbild und (nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus) vor allem auch die Frage nach dem Ersatz für eine obsolete Grundüberzeugung. Kern des »wissenschaftlichen Sozialismus« bildete die »Gewißheit«, es gäbe »Gesetzmäßigkeiten« der gesellschaftlichen Entwicklung, die zu entschlüsseln das historische Subjekt Arbeiterklasse fähig sei (in Gestalt ihrer Partei). Diese Klasse hatte eine »historische Mission« und die Partei einen Auftrag, den sie an ihre Mitglieder weiter gab und über diese durchsetzte. Alle Aktivitäten der Partei, ihrer Gliederungen und später der von ihr in Besitz genommene Staat sollten – Wechselfälle, Unglücke und Verrätereien eingerechnet – letztlich diesem Lauf der Geschichte dienen und ihn befördern.
Das Geschichtssubjekt »Arbeiterklasse« und die Einrichtungen der Partei standen in dieser Konstruktion in einer – als mehr oder minder wirkungsmächtig angenommenen – direkten Beziehung zum Lauf der Ökonomie, zur »Basis« in ihrer Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Um den gesetzmäßigen Gang zu beschleunigen (»Sozialismus oder Untergang«), hatten sich die (kollektiven) Subjekte (eingeschlossen die ›verbündeten Klassen und Schichten‹) die Weltanschauung des Marxismus, dann des Marxismus-Leninismus, in den jeweils neuen Befunden an- zueignen.
Auch Kultur stand bei diesen Annahmen in genau diesem Abhängigkeits- und Erziehungsverhältnis. Religion galt als Teil eines falschen oder gegnerischen Bewußtseins. Teils wurde mit ihrem Absterben gerechnet. Jedenfalls galt sie als Relikt von Voraufklärung und Vergangenheit. Etwas mußte allerdings – im Zuge einer Kulturrevolution – an ihre Stelle treten, eine ebenso mächtige Institution wie die religiöse Kultur. Das konnte – auch durch den Druck von außen und durch die Reste des Kapitalismus im Inneren bedingt und weil die Religion selbst normativ war – nur eine gleichfalls normativ begriffene Kultur sein, sowohl hinsichtlich der Lebensweise wie auch der Künste. Pluralismus war diesem Modell gefährlich, sozusagen die »Konterrevolution auf Filzlatschen«. Und religionswissenschaftlich gesehen wurde die SED zu einer Art Kirche, mit all den Zeichen und symbolischen Handlungen, die eine religiöse Bewegung auszeichnen. Sie war sogar eine ziemlich fundamentalistische Kirche mit eigener Inquisition, mit Buße – und Lachverboten.
Sinndebatten, Diskurse über Werte, gab es in der DDR in der Regel als weltanschaulichen Streit (meist als Abwehrkämpfe) und als Kontroversen über Kulturelles, speziell über die Künste. Kultur war nicht nur etwas Wesenhaftes, sondern sogar Staatsaufgabe, weil definierbar schien, wie man leben sollte.
Heute findet diese Auffassung kaum noch Anklang (obwohl gerade in Ostdeutschland noch viele sehr genau wissen, was ›Kultur‹ und was ›Unkultur‹ ist). Während inzwischen für Kultur immer mehr akzeptiert wird, daß sie ein Diskursprojekt und keine normative Angelegenheit darstellt, sind die Schlußfolgerungen, die dies für eine demokratische Linke hat, bisher weitgehend unreflektiert. Demokratie bedeutet jedoch auch, daß unterschiedliche weltanschauliche Ansätze akzeptiert werden müssen und jedwede Anmaßung einer alleinigen Deutungsmacht einer einzigen – etwa der marxistischen – Position zurückzuweisen. Rein theoretisch wären Mehrheitsentscheidungen auf der Basis eines religiösen Sozialismus möglich, wenn dessen Vorschläge hinreichend pragmatisch wären, anstehende Sachprobleme einer Lösung zuzuführen und Politikangebote so zu begründen, daß sie anderen nicht als sektiererische Zumutungen erscheinen.
Das zunächst theoretisch zu bewältigende Problem, das diese Variante verstehbar macht, liegt darin, daß für die organisierte Linke nicht mehr und nicht weniger weggefallen ist als die bisherige Begründung dafür, warum es Sozialismus überhaupt geben soll – und jetzt auch noch einen ›demokratischen‹. Wenn Sozialismus, wie bisher angenommen, nicht mehr aus den Widersprüchen der sozialökonomischen Verhältnisse irgendwie zwingend hervorwächst (»den Sozialismus in seinem Lauf …«), woraus läßt sich dann seine Notwendigkeit (besser: seine Nützlichkeit) ableiten?
Die Linke ist hier – nach dem Ende des voluntaristischen Programms Lenins, des theoretischen wie praktischen Stalinismus, der Avantgardetheorie generell – auf den Ausgang dieses Streits vor 1914, auf die »Revisionismus-Debatte« und ihre Weiterführung in den zwanziger (Arbeiterkulturbewegung) und fünfziger Jahren (Kulturrevolution) zurückverwiesen und zur kritischen Analyse aufgefordert. Es hat sich in der Historie gezeigt, daß die Linke (wie übrigens auch die Rechte) auf besondere Weise auf eine kulturelle Argumentation angewiesen ist. Wer will, daß alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes, unterdrücktes, ausgebeutetes Wesen ist, umgewälzt werden, muß Knechtung, Ausbeutung, Unterdrückung am realen Menschen begründen und das Gegenteil beschreiben können.
Das bedeutet auch, Kulturpolitik ernster zu nehmen. Doch die ursprüngliche Affinität zur Kulturpolitik hat die Linke in Deutschland heute weitgehend verloren, sowohl die kulturelle Seite aller Politik, wie auch den ganz speziellen arbeitsteiligen Bereich: Kultus, Kunst, Kulturpflege, Wissenschaft, Bildung. Hier sind ihre Anwälte in der öffentlichen Auseinandersetzung nicht sachkundig vernehmbar. Dies liegt wesentlich in einer noch immer unkritischen Sicht auf die Kultur in der DDR und in einer eingeengten Sicht auf kulturelle Probleme generell begründet. Um es zugespitzt zu sagen: Ob die ostdeutsche Jugend (nicht nur diese, aber diese besonders) nach rechts abdriftet, wird nicht mittels der Zahl geretteter Theater entschieden, sondern dadurch, ob auf »fehlende Werte« wie »Ordnung«, »Ehre«, »Sauberkeit«, »Disziplin«, »Fleiß« usw. kulturell einsichtige und annehmbare Antworten gegeben werden. Und allein theoretische Antworten werden nicht genügen, es wird schon der sozialorientierten Kulturarbeit bedürfen.
Hierzu lohnt es sich dann durchaus, Bernsteins Repliken auf Kautsky neu zu lesen. Auffällig ist dabei vor allem sein radikaler Pragmatismus, besonders seine Auffassung, in Vereinen, Kommunen, Genossenschaften usw. am Sozialismus arbeiten zu wollen – vor allem der arbeitenden Menschen wegen: »Sie haben die Tugenden und die Laster der wirthschaftlichen und sozialen Bedingungen unter denen sie leben. Und weder die Bedingungen noch ihre Wirkungen lassen sich von einem Tage auf den anderen beseitigen.«13
Deshalb war ihm – er wußte, daß er provoziert – das Ziel nichts, sondern die Bewegung alles. Daß Bernstein den Sozialismus (wie Marx) als Bewegung begriff und ihn (weil er, wie Engels, hier eine Lücke bei Marx sah) »ethisch« begründete, war logische Konsequenz seines Unglaubens hinsichtlich jeder (automatischen) Notwendigkeit des Sozialismus. Wenn Bernstein meinte, Sozialismus sei nicht wissenschaftlich begründbar, so bezog sich das auf die wertenden Aussagen, auf die generalisierende, allgemeine Weltanschauung.
Auf den Begriff der Weltanschauung soll hier nicht weiter eingegangen werden, zumal er verbraucht ist. Dennoch steht das, was der Begriff suggeriert, die Sicht auf das vermeintlich Ganze und dies wieder bezogen auf Natur, Gesellschaft und Mensch, als soziale Tatsache im Raum und spiegelt sich unter anderem in der Schwierigkeit, das Ende als Weltanschauungspartei zu verarbeiten. Für die kulturelle Programmatik der Linken hat das Ende der Weltanschauungspartei und das Verwiesensein auf ethische – weiter gefaßt – auf kulturelle Begründungen des Sozialismus existentielle Bedeutung: Die Menschen müssen den »angebotenen« Sozialismus hier und heute leben und für ihre Kinder und Enkel wünschen wollen, damit er Erfolg hat; aber nicht im Sinne von »Wie sollen die Menschen leben?«, sondern »Wie wollen welche Menschen leben?«
Das hat auch Folgen für das Parteiverständnis allgemein (auch das wird hier ausgeklammert). Für Kulturprogrammatik bedeutet dies vor allem, erstens höhere Aufmerksamkeit hinsichtlich der kulturellen Implikationen der Vorschläge in anderen Politikfeldern. Es geht ja bei der Rentenproblematik – zum Beispiel – um Wertvorstellungen, Lebenschancen, Erwartungen, Wünsche, Träume, Versprechungen …, aber auch Institutionen und symbolische Deutungen. Zweitens folgt daraus, den Debatten in den parteineutralen Interessenvereinen größere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zeit eigener Vorfeldorganisationen ist weitgehend vorbei. Diese erweisen sich zunehmend als ineffektiv, weil man unter sich ist. Der allgemeine gesellschaftliche Kulturdiskurs findet dort statt, wo sich Interessen artikulieren und sich politische Ansätze erproben lassen. Insofern ist die Linke – wie alle anderen Strömungen – kulturell »parteilich«, wenn sie Vorstellungen vom »guten Leben« ernst nimmt und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Folgen und politischen Machbarkeit prüft – dies immer mit dem Hang, Anwalt sozialer Verantwortung und Gerechtigkeit sein zu wollen.
Als »Weltanschauungspartei« okkupierte die SED die Deutungs-hoheit über eine besondere Vorstellung vom »guten Leben« und ordnete sie der Priorität des dialektischen und historischen Materialismus unter. »Religiöse Sozialisten« waren in der SED und in der DDR ebenso unwillkommen wie »sozialistische Freidenker«. Wie will es die PDS nun halten? Will sie diese Kräfte – auf welcher »weltanschaulichen« Basis? – integrieren oder ignorieren? Was bleibt vom aufklärerischen, agnostisch-atheistischen Gehalt des Marxismus in ihrer Auffassung vom demokratischen Sozialismus? Die SPD hat sich dazu in Bad Godesberg (siehe oben) positioniert.
Das sind keine abstrakten Fragen, denn ihre Antworten implizieren politische Haltungen zu Handlungsfeldern, nicht nur zu kirchlichen, freigeistigen, humanistischen und ähnlichen Organisationen. Die Linke – wie weit reicht sie eigentlich im politischen Spektrum? – ist vielmehr auf allen fünf Ebenen, auf denen heute Kulturpolitik stattfindet und über finanzielle Förderungen wie gesetzliche Regelungen gestritten wird, gefordert: Europa, Bund, Länder, Kommunen, freie Träger. Es sind hier oft die Probleme zwischen den verschiedenen Ressorts, die kulturelle und kulturpolitische Relevanz besitzen.
Und dann gibt es noch das kulturpolitische Gebiet, auf dem das Weltanschauliche pur in Erscheinung tritt14 und auf dem es – um dieses Feld auch Haushältern schmackhaft zu machen – jährlich um mehrere Milliarden Deutsche Mark geht, und um reale Toleranz und wirkliche Demokratie.
Gemeint ist das Verhältnis zwischen Staat, Kirchen sowie anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu solchen Streitfragen wie (als Stichworte, ohne eine Wertigkeit in der Reihenfolge ausdrücken zu wollen): Islamischer Religionsunterricht an staatlichen Schulen; die »Kopftuchfrage«; staatlicher Einzug der Kirchensteuern; Staatsverträge und Konkordate; körperschaftliche und steuerrechtliche Gleichstellung aller Religions- und Weltanschauungsorganisationen; Religionsunterricht und/oder LER, Ethik, Philosophie, Normen und Werte, Kulturkunde, Lebenskunde …; Jugendweihe als gesetzlich förderungswürdige Aktivität; Patientenverfügungen, Sterbehilfe, Sterbebegleitung, Hospize; Bioethik; kirchliche und freidenkerische Ersatz- bzw. Privatschulen; Trägerschaft von Seniorenheimen und Kindertagesstätten; Schwangerschaftsabbruch; »Gott« in der Verfassung; Privilegierung der Theologie; »Sekten«Bekämpfung; Besetzung der Rundfunkräte; staatliche Gedenkfeiern bei Katastrophen und Unfällen auf allein christlicher Basis; Kreuze in Schulen und im Bundestagsandachtsraum …
Gesellschaftspolitisch steht die Linke hier vor Werteproblemen, die sich um eine strategische Entscheidungsfrage bündeln lassen: Will sie den »neutralen Staat«, wie er Jefferson und Marx vorschwebte und in Frankreich, den Vereinigten Staaten von Amerika und anderen Ländern weitgehend Realität ist (der in Deutschland schwer umsetzbar wäre) oder will sie die Gleichbehandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften? Was heißt Gleich-behandlung, wer soll mit wem gleich behandelt werden und was bedeutet dies für Politik?
Eine mögliche Antwort könnte hier Marx durchaus wörtlich nehmen: Erstens müsse man »die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik«15 verwandeln; und zweitens sei allein »der atheistische Staat, der demokratische Staat, der Staat, der die Religion unter die übrigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft verweist«16. Aus der bereits (was Deutschland betrifft) im Vormärz vorgetragenen Idee, nur der säkulare Staat könne demokratisch sein, folgte die Forderung des Kommunistenbundes nach völliger »Trennung der Kirche vom Staate. Die Geistlichen aller Konfessionen werden lediglich von ihrer freiwilligen Gemeinde besoldet.«17, was in Deutschland nicht der Fall ist.
Daraus folgen aber weitere Fragen – schier ohne Ende: In welchen Schritten soll sich die vollständige Entkirchlichung des Staates vollziehen? Will sich die Linke dieser Thematik überhaupt annehmen? Gibt es dafür Bündnispartner in den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften? Oder meint sie, Weltanschauung sei Privatsache. Doch was folgt dann daraus?
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Horst Groschopp – Jg. 1949; Dr. phil. habil., Kulturwissenschaftler, Geschäftsdführender Direktor der Humanistischen Akademie Berlin und Redakteur der Zeitschrift humanismus aktuell; Veröffentlichungen (u.a.): Zwischen Bierabend und Bildungsverein (1985), Dissidenten (1997). |
1 Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Frankfurt/M. 1989, S. 118. 2 Ebenda, S. 125; vgl. Helmut Günter Meier: »Weltanschauung«. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs, Münster 1967. 3 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1970 (1947), S. 177. 4 Ebenda, S. 177f. 5 Vgl. Clifford Geertz: Common Sense als Kultursystem, in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983, S. 261-288. 6 Vgl. Christian v. Ferber: Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation, in: Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, Köln, Berlin 1965. 7 Vgl. Eduard Bernstein: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?, Berlin 1901, S. 19. 8 Vgl. ebenda, S. 31. 9 Ebenda, S. 12. 10 Vgl. Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin 1997, S. 159f. 11 Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 154. 12 Heiner Meulemann: Aufholtendenzen und Sy- stemeffekte. Eine Übersicht über Wertunterschiede in West- und Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament«, Nr. 40/41, 1995, S. 28f. 13 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 184 (zitiert nach der Ausgabe von 1909). 14 Zwei Kostproben: Kultusministerin Schavan (Baden-Württemberg) erklärte neulich, »daß eine Entfernung von Gott nicht ohne Schaden am Intellekt einhergehen kann« (taz, 1. März 2000). Innensenator Werthebach (Berlin) meinte, das Grundgesetz beruhe auf einem christlich-abendländischen Werteverständnis. Dieses müsse bei Menschen, die aus anderen Kulturkreisen nach Deutschland kommen, »im Rahmen des Religionsunterrichts Bestandteil der Intergrationsbemühungen sein« (Tagesspiegel, 4. März 2000). 15 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (im folgenden MEW), Bd. 1, S. 379. 16 Karl Marx: Zur Judenfrage (1844), in: MEW, Bd. 1, S. 357. 17 Karl Marx, Friedrich Engels: Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland, in: MEW, Bd. 5, S. 4. |