Publikation Staat / Demokratie - Wirtschafts- / Sozialpolitik Ein Quentchen Unperfektheit?

Utopie Kreativ Heft 117 Juli 2000

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Reihe

Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

Autor

Ilja Seifert,

Erschienen

Juli 2000

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UTOPIE kreativ, H. 117

(Juli 2000)

S. 629-640Die erreichte Stufe – naturwissenschaftlicher – Entwicklung läßt keinen Zweifel mehr daran, daß es in absehbarer Zeit möglich sein wird, Menschen nach eigenem Bilde zu formen. Als Goethe seinen Prometheus dem Gottvater Zeus diese Worte entgegenschleudern ließ, wurden sie zu einem der Fanale des sich aufklärend emanzipierenden Bürgertums. Sie prägten ein neues Menschenbild. Es war – und ist! – ein Bild voller Kraft, Selbstvertrauen und Stolz.

Heute läßt mich der Gedanke erschaudern, jemand begänne, Menschen nach dem eigenen Bilde zu formen. Perfekt! Er (oder sie) nimmt dazu keinen biblisch überlieferten Lehmklumpen, sondern eine DNA. Er (oder sie) betätigt sich nicht, am Ufer sitzend, bildhauerisch gestaltend, sondern, im Reinstlabor abgeschirmt, gentechnisch manipulierend.

Kommen wir da mit dem Goethe-Prometheusschen Menschen-bild noch aus? Ist Wissenschaft tatsächlich mit Fortschritt gleichzusetzen? Fordert uns dialektisches Herangehen nicht dazu auf, immer zumindest auch die Möglichkeit des Gegenteiligen anzunehmen? Kann ein Zeitpunkt eintreten – gegebenenfalls schon eingetreten sein –, von dem an wissenschaftlicher Fortschritt zum Fluch wird? Jedenfalls stärker zum Fluch als zum Segen? Daß also negative (menschheitsgefährdende!) Auswirkungen die positiven (menschheitsbeglückenden) Aspekte weit überwiegen?

Eine demokratische Bewegung, die sozialistische Lebensverhältnisse anstrebt, kommt nicht daran vorbei, ein Bild vom Menschen zu entwickeln, das aktuelle Ergebnisse und vorhersehbare Möglichkeiten junger und traditioneller Zweige der Naturwissenschaften berücksichtigt. Ebensowenig darf es eine Partei, die sich in dieser Bewegung sieht: die PDS. Zumal von seiten der Apologeten des bestehenden Gesellschaftssystems – ich kann auch sagen: des Kapitalismus – philosophischer Flankenschutz längst existiert: in erster Linie in Gestalt der Bioethik.

Mir ist klar, daß schon der Terminus »Bild vom Menschen« viel zu kurz greift. Es gibt eben nicht »den Menschen«. Auch nicht – um feministischen political-correctness-Illusionen zuvor zu kommen – »die MenschIn«.

Ich habe aber keinen geeigneteren Begriff anzubieten. Das bleibt ein Manko. Es wird noch an anderen Stellen auftreten. Da sich dieser Essay jedoch als ein Diskussionsbeitrag versteht, mag vielleicht schon das (abermalige) Benennen offener Fragen geeignet sein, zukünftigen Antworten näher zu kommen.

Das Ganze in seinen Teilen finden

Wichtige Grundprobleme spiegeln sich – pars pro toto – in allen Teilen der Gesellschaft wider. Es ist also fast egal, anhand welcher Beispiele untersucht wird, mit welchem Menschenbild wir konfrontiert sind. Ebenso muß sich eine sozialistische Alternative nicht nur im großen Ganzen, sondern auch in seinen Teilen finden. Deshalb erlaube ich mir, unter besonderer Berücksichtigung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Krankheiten, über Perspektiven eines Menschenbildes nachzudenken, das für sozialistische Verhältnisse Bedingung wie Ziel sein könnte.

Menschenbilder sind ja nicht einfach so da. Sie erlangen im alltäglichen Verhalten von Frauen und Männern materielle Kraft. Deshalb will ich versuchen, Verhältnisse zu beschreiben, in denen ethische Maßstäbe geformt werden. Wer eine sozialistische Alternative will, muß schließlich Verhältnisse ändern. Es geht also nicht zuletzt um Ansatzpunkte für Gesellschaftsveränderung.

Nehmen wir das Gesundheitswesen. In der aktuellen, öffentlichen Diskussion darum scheint völlig aus dem Blick zu geraten, daß es eigentlich um Menschen geht. Um Frauen und Männer, Kinder, Jugendliche oder Alte, die sich nicht wohl fühlen. Ob man sich einen Arm gebrochen hat oder starker Husten reizt, ob psychischer Druck jemanden belastet oder eine Operation erforderlich wird, ob Zahnweh mich zur Verzweiflung bringen will oder eine junge Frau ihr erstes Kind gebiert – immer ist man in der Situation, sich in fremde Hände begeben zu müssen. Da schwingt sehr viel Vertrauen mit. Vertrauen in die Kunstfertigkeit der Ärzte, in die Freundlichkeit von Schwestern, in das Können von Physiotherapeuten, in das Einfühlungsvermögen von Psychologen, in die Funktionstüchtigkeit der Geräte, in die Wirksamkeit von Medikamenten, in die Heilwirkung an Kurorten usw. usf. Der Zweck dessen, was Gesundheitspolitik genannt zu werden verdient, besteht darin, dieses Vertrauen zu rechtfertigen, es zu stärken und auszubauen. Das erfordert, ein im Gesundheitswesen häufig noch immer vorhandenes, nahezu blindes Vertrauen zu den »Göttern in Weiß« in vertrauensvolle Partnerschaft zwischen Ärzten und sonstigem medizinischen und medizinisch-technischem Personal einerseits sowie Patientinnen und Patienten andererseits zu überführen.

Im Schoße des Kapitalismus

Damit muß nicht gewartet werden, bis voll ausgereifte sozialistische Verhältnisse bestehen. Daran können wir bereits heute arbeiten. Im Grunde genommen ist dieser Prozeß bereits im Gange. Es geht nicht mehr um erste Schritte. In der Praxis geht es bereits darum, diese – zugegebenermaßen noch schwache – Bewegung zur vorherrschenden Tendenz zu machen. Dialektische Gesetze lassen sich nicht außer Kraft setzen: Auch der Sozialismus muß im Schoße der alten Gesellschaft entwickelt werden.

Zurück zum Gesundheitswesen als Teil des bestehenden gesellschaftlichen Systems. Insbesondere mit Blick auf die in Talk-Shows zelebrierte öffentliche Diskussion wird ein ganz anderer Eindruck vermittelt. Dort geht es nicht um Menschen und deren Gesundheit. Es scheint einzig und allein um »Effizienz«, um »Wirtschaftlichkeit«, um »Kostenreduzierung«, um »Einsparungen«, um »Geld« zu gehen. Das wird nur leicht verschleiert. Da sorgt man sich um die »Beiträge der Versicherten«. Da fühlt man sich verantwortlich für »Beitragsstabilität«, da wittert man allerorten »Leistungsmißbrauch«. Von Patienten ist kaum die Rede. Eher noch von »Versicherten«. Davon, daß es sich um Frauen und Männer, Kinder und Alte, Menschen mit und ohne Behinderungen und/oder chronischen Krankheiten handelt, scheint das Denken weit entfernt. Niemand nimmt Leistungen des Gesundheitswesens gern in Anspruch. Wer geht schon aus Jux und Tollerei zur Computertomographie, zum Zahnarzt oder zum Urologen?

Hier sehe ich eine ernste Verzerrung des Bildes vom Menschen: Obwohl Werbung uns einem superegoistischen Individualitätskult aussetzt, ging (nicht nur im Gesundheitswesen) der Blick auf die Individuen (scheinbar) verloren. Selbst diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die sich einer »ganzheitlichen Medizin« verschreiben, sehen vor sich fast immer »Patienten«. Gelegentlich unterscheiden sie wenigstens nach »Patientinnen und Patienten«. Daß es sich um Leute handelt, die sich während der längsten Zeit ihres Lebens als Frauen oder Männer verstehen, die älter werden, arbeiten gehen, lieben, verreisen, sich streiten, politisch auftreten, in Karnevalsclubs schunkeln, sich in sozialen, ökologischen oder kulturellen Projekten engagieren, beten, Kinder erziehen, lesen, ins Konzert gehen, sich sportlich betätigen und/oder vorm Fernseher sitzen usw., will offenbar kaum jemand bemerken, geschweige denn, ernst nehmen.

Aber ich will hier nicht einseitig Schuld zuweisen. Umgekehrt beobachte ich häufig ein analoges Rollenverhalten: Ein gestandener Literaturwissenschaftler kommt zum Arzt, weil er seit Tagen Fieber hat – und ist (spätestens ab Warteraum) ausschließlich »Patient«. Er benimmt sich nicht nur wie jemand, der sein Leben lang Patient wäre, nein, sein ganzes Verhalten deutet darauf hin, daß er es wirklich ist. Oder: Eine Sängerin bricht sich beim Skilaufen den Oberschenkel – und denkt sich selbst von dem Moment an nur noch als »Gipsbein«. So liefern sich beide bedingungslos denen aus, die sie behandeln.

Hinzu kommt eine äußerst widersprüchliche Verquickung von Schein, Sein und Wesen: Der Arztberuf lebt nach wie vor vom Nimbus des uneigennützigen Helfers. In der Praxis sind Ärzte aber Unternehmer. Als Angestellte in Krankenhäusern haben sie Managerfunktionen. Das Vergütungssystem ist auf »abrechenbare Leistungen« fixiert, nicht auf Zuwendung. Ökonomischer Druck steht medizinischem Ethos also entgegen.

Hier finden wir eine klassische Überforderungssituation beider Seiten vor. Medizinern wird eine gottähnliche Verantwortung aufgebürdet. Kranke begeben sich in eine sklavenähnliche Unterwürfigkeit. Unter solchen Voraussetzungen sind wir von partnerschaftlichem Miteinander sehr weit entfernt.

Einander ernst nehmen

Dabei ginge es wahrscheinlich – nach einer gesellschaftlichen Gewöhnungsphase – allen Beteiligten wesentlich besser, wenn sie einander als ebenbürtige Partner begegneten. Jeder kennt seine Fähigkeiten. Jeder achtet die der anderen. Ärzte sind Spezialisten für (bestimmte) Heilungsprozesse. Kellnerinnen sind Spezialistinnen in der Betreuung von Restaurantgästen. Schweißer können Metallteile zusammenfügen, Logopäden sprechen lehren. Keiner ist wichtiger als der andere. Jeder kann eben etwas anderes. Aber alles wird gebraucht. Auf allen Gebieten darf man erwarten, daß die jeweiligen Hauptakteure ihr Bestes geben. Das schließt natürlich ein, daß Irrtümer unterlaufen, daß jemand mal lustlos werkelt. Meist leiden dann andere darunter. So bedauerlich, z.T. verwerflich, gelegentlich fahrlässig, manchmal sträflich das ist: Es kommt auch im Gesundheitswesen vor. Es ist also sinnvoll, den Glorienschein verblassen zu lassen. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, Ärzten a priori mit größerer Dankbarkeit entgegen zu treten als Kellnerinnen. Es besteht auch keinerlei Grund, anzunehmen, daß sie quasi qua Beruf(ung) automatisch »bessere Menschen« wären. Ich bin mir verhältnismäßig sicher, daß es ihre Arbeit nur erleichtern würde, gelänge es uns, ihnen die Bürde zu nehmen, sich selbst ständig als etwas fast Übernatürliches sehen zu müssen. Ich halte ein gesellschaftliches Klima für wünschenswert, in dem ich mit meinen gesundheitlichen Beschwerden, Fragen, Vermutungen, Ängsten usw. zum Arzt komme, in dem ich jemanden sehe, dessen Fachwissen geeignet ist, die Komplexität meines Problems zu erfassen und diejenigen Aspekte, die sich medizinisch erklären lassen, so zu behandeln, daß ein Teil meiner Sorgen geringer wird bzw. verschwindet. Er (oder sie) seinerseits sieht in mir einen Mann bestimmten Alters, dessen Fähigkeiten auf ganz anderem Gebiet liegen. Heute nehme ich seine (ihre) Hilfe in Anspruch. Morgen kann die umgekehrte Situation eintreten: Er (sie) nimmt Fähigkeiten desjenigen Menschen in Anspruch, der in diesem Moment als Patient bei ihm (ihr) ist. Das kann ein Computerspezialist sein oder eine Friseuse. Jeder erwartet vom jeweils anderen Entgegenkommen, Verständnis, saubere Arbeit.

In einer solchen Situation gewänne der Hippokratische Eid eher noch an Bedeutung. Genauer gesagt, die ihm zugrunde liegende humanistische Herangehensweise. Einige seiner Passagen – insbesondere die zu bestimmten Behandlungsmethoden wie Operieren usw. – müssen ja heute als überlebt betrachtet werden. Er gewänne die Funktion einer freiwilligen Selbstverpflichtung zurück. Er wird vom Sockel glorifizierender Unfehlbarkeit genommen. Man darf sich ja nichts vormachen: Obwohl der Eid ursprünglich wohl tatsächlich eher den Charakter einer Selbstverpflichtung hatte, erlangte er im Alltagsbewußtsein breiter Massen im Verlaufe der Zeit immer tiefere mythologische Kraft. Zahlreiche Arztromane und moderne Seifenopern-Serien tragen ihr Scherflein dazu bei, das schillernde Feuer dieses Mythos’ immer wieder zu entfachen. Damit wird der Würde des Berufs ein Bärendienst erwiesen. Dieser Mythos entfaltet große suggestive Wirkung auf (potentielle und wirkliche) Patientinnen und Patienten. Er wirkt aber – nicht weniger gefährlich – auch autosuggestiv auf Ärzte und solche, die es werden wollen.

Partnerschaftliche Achtung voreinander schließt aus, daß Ärzte einfach »anordnen«, welche Behandlung diesem oder jener zuteil wird. Ein solches Verhältnis schlösse auch aus, daß sich Patientinnen und Patienten derartige »Anordnungen« gefallen ließen. Beide Seiten haben Rechte, beide Pflichten. Dem Recht der Patienten auf Aufklärung ist nicht dadurch Genüge geleistet, daß man ihnen mit möglichst vielen unverständlich ausgesprochen lateinisch klingenden Worten sagt, was man tun wird. Aufklärung unter sich partnerschaftlich achtenden Menschen unterschiedlicher Profession bedeutet sachliche Information über den Wissensstand zur Diagnose (einschließlich möglicher Ungenauigkeiten). Alternative Behandlungsmöglichkeiten werden aufgezeigt, eine Vorzugsvariante begründet. Erst nach deren Erörterung legen beide – gemeinsam – den zu beschreitenden Weg fest. Ärzte mögen ja Fachleute für die jeweilige Krankheit sein. Immer aber sind die Patienten diejenigen, welche die Konsequenzen tragen. Deshalb müssen sie in die Entscheidung zur Behandlungsmethode wirklich einbezogen werden. Da genügt es nicht, sich ein Zustimmungspapierchen unterschreiben zu lassen, von dem die/der Unterzeichnende (noch dazu in der Streßsituation) kaum ahnt, es zumindest aber verdrängt, daß es sich vor allem darum handelt, Schadensersatzansprüche zu mildern oder ganz und gar auszuschließen, falls die Behandlung fehlschlägt.

Meint jemand, ich hätte das Thema gewechselt? Gar das Thema verfehlt? Wer einen rein philosophischen Traktat erwartete, mag Recht haben. Mir aber geht es auch um Politik, um heute zu Tuendes. Und um dessen philosophische (theoretische) Grundlagen. Deshalb bleibe ich bei der Gesundheit und rede vom Wesen.

Wie können Ärzte kranken Menschen aufrecht ins Auge blicken, wenn sie gezwungen sind, ihnen zur eigenen (finanziellen!) Sicherheit versicherungsrechtliche Verträge unterzuschieben? Verfälschen sie nicht das tatsächliche Risiko – nämlich, einen dauernden gesundheitlichen Schaden davonzutragen – in ein Haftungsrisiko? Was für Verhältnisse sind das, die weder Patienten noch Ärzte so vor möglichen Irrtümern schützen, daß beide sich mit aller Kraft auf die Vermeidung des Fehlers konzentrieren können? Statt dessen müssen sie schon vor der ersten Behandlung darauf achten, im Falle eines Mißerfolgs nicht als »schuldig« dazustehen! Patienten riskieren ihre Gesundheit, Ärzte ihr Vermögen. Wer über Rechtsanwälte miteinander verkehren muß, wird nicht vertrauensvoller Partner. Wo Haftungsverträge vor der Behandlung stehen, bleibt Humanismus höchstens eine Fußnote. Hier sehe ich einen Widerspruch, der sich innerhalb der bestehenden Ordnung nicht lösen läßt.

Mutierte Goethes Prometheus zum Versicherungsvertreter? Vom stolzen Bürger, der jeder Obrigkeit – sogar der göttlichen – frei trotzt, sehe ich in diesem Bild sehr wenig. Für eine sozialistische Alternative ist es unbrauchbar.

Nun bringt es die konkrete Lebenssituation eines großen Teils der Bevölkerung mit sich, daß sie – ohne dort zu arbeiten – mit verschiedenen Einrichtungen und Leistungen des Gesundheitswesens in der einen oder anderen Weise praktisch ständig verbunden sind: Die Statistik nennt sie »chronisch krank«. Hinzu kommen Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Ich will an dieser Stelle nicht lange darüber diskutieren, daß körperliche, geistige und/oder sensorische Beeinträchtigungen nicht automatisch unter die Rubrik »krank« zu subsumieren sind. Es gibt Menschen, zu deren Lebensalltag es gehört, nicht sehen, hören oder laufen zu können. Es gibt welche, deren Denkstrukturen anders organisiert sind als die der meisten. Wir, die wir sie nicht oder nur schlecht verstehen, nennen sie »geistig behindert«. Etliche kommen von Geburt an mit weniger Gliedmaßen aus. Manche verlieren infolge eines Unfalls oder auch »ärztlicher Kunstfehler« bestimmte Fähigkeiten. Immer dann, wenn es darum geht, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen, haben sie es mit »dem Gesundheitswesen« zu tun.

Fähigkeiten definieren, nicht Defizite

Jahrzehntelange Diskussionen und politische Aktivitäten behinderter Menschen, ihrer Angehörigen und Freunde (die ja von bestimmten Benachteiligungen, Ausgrenzungen und zusätzlichen Belastungen immer mitbetroffen sind) führten zu der Erkenntnis, daß Leben mit Behinderungen nicht »minderwertig« oder gar eine »Strafe« ist. Erst recht ist es kein »immerwährendes Leid«. Dennoch werden im allgemeinen Sprachgebrauch noch immer solche – inzwischen nicht nur albernen, sondern regelrecht die Tatsachen verdrehenden – Bilder kolportiert wie »an den Rollstuhl gefesselt« oder »mit Blindheit geschlagen« oder »unter spastischer Lähmung leidend«. Wer sich im Rollstuhl fortbewegt, nutzt eines seiner wichtigsten Hilfsmittel. Man ist nicht daran »gefesselt«. Ansonsten wäre das ein Fall für den Staatsanwalt: Freiheitsberaubung. Der Unterschied ist klar. Das sollten auch diejenigen (gemeint sind in erster Linie Journalisten, Politiker und andere Multiplikatoren) endlich zur Kenntnis nehmen, die meinen, mit einer besonders blumigen Sprache glänzen zu müssen. In Wahrheit polieren sie nur längst verbrauchte Klischees – zum Schaden anderer – neu auf. Sie verfestigen in der allgemeinen Öffentlichkeit jahrtausendealte, diskriminierende Vorurteile. So erschweren sie auch den Selbstbesinnungsprozeß unter den Betroffenen. Wer immer wieder gesagt bekommt, ein »Leistungsempfänger« zu sein, »etwas in Anspruch zu nehmen«, hilfs-, pflege- oder sonstwie »bedürftig« zu sein, daß die Gesellschaft bestimmte »Lasten trägt« usw., hat es sehr schwer, genug Selbstvertrauen, genug Selbstbewußtsein zu entwickeln, sich nicht als »Makel«, als »mangelhaft«, als »defizitär« zu betrachten.

Noch ist es längst nicht Allgemeingut, dennoch ist ein Trend humanistischer Menschenbild-Entwicklung unverkennbar und sollte nach Kräften gefördert werden: Menschen (mit und ohne Behinderungen) sind nach ihren Fähigkeiten zu definieren, nicht nach ihren Defiziten! Wenn es die höchstmögliche, für (uns) andere erkennbare Leistung eines Menschen ist, gelegentlich zu lächeln, dann ist diese Fähigkeit sein (ihr) wichtigstes Merkmal.

Niemand will – qua Definition – leugnen, daß ein blinder Mensch nicht sehen kann. Aber er soll nicht darauf reduziert werden. Blindheit ist bei weitem nicht seine wichtigste Eigenschaft.

Niemand will – qua Definition – in Abrede stellen, daß gehörlose Menschen Kommunikationsschwierigkeiten mit der hörenden Umwelt haben. Aber sie sollen nicht mit dieser Eigenschaft identifiziert werden. (Ganz nebenbei gesagt: Politiker, Journalisten und andere Meinungsmacher, die nicht auf Betroffene hören wollen, werden ja auch nicht nach dieser Eigenschaft bezeichnet. Oder soll ich sie ungehörig nennen?)

Ich bestreite auch nicht, daß querschnittgelähmte Rollstuhlfahrer nicht laufen können. Aber das ist nur eins von sehr vielen Merkmalen.

Ob blind, ob taub, ob gehunfähig: Es sind entweder Frauen oder Männer. Es sind junge oder alte Menschen. Sie lernen, sind berufs-tätig oder nicht. Sie leben in der Familie, im Heim, in Wohngemein-schaften. Sie haben Kinder (oder auch nicht). Sie spielen, lieben, ärgern sich, verreisen, gehen (rollen) ins Kino, treiben Sport, malen Bilder usw. Sie streiten sich. Sie freuen sich. Manchmal verzweifeln sie. All das – und vieles andere mehr – sind sie. Das ist wesentlich wichtiger als das, was sie nicht sind. Worin unterscheidet sie das von allen anderen Menschen?

Auch bei denen, die gemeinhin als »geistig behindert« bezeichnet werden, ist eine defizitäre Betrachtungsweise unangemessen. Auch bei ihnen handelt es sich nicht um Neutren, sondern um Frauen oder Männer. Auch sie haben intensive Bedürfnisse nach Liebe, nach Geborgenheit, nach Anerkennung. Auch sie registrieren sehr aufmerksam, ob ich sie ernst nehme oder nicht. Und: Wo ist denn der Beweis, daß diese Menschen die Welt nicht unter Umständen wirklichkeitsnäher widerspiegeln als wir, die wir so stolz auf unsere hohe Bildung sind? Jedenfalls sind auch sie Teil der Gesellschaft, die ohne ihre Anwesenheit ärmer wäre.

Brandmarkende Bezeichnungen überwinden

Nicht anders sehe ich Menschen mit psychischen Krankheiten. Es mag ja sein, daß vielen von uns der Umgang mit ihnen schwerfällt. Mir auch. Aber an wem liegt das? Und außerdem: Warum heben wir es in diesem Falle so hervor? Bei Dutzenden anderen Gelegenheiten nehmen wir es hin, ohne damit auch nur einen Moment lang diskriminierende Gedanken zu verbinden. Mit bestimmten Personen unserer Umgebung – sei es auf Arbeit, sei es in der Nachbarschaft – kommen wir zu keiner wirklichen Kommunikation. Dann denken (und sagen!) wir: »Die kann ich nicht leiden.« Oder wir gehen davon aus, daß es umgekehrt ist. Jedenfalls denken wir da in den Kategorien Sympathie und Antipathie. Damit setzen wir uns zueinander ins Verhältnis. Und wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, daß jemand, der mir sympathisch ist, jemand anderem durchaus unsympathisch erscheinen mag.

Wenn hingegen jemand »behindert« genannt wird, ist das eine Brandmarkung. Diese Bezeichnung gilt! Da spielen andere Faktoren keine Rolle.

Nun wäre es also an der Zeit, zutreffendere Bezeichnungen zu finden. In manchen Ländern – z.B. in den USA – sagt man »Menschen mit besonderen Fähigkeiten«. Immerhin, da ist eine positive Grundhaltung deutlich. Aber ich befürchte, der Begriff wird sich nicht durchsetzen. Es gibt eben auch Gesetze der Sprachentwicklung, die nicht außer Kraft gesetzt werden können. Sprachökonomische Faktoren gehören genauso dazu wie eine gewisse Spracheleganz. Zeitweilig können derartige Begriffe also durchaus hilfreich sein. Sie weisen auf bestimmte Widersprüche im gesellschaftlichen Denken hin, die zu sprachlichen Floskeln gerannen. Ein Beispiel dafür bietet das Aufkommen, kurze Blühen und nun wieder Vergehen des Begriffs »Mensch mit Behinderungen« im deutschen Sprachgebrauch. Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre gewann er innerhalb sehr kurzer Zeit relativ große Bedeutung im politischen Wortschatz. Nachdem in den Jahrzehnten vorher mit dem »Krüppel«-Begriff bewußt provoziert worden war, tauchte dieses Streckwort als Kompromißvorschlag, als Angebot zu verständigender Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen auf. Und tatsächlich wurde der Begriff weit in Kreise hinein aufgegriffen, die sich bis dato nicht (oder nur am Rande) mit der dahinter liegenden Problematik gesellschaftlicher Beziehungsverhältnisse auseinandergesetzt hatten. Der Grund ist einleuchtend. Der Begriff stellte das Bild vom Kopf auf die Füße: Es handelt sich um Menschen, die unter anderem behindert sind, nicht um Behinderte, die unter anderem Menschen sind.

Diese Erkenntnis darf inzwischen als weithin gesichert gelten. Dennoch ist zu vermuten, daß der Terminus seinen Bedeutungshorizont bereits überschritt. Das liegt zum einen sicherlich an seiner Umständlichkeit. Zum andern genügt aber auch er heutigen Ansprüchen nicht mehr. Denn auch er kennzeichnet Menschen noch immer über ihre Defizite.

Bei Begegnungen auf internationaler Ebene fällt mir übrigens auf, daß französisch- oder russischsprechende Gesprächspartner – auch selbst Betroffene! – noch ziemlich unbefangen den Begriff »Invalide« benutzen. Seine etymologischen Wurzeln (in = ohne; valid = wert; also: invalid = wertlos) scheinen keinerlei Bedeutung mehr zu haben. Das Wort, ursprünglich rein pejorativ (abwertend), siedelt in einer neutralen emotionalen Zone.

Noch ist der treffende Begriff nicht gefunden. Auch ich kann – wie bereits angedroht – keinen neuen Vorschlag unterbreiten. Wir sind eben in einem gesellschaftlichen Verständigungsprozeß. Da sind viele Fragen zu stellen. Etliche Antworten erweisen sich als zu kurz gegriffen. Manche nehmen den Charakter von Teilschritten auf einem noch unbestimmbar weiten Weg zu einer (vorläufigen) Lösung an. Von einigen ist zu vermuten, daß sie fester Bestandteil dessen werden, was eines Tages ganz selbstverständliches Allgemeingut ist. Dazu gehört meines Erachtens, daß nicht von dem Gegensatz »behinderte« Menschen einerseits und »Gesunden« andererseits gesprochen werden kann. Wenn eine junge Frau, die mit spastischer Lähmung auf die Welt kam, krampfartig zuckt und beim Sprechen Artikulationsschwierigkeiten hat, kann sie durchaus »kerngesund« sein. Einen heftigen Schnupfen hingegen empfindet sie – wie alle anderen auch – als Krankheitssymptom.

Es gibt keine »unnormalen Menschen«

Genauso wenig akzeptabel ist der Gegensatz von »behindert« und »normal«. Mir ist durchaus bewußt, daß viele Betroffene gerade dieses Wortpaar selbst benutzen. Dennoch führt es in eine gefährliche Sackgasse. Es unterstellt nämlich, daß es eine »Norm für Mensch« gäbe. Wie sollte die denn sein? Gäbe es überhaupt jemanden, der alle normativen Kriterien erfüllt? Wer möchte eigentlich »normal«, also ein »Normmensch« sein? Wenn es also keine »Norm« für »Mensch« gibt, kann es auch keine »normalen Menschen« geben, logischerweise erst recht keine »unnormalen«. Mit einer (oder mehreren) Beeinträchtigungen zu leben, ist also alles andere als »unnormal«. Für Betroffene ist das – im Gegenteil – Lebensselbstverständlichkeit. Europäer haben nicht die Wahl, äquatorialafrikanische Hautfarbe anzunehmen. Es gehört zur Lebensselbstverständlichkeit von Männern, keine Kinder gebären zu können. Eine Frau, die in den sechziger Jahren auf Grund dessen, daß ihre Mutter der (be)trügerischen Contergan-Werbung aufsaß, mit Stummelärmchen und Stummelbeinchen geboren wurde, steht nicht eine Sekunde lang vor der Alternative, so gehen und zupacken zu können, wie die meisten ihrer Freunde. Ihre Lebensweise ist eine andere. Für sie die normalste von der Welt, die einzig mögliche nämlich.

Nun gebe ich zu, in Ermangelung eines neuen Begriffsvorschlags einen kleinen Trick angewandt zu haben. Ich wechselte vom Behinderten- zum Beeinträchtigtenbegriff (und zog dann auch noch den Betroffenenterminus hinzu). Damit bewege ich mich auf einer international zwar durchaus üblichen, in ihrer Unzulänglichkeit aber bereits erkannten Ebene. Sie unterscheidet zwischen dem Defizit, der Beeinträchtigung, und den daraus erwachsenden gesellschaftlichen Benachteiligungen, den Behinderungen. Hier ist die gesellschaftliche, die soziale Determiniertheit des Behinderungs-Begriffs klar benannt. Behinderung ist nicht der Zustand eines Menschen, sondern sie ergibt sich aus den gesellschaftlichen Bedingungen. Dazu gehören in Jahrtausenden entstandene und fest in Köpfen und traditionellen Riten verankerte bauliche und kommunikative Barrieren, überkommene Vorstellungen vom Rollenverhalten und – nicht zuletzt – eine darauf fußende Selbstbescheidung zahlreicher betroffener Frauen und Männer.

Was dieser ganze Exkurs mit einem anzustrebenden, sozialistischen Menschenbild zu tun hat? Sehr viel. Denn es geht darum, eben jene gesellschaftlich bedingten, also von Menschen produzierten Benachteiligungen abzubauen. Damit geht es also auch um ökonomische Ressourcen. Spätestens an dieser Stelle stößt man auf solche Totschlagfragen wie: »Wie viele Rollstuhlfahrer würden denn jemals diese Straßenbahn benutzen, wenn sie denn berollbar wäre?« Oder: »Wie viele werden denn dieses Kino je besuchen, wenn sie denn barrierefrei hinein gelangen?« Derartige Fragen sind nicht beantwortbar. Die Straßenbahnbenutzung hängt ja unter anderem davon ab, welche Anschlußmöglichkeiten es gibt, wo öffentliche Toiletten erreichbar sind, ob sie überhaupt zu dem betreffenden Kino führt, welche Wohn-, Arbeits- und Freizeitangebote Rollstuhlfahrern zur Verfügung stehen usw. Vor allem aber – und das ist das wirklich empörende an der Fragestellung – muß die Beantwortung schon deswegen abgelehnt werden, weil sie den Gleichheitsgrundsatz aufs tiefste verletzt. Entweder öffentliche Verkehrsmittel, Toiletten, Kultur-, Sport-, Bildungs-, Einkaufs- und sonstige Einrichtungen wie Rathäuser, Krankenhäuser, Apotheken, Hotels usw. stehen allen zur Verfügung oder sie sind nicht wirklich öffentlich!

Hier stehen wir also vor einer gewaltigen Aufgabe. Ihre ökonomische Dimension leuchtet leicht ein. Die philosophische aber, die des Menschenbildes, ist nicht weniger relevant: Gibt es Menschen unterschiedlicher Wertigkeit? Wer diese Frage verneint, darf ab sofort keine neuen Barrieren mehr zulassen. Niemand verlangt ernsthaft, sofort alle bestehenden Hürden zu beseitigen. Aber es dürfen keine neuen mehr errichtet werden! Hier sind Ausnahmen inakzeptabel. Technisch ist es ohnehin kein Problem mehr, barrierefrei zu bauen. Und dann kann Schritt für Schritt daran gegangen werden, die überkommenen abzutragen.

»Ewige Gesundheit« durch bioethischen »Fortschritt«?

Im Alltagsbewußtsein ist die Kosten-Nutzen-Fragestellung weit verbreitet. Sie sieht so unheimlich »realistisch« aus. So realpolitisch. So unheimlich. Und sie hat eine philosophische Basis: Die Bioethik kommt als Fortschritts-Ideologie daher. Sie unterscheidet zwischen »Menschen« und »Personen«. Nur letztere sind achtbare Subjekte. Nur sie haben Rechte. Die Bezeichnung »Person« muß man sich verdienen: Man muß sich seiner selbst bewußt sein. Neugeborene gehören (noch) nicht dazu, altersdemente Frauen oder Männer nicht (mehr), Menschen mit bestimmten sogenannten »geistigen Behinderungen« nie. Nicht-Personen »belasten« die Gesellschaft. Sie leisten keinen wirtschaftlich verwertbaren Beitrag zu ihrer (also zu unser aller) Entwicklung. Sie sind überflüssig. Ja, sie binden sogar noch Kapazitäten von »Personen«, die eigentlich anderweitig, eben wirtschaftlich sinnvoll genutzt werden könnten. »Moderne« biotechnologischen Verfahren, biomedizinische Forschungen und ähnliche »Zukunftsprojekte« basieren – bewußt oder unbewußt – auf bioethischen Grundlagen. Sie verheißen »den Fortschritt« schlechthin. Sie knüpfen an urmenschliche Träume an und versprechen »ewige Gesundheit« und »Schönheit«. Mit der Angst vor unheilbaren Krankheiten gewinnt man Zutrauen. Ihre Beseitigung stehe bevor. Was bedeuten auf so lichtem Wege schon »einige Opfer«, »gelegentliche Irrtümer«, vielleicht »Fehlschläge«?

Aber: Wie erstrebenswert ist »erbbiologische Reinheit«? Wer will die »Umweltresistenz« von Menschen? Welch unmenschliches Ergebnis bringt die pure Kosten-Nutzen-Kalkulation jedes Indi- viduums? Nur wer die Gesellschaft nicht als Gesamtorganismus achtet, der sich aus unzähligen Individuen zusammensetzt, die von unterschiedlichsten Interessen angetrieben werden, unterschiedlichste Erfahrungen, Handlungen und Gefühle einbringen, mit unterschiedlichsten Fähigkeiten ausgestattet und sowohl eigenständiges (und eigenwertiges!) Universum als auch Teil der Gesamtgesellschaft (also aller gleichzeitig lebender Menschen) sind, kann quasi-betriebswirtschaftliche Effektivitätskriterien zum Maßstab für (s)ein Menschenbild machen. Die intellektuelle Überheblichkeit derartiger Philosophien dürfte konsequenterweise nicht davor zurückschrecken, die eigene Existenz als »Person« für den Fall zur Disposition zu stellen, daß man – infolge eines Unfalls, einer Krankheit oder auch »gewöhnlicher« Alterserscheinungen – irgendwann selbst nicht mehr in der Lage ist, sich als Subjekt zu erkennen. Logischerweise müßte man sich dann selbst – ohne Ansehen eventueller früher erworbener Verdienste – als »überflüssig«, die Gesellschaft »belastend« und »reinen Kostenfaktor« (zu unseligen Zeiten hieß das »unnütze Esser«) betrachten und entsprechende Konsequenzen fordern.

Ohne Zweifel spiegelt die Bioethik dominierende Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft wider. Seit einigen Jahrzehnten beginnt sie sogar, humanistische Traditionen, die sich politisch beispielsweise in den Menschenrechts-Deklarationen wiederfinden, zu verdrängen. Noch werden sie in Sonntagsreden gefeiert. Noch sind sie von weiten Teilen der Bevölkerung durchaus tief verinnerlicht. Wenn aber auf der Bioethik fußende Philosophien wirklich zu den herrschenden werden, ist für alles und alle von der »Norm« abweichende höchste Gefahr im Verzuge.

Bioethik ist eine philosophische Basis des Machbarkeitswahns. Sie tut so, als könnte alles wissenschaftlich erklärt und folgerichtig auch beeinflußt werden. Jegliches Dasein unterwirft sie ökonomischen Kriterien. Fortschritt wird zum Fetisch. Alles ordnet sich ihm unter. Nutznießer dieses »Fortschritts« sind diejenigen, die als »Personen« bezeichnet werden. Da ist – zumindest tendenziell – kein Platz für Bettler, Sozialhilfeempfänger, Krüppel, Aussteiger, »Versager«, altersdemente Frauen und Männer, chronisch Kranke (die ständig teure Medikamente und/oder Apparate benötigen), »geistig Behinderte«, Träumer, Spinner, Sozialisten, Pazifisten usw. Bioethisches Denken fand längst Eingang in die (medizinische) Forschung. Indem es – nicht nur in der Pharmakologie – immer weitere Schranken einreißt, errichtet es neue Barrieren für Nicht-»Ideales«. Gesundheitspolitik hat immer auch gesamtgesellschaftliche Dimension. Sie muß sich dessen bewußt sein und energisch gegensteuern. Nicht alles, was »machbar« ist, sollte auch getan werden. Das gilt in hohem Maße für Medizinforschung. Würdevolles Leben braucht nicht die Verheißung »ewiger Jugend«, »ewiger Schönheit«, »ewiger Gesundheit«. Es braucht die Achtung vor der Individualität, vor der Einmaligkeit jedes Menschen. Dazu gehören Krankheiten, Behinderungen, das Altern, auch das Sterben.

Volle Teilhabe am Leben der Gemeinschaft

Deshalb geht es – um auf politisches Terrain zurückzukehren – um nicht mehr und nicht weniger als um die volle Teilhabe aller Menschen am Leben der Gemeinschaft. 1993 proklamierte die UNO-Vollversammlung das weltweit als Ziel. Die »Rahmenbestimmungen zur Herstellung der Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen (standard rules)« beziehen sich ausdrücklich auf die allgemeine Deklaration der Menschenrechte. Darunter geht es nicht! Und sie setzen die sozialen Menschenrechte gleichberechtigt daneben. Den standard rules liegt also ein universelles Menschen-bild zugrunde, das Gleichheit nicht nur fordert, sondern konkrete Wege aufzeigt, wie sie realiter herzustellen ist. In diesem Zusammenhang benennen die standard rules ausdrücklich die Aufgaben, die von den Staaten zu lösen sind.

In Ermangelung eines ureigensten, ursozialistischen Menschenbildes finde ich hier für gegenwärtiges politisches Handeln einen hinreichend humanistischen Gestus. Ich habe keine Scheu, ihn meinen Entscheidungen zugrunde zu legen. Obwohl ich weiß, daß die UNO ein von imperialen Staaten weitgehend beherrschtes Gremium ist, freue ich mich, der menschenverachtenden Logik der Bioethik ein Pendant entgegengestellt zu sehen. Es repräsentiert (noch?) nicht die herrschende Meinung. Aber es beschneidet die Hegemonie des Mensch-versus-Person-Denkens.

In ihrer Phantasie sollen meine Enkel – und deren Kindeskinder – Hexen, Zauberer, Schornsteinfeger, Teufel, Engel, Feuerwehrleute oder sonstwas sein können. Aber sie sollen nicht genetisch so »konstruiert« werden! Wer über Menschenbilder redet, denkt in Visionen. Ich möchte, daß uns – demokratischen Sozialisten – klar wird, daß wir einer zu einschichtigen Wissenschaftsgläubigkeit aufgesessen sind. Es reicht nicht (mehr) aus, sich im Galileischen Sinne die Frage nach der Verantwortung von Wissenschaftlern zu stellen. Mythen, Unerklärbares, Unveränderbares sind Bestandteil des Lebens. Ihre letzte Deutung würde unsere Phantasie töten. Ebenso gehören Krankheiten, Defizite, Rückschläge, Altern und Tod zu unserem Leben. Wer sie uns (der Menschheit) nähme, brächte uns (die Menschheit) um. Der Fortschritt, den wir brauchen, heißt Sozialismus. Die Menschen, die ihn erleben, gestalten und entwickeln sollen/können/wollen, dürfen in keiner Retorte entstehen.

Vielleicht gehört gerade das Quentchen Unberechenbarkeit, das Quentchen Unperfektheit, ein kleiner Hang zu chaotischem Verhalten zum wertvollsten, zumindest zum interessantesten an uns Menschen.

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Ilja Seifert – Jg. 1951, MdB, Dr. phil., Diplomgermanist, Literaturkritiker, Lyriker, stellvertretender Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland – »Für Selbstbestimmung und Würde«, ABiD e.V., Vorsitzender des Berliner Behindertenverbandes e.V., Behindertenpolitischer Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion.

»Wie naiv man doch gewesen war, als man die Gegenposition gegen die biblische Ebenbild-These in einer Evolutionstheorie sah! Wie harmlos und human war doch der Darwinismus gewesen, da er die ›Unmenschlichkeit‹ nur in die Vorgeschichte des Menschen verlegt hatte, verglichen mit der Gen- Manipulation, die Unmenschliches erzeugen könnte, und zwar durch die Herstellung von Wesen, die die ›Ebenbilder‹ oder Kopien von aus politischen, ökonomischen oder technischen Gründen wünschenswerten Typen wären!«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 25.

»(Die) fixe Idee der dritten industriellen Revolution äußert sich … noch anders: als skandalös wird nämlich nicht nur die Nicht-Verwertung eines möglichen Rohstoffes betrachtet; nein, sogar die Unterlassung, in etwas Vorhandenem Rohstoff zu erkennen und dieses als Rohstoff zu behandeln. (…) Die Aufgabe der heutigen Wissenschaft besteht also nicht mehr darin, das geheime, also verborgene Wesen oder die verborgene Gesetzmäßigkeit der Welt oder der Dinge aufzuspüren, sondern darin, deren geheime Verwertbarkeit zu entdecken. Die … metaphysische Voraussetzung der heutigen Forschung ist also, daß es nichts gibt, was nicht ausbeutbar wäre. ›Wozu dient der Mond?‹ … Daß er zu etwas dienen müsse, wird keinen Augenblick bezweifelt.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 32.

»›Welt‹ ist also nicht nur der Inbegriff dessen, woraus sich etwas machen ließe, sondern der Inbegriff dessen, woraus etwas zu machen wir verpflichtet sind – wobei unausgesprochen unterstellt wird, daß es, weil nichts sein kann, was nicht sein darf, letztlich nichts gibt, woraus sich nicht etwas machen ließe. Umgekehrt gilt, daß demjenigen, woraus sich nichts machen ließe, Existenz abgesprochen werden muß, daß es, wo es uns im Wege ist, vernichtet werden darf. Analog zu dem nationalsozialistischen ›lebensunwerten Leben‹ gibt es ›existenzunwertes Seiendes‹. Kurz: … Sein ist Rohstoffsein – dies ist die metaphysische Grundthese des Industria-lismus …«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 33.

»Daß es von Natur aus diskrete Einzelwesen gibt, das ist zwar ein bedauerlicher kreatürlicher Defekt, und diesen abzuschaffen, werden wir vermutlich niemals fähig sein. Aber darüber zu verzweifeln, liegt kein Grund vor. Einzelwesen sind sowenig Lücken in unserem totalen System, wie Sieblöcher Lücken im Siebe sind. Obwohl nicht aus Siebmaterial bestehend, funktionieren diese doch als Teile des Siebs, sogar als dessen wichtigste. Und irgendetwas zu leisten, was ihnen nicht durch Größe, Stoff und Form des Siebes diktiert wäre, sind und bleiben sie außerstande.«
Aus dem molussischen ›Lehrbuch des Konformismus‹; nach Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten indu- striellen Revolution, München 1980, S. 131.

»Nicht anders als … Häftlinge kann man auch die eremitenhaften Konsumenten von heute ins Freie lassen, weil man weiß, daß sie auch dort nicht aufhören werden, sich als Eremiten zu benehmen … (…) Obwohl einander völlig gleich, also zu Massenwesen, gemacht, besteht doch kaum die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich zur Masse zusammenballen werden. Niemals ist die Gefahr einer revolutionären Massenaktion geringer als in demjenigen Stadium höchster Industrialisierung, in dem jedermann durch die Massenmedien-Manipulierung zum Massenwesen gemacht worden ist. (…) Da die Masseneremiten nicht mehr zusammenkommen, mindestens nicht mehr zusammenzukommen brauchen, sind sie durchweg harmlos, durchweg passiv durchweg unrevolutionär.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 83 und 90.

»Diktatorische Systeme, die noch auf Gummiknüppel oder Liquidierungsdrohung angewiesen sind, sind bereits beklagenswert altertümlich, jedenfalls ungleich weniger verhängnisvoll als diejenigen, die sich bereits auf Unterhaltung, oder gar nur noch auf Schnulzen, verlassen dürfen. (…) Das hat zur Folge, und zwar unvermeidlicherweise, daß auch wir uns nun in Allesschlucker und Allesverdauer verwandeln. Und da wir bei der Glätte und Bequemlichkeit der Bissen schon gar nicht mehr spüren, daß und was wir schlucken, da wir also bereits reflexartig schlucken, absolvieren wir diese Verwandlung im Handumdrehen. Die Zeiten, in denen als ›arme Schlucker‹ diejenigen galten, die nichts zu schlucken hatten, die sind längst vorbei. Heutzutage sind ›arme Schlucker‹ umgekehrt diejenigen, die dem Terror ihrer Mästung keinen Widerstand mehr leisten können, die mit jedem Bissen, den sie schlucken, auch ein bißchen Freiheitsberaubung mitherunterschlucken müssen. Wer unfrei konsumiert, konsumiert Unfreiheit«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 138f.

»… die Reputation, die die heutige Psychologie genießt, ist ungeheuer. Nur ist sie das nicht deshalb, weil der wissenschaftliche Rang, den sie einnimmt, objektiv so hoch wäre – umgekehrt schmückt man sie mit diesem Wissenschaftsprestige, damit sie ihr Hauptamt mit soviel Autorität wie möglich erfüllen kann. Und dieses ihr Hauptamt besteht eben darin, als Sprachrohr der konformierenden Mächte zu funktionieren, also die Adaptionsforderungen, die diese Mächte an uns stellen, in ein popularisiertes Wissenschaftsvokabular zu kleiden, sie in diesem Kostüm an den Mann zu bringen und uns, sofern wir noch gegen den Stachel löcken, durch effektive Behandlung in Adaptionslustigere oder besser Adaptierte zu verwandeln.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 157.

»Deutlich kann uns der ursächliche Zusammenhang des Syndroms allein dann werden … wenn wir … erkennen, daß von denen, die in der konformistischen Gesellschaft als ›krank‹ gelten … viele durch den Konformismus selbst krank geworden sind … Gesunde, die, um in der konformistischen Gesellshaft leben zu können, den falschen Maßstab, mit dem sie gemessen werden, als rechtmäßig akzeptieren und die diesen sich aneignen, die stecken sich an dessen Falschheit an und werden dann durch ihre hektischen Versuche, ihre angebliche Krankheit zu überwinden, effektiv krank.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 158.

»In der Tat können wir unserem ›prometheischen Gefälle‹ nur eine dritte Version geben. Denn dieses besteht nun zwischen dem Maximum dessen, was wir herstellen können, und dem (beschämend geringen) Maximum dessen, was wir bedürfen können. (…) Unsere heutige Endlichkeit besteht nicht mehr in der Tatsache, daß wir … bedürftige Lebewesen sind; sondern umgekehrt darin, daß wir (zum Bedauern der untröstlichen Industrie) viel zu wenig bedürfen können – kurz: in unserem Mangel an Mangel.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 18f.

»Im Wörterbuche der Werbelügen hat das Wort ›diskret‹ den Sinn von ›hinterrücks‹ und das Wort ›geschmackvoll‹ den Sinn von ›meuchlings‹. Der Betrug wird fein, selbst bei Freiheitsberaubung geht nichts über Kultiviertheit.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 162.

»Wie geschäftig wir uns auch vorgekommen sein mögen, als wir vorgestern in demjenigen Wagen, den man vorgestern gerade fuhr, dorthin fuhren, wohin man, um als vollwertige Null zu zählen, vorgestern eben zu fahren hatte … die Tatsache, daß wir uns vorgestern dabei wirklich anstrengten und daß wir uns heute noch davon zerrädert fühlen, die beweist nicht, daß wir gestern und vorgestern wirklich etwas aus eigener Initiative getan hätten. Unsere Sache war unsere Geschäftigkeit nicht, sondern die Sache derer, deren Geschäft sie war.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 147f.

»Durch unsere unbeschränkte promethische Freiheit, immer Neues zu zeitigen (und durch den pausenlosen Zwang, dieser Freiheit unseren Tribut zu entrichten), haben wir uns als zeitliche Wesen derart in Unordnung gebracht, daß wir nun als Nachzügler dessen, was wir selbst projektiert und produziert hatten, mit dem schlechten Gewissen der Antiquiertheit unseren Weg langsam fortsetzen oder gar wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten einfach herumlungern.«
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1980, S. 16.