Publikation Demokratischer Sozialismus - Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte Das Trotzki-Tabu

UtopieKreativ Nr. 118 August 2000

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Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

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August 2000

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UTOPIE kreativ, H. 118

(August 2000),

S. 741-746 Beim Betrachten der hunderttausend Sympathisanten, die alljährlich im kalten Januar auf den Straßen Berlins der ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gedenken, fällt die deutsche Stille um Leo Trotzki auf, die nur noch der russischen Stille gleicht, ein tiefes Loch aus Unkenntnis, Desinformation, Verlegenheit und Phantasiemangel. Während Frankreich mit zwei höchst vitalen trotzkistischen Parteien lebt, erschöpfte sich die 4. Internationale bei den Westdeutschen in den üblichen linksradikalen Differenzen, deren letzte Klammer die Hochachtung sein mag, die dem einzigen überlebenden deutschen Trotzkisten entgegengebracht wird, den auch hier herzlich zu grüßen ich nicht anstehe: Jakob Moneta, der 86jährige, unverzagt die Erneuerung des Marxismus lebend, mit einer trotzkistischen Unbestechlichkeit Einspruch erhebend, deren Konsequenz in der fatalen schmerzhaften Einsicht mündet, daß die deutsche Entwicklung des revolutionären Marxismus schon mit dem Thälmannschen ZK auf die erst bürokratische, dann liquidatorische Stalin-Linie geriet.

Das deutsche Trotzki-Tabu der Nicht-Erinnerung und Nicht-Wahrnehmung gleicht teils der russischen Fatalität, denn wer sich vorzustellen wagt, welchen Weg die junge Sowjetrevolution ein-geschlagen hätte, wäre nicht Stalins Devise vom Sozialismus in einem Lande, sondern Trotzkis Konzeption der permanenten Revolution bestimmend gewesen, der ist auf den geschichtlichen Konjunktiv verwiesen: Wir wissen nicht, was daraus geworden wäre. Was mit Stalin geworden ist, wissen wir dagegen spätestens seit Anfang der neunziger Jahre genau: Der von Trotzki vorausgesagte Sieg des Kapitals über das Stalinsche Modell traf ein, doch schon der Gedanke daran wird nicht gedacht, denn in der alten BRD war Trotzkismus eine so minimale wie possierliche Fußnote der Zeitgeschichte, bestensfalls für Geheimdienste interessant, in der DDR aber ein überdimensional sich erstreckender weißer Fleck, wenn auch voller Drohungen mit Parteiausschluß und weit Gefährlicherem. Das Tabu wirkt weiter, nur einige Autoren von Peter Weiß bis Ernst Jünger zogen vor Trotzki hin und wieder den Hut, denn es verschaffte in intellektuellen Kreisen einen Hauch rebellischer Aura.

Tatsächlich verlor die Sowjetgesellschaft nach Lenins Tod mit dem Sieg Stalins über Trotzki ihre revolutionäre Alternative, und der laut Trotzki »russische National-Sozialismus« breitete sich in der Folge seines Sieges über den deutschen Nazismus gen Westen hin aus, was unseren deutschen Sozialismus-Versuch mit einer doppelt nazistischen Entfremdung belastete. Dies zu erkennen, macht erst die erstaunliche Leistung deutlich, die in der DDR dennoch vollbracht wurde, mit der schweren Erbschaft Hitlers am Bein, den Stalinschen Fesseln im Hirn und der ständigen Kapi- talbedrohung vor der Tür. Hinzu gesellte sich die strafbewehrte Verpflichtung zur Sklavensprache. Als Ernst Bloch auf der Fortschrittskonferenz Berlin 1956, ermutigt von Chruschtschows An- tistalinrede anmerkte, jetzt müsse endlich Schach statt Mühle gespielt werden, wirkte das Bild als Verstoß gegen die parteidisziplinierte knechtische Sprachregelung, das Konferenzprotokoll wurde verboten und der Philosoph des aufrechten Ganges zum Kriechgang gezwungen.

Pendant zur Moskauer Sklavensprache war und ist das Kapitalkauderwelsch, als dessen jüngsten Jargon wir das globalisierende Börsianisch genießen dürfen, das die Goldesel noch in der Pleite schrill IAH schreien läßt, und diese oratorische Verballhornung des Gedankens, der nur mit seinen Platinkettchen rasseln darf, ist der wahre Universalismus dieser Welt, der die liebe UNO zur Spottgeburt verformt. Innerhalb dieser aufgeblasenen Finanz- und Spekulationskultur war und ist die Gesellschaftsanalytik der deutschen Trotzkisten-Sektion ein Garten Eden von Ratio und Luzidität. Daß der deutsche Trotzkismus seinem minimalen Sektionszustand gleichwohl nicht zu entrinnen vermag, liegt an seiner Unfähigkeit, dem großen Schatten des Meisters innovativ zu entkommen. Mit der Austreibung Trotzkis aus der SU entbehrte der Marx-Schüler und Lenin-Gefährte direkter Gesellschaftspraxis, und das erzwungene Manko wurde bei seinen deutschen Jüngern zur erhabenen Weisheitsverkündung: Sie wissen zwar alles besser, können aber nichts Besseres erreichen. So sind sie die klugen Zwischenrufer, deren Worte durchaus erleuchten, doch mangels Reichweite schnell verlöschen. Immerhin bilden sie eine Schule der schärfsten marxistischen Analytiker und ihre hochgestochenen Kritikkunstwerke an KPD, DKP, SPD, PDS sind lesenswert, bleibt nur der Phantasieverlust zu beklagen, die Nachahmungstechnik führt zu Eklektizismus und Dogmatismus, das ist so als begnüge sich ein Biologe im Jahr 2000 mit der Lektüre von Darwins ›Entstehung der Arten‹. Mit dem Klassiker begann diese Wissenschaft, doch findet sie damit nicht ihr Ende.

Das Scheitern der Sowjets ist nicht in der Marxschen Analyse des Kapitals begründet, sondern im zu abstrakten Utopismus der Revolutionstheorie von Marx. Kurz gesagt: Am Tag nach dem Sieg wissen die Revolutionäre nicht, wie es weiter gehen soll, was Lenin in seinen letzten Lebensjahren nicht unbekannt blieb. Seine Vermutung, die Bürokratie bewirke den revolutionären Stillstand und Niedergang, erwies sich zwar nicht als falsch, verharrte jedoch an der Oberfläche.

Der Dualismus der herrschenden Parteiklasse, der sich nach Lenins Tod in Trotzki und Stalin personalisierte, entsprach dem vorangegangenen Marxschen Dualismus. Als Endergebnis müssen wir konstatieren: Stalins Modell triumphierte über Nazideutschland und das verdient den Respekt aller Antifaschisten. Allerdings wird der stark vermindert durch die fatale Niederlage des revolutionären Marxismus, die weniger deutlich erkennbar ist, weil die weltweit sichtbar erfolgreiche Sowjetunion lange Zeit den inneren Verfall kaschierte, bis er als unleugbar endgültiger Zusammenbruch in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zutage trat.

Die Frage nach der Zwangsläufigkeit des Niedergangs führt zum Anfangsfehler zurück, der Marxschen Überschätzung von Revolutionen, deren politische und moralische Berechtigung er mit dem Glanz teleologischer und theologischer Endzeitphantasien versah. Der religiöse Erlösungsgedanke erschien gesellschaftlich drapiert als klassenloser Himmel auf Erden – ein frommer Wunsch im wissenschaftlichen Gewand, und eine verlockende Gelegenheit für Herrschaftslüstlinge, im Namen vorgegebener Klassenlosigkeit die eigene Macht als Neue Klasse auszuüben. Auch dies eine Parallele zum bourgeoisen Berufspolitiker im Zeichen erst des Antikommunismus und hernach der globalen Kapitalhegemonie.

Als Reaktion auf die Mißbräuche und Verbrechen der Neuen Klasse ist der Absturz der kommunistischen Parteien, die Schwä-che der Sozialisten, ein stärkerer Rechtsdrall der Sozialdemokraten und eine psychopathologische Verzweiflung der vormals Gläu- bigen zu beobachten. Falls dies nicht der Vorbote einer Negation aller humanen Politikversuche sein sollte, ein bedingungsloser Übertritt ins globale Reich der Reichen, wird die Suche nach Auswegen oberstes Gebot. Sehen wir also nach, ob Trotzki heutzutage noch aushelfen könnte.

Nehmen wir als erstes die Frage vorweg, ob nicht eine von Trotzki statt Stalin geleitete Sowjetunion Hitlerdeutschland hätte ebenfalls widerstehen können. Diese Möglichkeit zu durchdenken kann tröstlich sein, die Antwort scheitert wiederum am Konjunktiv, der ins Reich der Spekulationen führt, wo die Beliebigkeit herrscht. Nicht ganz so beliebig, aber eben doch konjunktivistisch mag der Gedanke sein, wonach das unvergeßliche Jahr 1956 mit dem XX. Parteitag der KPdSU und dem Entstalinisierungsversuch Chrusch-tschows noch eine reale Chance sowjetischer Reformen geboten hätte. Wenn ja – dann wohl die letzte vor dem endgültigen Niedergang. Um den Versuch einer Neu-Entdeckung Trotzkis nicht einer ebensolchen Gefahr von Beliebigkeit oder rein absichtsbestimmter Umdeutung auszusetzen, sei sofort angemerkt: Es ist keineswegs beabsichtigt, die vergangenen Konflikte der Lenin-Trotzki-Stalin-Ära heute erneut auszufechten. Vielmehr geht es darum, die Gestalt Trotzkis in ihrer vorausweisenden Potentialität zu ergründen, die ihn als Archetyp zum modernsten Charakter des Marxismus im 20. Jahrhundert werden läßt. Neben ihm besteht nur noch Rosa Luxemburg, deren früher Tod die Ausformung ihrer Biographie und Theorie verhinderte.

Luxemburgs Ermordung blieb im üblichen Klassenkampfschema, denn die Mörder waren deutsche Militärs, direkt oder zumindest indirekt beauftragt von den Mehrheitssozialisten, während Trotzki 21 Jahre später auf Weisung des sowjetischen Mehrheitsdiktators Stalin erschlagen wurde, was dazu führte, daß Rosa Luxemburg in den deutschen Nachkriegsstaaten zwar verdächtig und umstritten blieb, aber doch zugleich bei der Linken traditionsbildend wirkte, Trotzki hingegen zum bestenfalls arabesken Dasein verurteilt blieb – dem Osten verboten, dem Westen unheimlich.

Die Verdikte wirken fort. Trotzki ist der unbekannteste Revolutionär im linken Kalender. Das hat Gründe und Folgen.

Es lassen sich mindestens sechs Trotzkis unterscheiden:

erstens: der Literat, Reporter, Kritiker, Analytiker; zweitens: der Sozialist und Menschewist; drittens: der Leninsche Bolschewist und revolutionäre Stratege; viertens: der revolutionäre Widersacher Stalins; fünftens: der Exilant; sechstens: das Opfer. Erstens: Der Reporter Trotzki, der die beiden Balkankriege beschreibt, die dem Ersten Weltkrieg vorangingen, fördert auch ein knappes Jahrhundert später noch mehr Realitätserkenntnis zutage als alle modernen Medien der neunziger Jahre zusammengenommen, die beim Zerfall Jugoslawiens lediglich das kollektive Unvermögen gegenwärtiger Bild- und Wort-Informationen bezeugen.

Zweitens: Der Sozialist, zwischen Menschewiki und Bolschewiki positioniert, ist historisch für uns insoweit interessant, als er sich einerseits orthodox-marxistisch artikuliert, andererseits Lenins Korrekturen des Marxismus qua russischer Verhältnisse mehr und mehr akzeptiert.

Drittens: Mit Lenin verbunden übernimmt er dessen Begriffsausweitung der Diktatur des Proletariats auf die Bauernschaft und wird, als Lenin schon beinahe verzagt, Organisator und Oberkommandierender der Roten Armee. Seine Aktivitäten reichen vom fragwürdigen Sieg über die Kronstädter Aufständischen bis zum notwendigen Sieg über die Armeen der weißen Konterrevolutionäre.

Viertens: Nach Lenins Tod und im Konkurrenzkampf mit Stalin verliert Trotzki seine Tatkraft. In der Theorie installiert er die notwendige revolutionäre Permanenz gegen Stalins Diktum vom Sozialismus in einem Lande, dessen Verwirklichung Trotzki für unmöglich erklärt. Seine Meinung legt er 1930 im Vorwort zur deutschen Ausgabe von ›Die permanente Revolution‹ noch einmal gedrängt dar, was vom Jahr 2000 aus betrachtet wie eine reale Prophetie wirkt: Der »siegreichen Sowjetunion« über ein Halbjahrhundert hinweg wird der Puls gefühlt und das Ende vorausgesagt. Trotzkis schwindender Elan nach Lenins Tod geht konform mit der Schwächung der revolutionären Epoche, die dem Ersten Weltkrieg folgte. Die Revolution kehrt in den besten Kopf zurück, wo sie bewahrt wird, während der Triumphator Stalin einen formal sozialistischen Staat schaffen läßt, den Trotzki als national-sozialistisch definiert.

Trotzki im Frühjahr 1939: »Stalin wird sich mit Hitler verbünden.« Das prognostizierte er. Den darauf und daraus folgenden Endkrieg zwischen den beiden National-Sozialisten prognostizierte er nicht mehr. Am 20. August 1940 führte ein Agent Stalins dessen Mordauftrag aus. Vier Jahre später wurde Hitler von Stalin besiegt, und noch einmal 45 Jahre später schluckte das Weltkapital den ganzen nationalen Sozialismus des europäischen Ostens.

Fünftens: Trotzkis Exilierung erfolgte stufenweise. Von der Le-ninschen Oktoberrevolution 1917 bis zu dessen Tod 1924 war er der neben Lenin maßgebende Politiker. Mehr und mehr läßt er sich aus dem Machtzentrum drängen, das eskaliert im Jahr 1929, als er in die Türkei abgeschoben wird. In den folgenden 21 Exil-Jahren versucht der Exilant anfangs die 3. Kommunistische Internationale gegen Stalin umzufunktionieren. Als es mißlingt, soll eine 4., also trotzkistische Internationale den revolutionären Kampf an zwei Fronten führen – gegen Stalin und den inzwischen in Deutschland an die Macht gelangten Hitler.

Das individuelle Leben Trotzkis verläuft ab 1933 ebenfalls in zwei Phasen, die sich nicht so deutlich voneinander trennen lassen. Die Exilanten-Misere fordert Tribut. Auf euphorische Zeiten folgen Krisen, Zusammenbrüche, Krankheiten. Die Ablösung der europä-ischen Revolutionsperiode durch die Stalinsche und Hitlersche Konterrevolution endet im 2. Weltkrieg. Der Mordanschlag auf Trotzki am 20. August 1940 und der Tod am 21. August wirkt wie eine symbolische Beglaubigung. Seit einem Jahr, fast auf den Tag genau, seit dem 23. August 1939 gibt es den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, den Trotzki im Frühjahr 1939 vorrausgesagt hatte, belächelt von allen Fachleuten.

Der Sozialismus in einem Land, den der Revolutionär für unmöglich erklärte, überdauerte ihn um 5 Jahrzehnte. Das Modell weitete sich im Kriege auf mehrere Länder aus und verschwand als sowjetische Variante Anfang der neunziger Jahre in den Wirren eines globalisierenden Kriminalkapitalismus, der in den Lehrbüchern nirgendwo verzeichnet stand, obwohl er per Marx‘scher Analyse voraussagbar war.

Mit den Morden an Liebknecht-Luxemburg-Trotzki besiegeln die zeitweisen Sieger der Geschichte das Ende der Revolutionen im 20. Jahrhundert. Die drei Morde nehmen die kriegerischen Massenmorde vorweg. In drei individuellen Lebensläufen spiegelt sich der konterrevolutionäre Terror. Was bleibt, kann in Trotzkis ›Tagebuch im Exil‹ nachgelesen werden.

Sechstens: Ich verweise auf Georg Büchners Drama ›Dantons Tod‹. Die Trauer des Dichters gilt der verlorenen Revolution, aus der als Erbe und Liquidator ein Napoleon entsteht. Der Napoleon des 20. Jahrhunderts, der die Revolution erbte, fortsetzte und liquidierte, ist Josef Stalin. Der Revolutionär, der die Revolution auf Dauer verkörpert, ist Leo Trotzki, der mit Lenin siegreiche, von Stalin und Hitler besiegte Marxist. Fragt sich, was von all dem heute im Jahr 2000 noch Bedeutung haben kann. Zwar spricht die Zeitgeschichte einen neuen, modernen Dialekt. Doch bleibt sie bei der Sklavensprache. Bürgertum und Sozialdemokratie spielen wechselseitig Katz und Maus. Kommunisten reden nach jeder Niederlage weiter wie vordem. Trotzkisten denken scharf gegen alle anderen an, nur nicht über sich und den historischen Trotzki hinaus. Denn die deutsche Linke entstammt einer Spaltpilzkultur, jeder Genosse eine Klasse für sich, jede Gruppe ein Generalstab ohne Armee, gelingt aber eine Armeebildung, folgt sie einem Napoleon an der Spitze in neue Aufrüstungen. Summa summarum: Die Linke wird, welche Form sie auch annimmt, jeweils von den ungelösten Konflikten ihrer Vergangenheit eingeholt, denn ihr gemeinsames Gesetz ist die Verspätung, ihre Gesellschaftsform das indische Kastenunwesen, wonach sich eine Hierarchie der Kasten bildet, die einander ignorieren oder verachten, wenn sie sich nicht gar bekriegen und liquidieren. Wie Marx/Engels und Sozialdemokratie nicht zusammenpaßten, wie Noske und Liebknecht/Luxemburg unter keinen Umständen zu harmonieren vermochten, so war es mit Stalin und Trotzki, so ist es mit SPD und PDS, mit den Trotzkisten und dem Rest der Welt und alle miteinander mißachten seit Jahrzehnten gemeinsam jenen einsamen Satz, der da lautet: »Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.« Das steht in Trotzkis Testament vom 27. Februar 1940, einem Halbjahr vor seinem Tode. Es ist die Fassung Trotzkis für die Aussage von Karl Marx, in der es heißt, daß »… der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist …«. (›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ – Einleitung).

Die logischen Konsequenzen aus beiden Prinzipien, dem von Marx und dem Totzkis, wagen die ach so revolutionären Linken nicht einmal andeutungsweise zu ziehen.

Das Elend der deutschen Linken beginnt schon, wenn wir den Konjunktiv, das berüchtigte »Was wäre, wenn …« gehorsam aus unserem Denken verbannen. Was wäre aber, wenn nicht Stalin über Trotzki, sondern Trotzki über Stalin gesiegt hätte? Als die Hamburger Führungsakademie wegen ihres Umgangs mit dem rechtsextremistischen Rechtsanwalt Roeder sich bis auf die Knochen blamierte, riskierte sie die Einladung des jüdischen Kommunisten und Buchenwald-Häftlings Emil Carlebach. Daraufhin erschrocken vor der eigenen Courage hielt die BW-Akademie den Vorgang geheim, und als Carlebach die Medien informierte, hielten auch Presse, Funk und Fernsehen, also die Helden der 4. Gewalt, absolut dicht. Das ist die Innenausstattung der deutschen Freiheit. Mitteilenswert ist vor allem der Satz Carlebachs, daß die Deutschen im ganzen 20. Jahrhundert ohne eigene Soldaten besser gefahren wären. Natürlich lachen alle Realisten von rechts wie links einen solchen Konjunktivismus höhnisch aus. Wer besitzt schon den geschichtsnegierenden Mut, das luftig Wünschenswerte gegen das fatal und verheerend Gewordene zu setzen?

Was also wäre aus einer trotzkistischen Sowjetunion geworden? Wer wagt sich eine nichtstalinsche, sondern trotzkistische KPD zu denken? Welche Energien wären nutzbar geworden, welche Fehler, Restaurationen und Verbrechen wären unterblieben? Hätte man von Trotzki, der die von ihm mitzuverantwortende Niederschlagung des Kronstädter Aufstands im März 1921 bedauerte, jedoch noch im nachhinein als Ausnahme und »tragische Notwendigkeit« bewertete – hätte man von diesem Trotzki die Große Säuberung erwarten können? Wären ihm die Massenmorde an Genossen, Nichtgenossen, Ausländern bis hin zu den 25700 polnischen kriegsgefangenen Offizieren und Zivilbeamten zuzutrauen gewesen? Hätte er getan, was von Stalin getan wurde und was exakt den Warnungen Lenins vor diesem Stalin entsprach?

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Gerhard Zwerenz – Jg. 1925, Schriftsteller. 1952 Philosophiestudium in Leipzig bei Ernst Bloch; 1957 Übersiedlung in die BRD;

Werke u.a.: Kopf und Bauch. Die Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intellektuellen gefallen ist (1971); Der Widerspruch. Autobiographischer Bericht (1974, 1991 bei Aufbau Taschen-buchverlag); Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland (1986). Von 1994 bis 1998 war Gerhard Zwerenz mit PDS-Mandat Mitglied des Deutschen Bundestages. In »UTOPIE kreativ« u.a.: Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl – persönlich – (Offener Brief zur deutschen Militärpolitik), Heft 75 (Januar 1997) und Heft 76 (Februar 1997); »Verräter und Agenten – Denunziation als politisches Kampfmittel« (Vortrag auf der PDS-Geschichts- konferenz »Realsozialistische Kommunistenverfolgung. Von der Lubjanka bis Hohenschönhausen«), Heft 81/82 (Juli/August 1997) und KonferenzbandaSonderdruck Dezember 1997; Sozialismus als Barbarei? Die 12 Merkwürdigkeiten des Schwarzbuches, Heft 99 (Januar 1999); September & Orwell, Heft 107 (September 1999); Die dunkle Rückseite des Mondes oder Nietzsche kam bis Stalingrad, Heft 115/116 (Mai/Juni 1999).

 

Das Trotzki-Tabu der Trotzkisten besteht in ihrer Buchstabengelehrtheit, die ihnen von ihrer eigenen Sklavensprache auferlegt wird, mangels aktuellen Ideen verharren sie im verbalen Käfig, den ihr Vorbild doch stets aufs neue zertrümmerte – das ist eine seiner lebenslangen Leistungen. Mit anderen Worten: Das Trotzki-Tabu beherrscht seine Nachfolger selbst, insofern sie seinen Marxismus als zeitlich ungebunden fortsetzen, Kategorien wie »Arbeiterklasse« unkritisch nutzend ohne Rücksicht auf die Realie, die dem terminus technicus zugrundeliegt und die im elektronischen und digitalen Zeitalter zerfällt. Das Umgehen mit dem Begriff ohne Korrektur wegen veränderter Fakten ist purer Dogmatismus, wie sich bei der Dogmen-geschichte der römischen Kirche zeigt.