Publikation Deutsche / Europäische Geschichte - Geschichte Stalinstadt 1955. Der »Neue Mensch«, vom Westen aus betrachtet. Ein Quick-Report

UtopieKreativ Nr. 118 August 2000

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Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

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August 2000

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UTOPIE kreativ, H. 118

(August 2000),

S. 747-760 Freiheit oder Sozialismus. Acht Jahre nach der Vereinigung der ungleichen Brüder und Schwestern trägt sich folgendes zu: Die Welt der Westdeutschen, wo sich die C-Parteien darum streiten konnten, welches die entschiedenere Parole sei: »Freiheit oder« oder »Freiheit statt Sozialismus« – diese Welt droht ihren Geist aufzugeben. Nach Frau Noelle-Neumanns Erkundungen der deutschen Seele trauen die Westdeutschen (ihre ostdeutschen Mitbürger sowieso) immer weniger der Freiheit und immer mehr dem Sozialismus zu.

Freiheit oder Gleichheit? Seit Anfang der siebziger Jahre waren die Westdeutschen vom Institut für Demoskopie Allensbach examiniert worden, und bis 1990 wuchs die Bevorzugung der Freiheit vor der Gleichheit stetig.

»Seit 1994 hat sich der Trend gedreht. In Ostdeutschland (das seit der Einheit auch am Examen teilnehmen durfte, RM) gaben 1994 50 Prozent der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit den Vorrang, jetzt, 1998, sind es 60 Prozent; statt 36 Prozent 1994 entscheiden sich nur noch 25 Prozent für den Vorrang der Freiheit. In Westdeutschland hatte 1994 die Freiheit mit 60 Prozent einen klaren Vorsprung gegenüber 30 Prozent für möglichst große Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, jetzt 1998 stimmen nur noch 47 Prozent für den Vorrang der Freiheit, 42 Prozent für Gleichheit, soziale Gerechtigkeit.«1

Da ist etwas schiefgegangen. Keine Rede mehr von Stasi und Parteiherrschaft, von Treuhand und Gauckbehörde. Es wächst zusammen, was zusammen gehört. Aber das Lied der Deutschen ist nicht Freiheit & Democracy2, sondern Sozialversicherung und Staatsknete. Die Einheit vollendet sich – aber zu welchem Preis? »Die Kluft zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen ist dabei, sich zu schließen durch Anpassung der Westdeutschen an die Empfindungswelt der Ostdeutschen. Die innere Einheit Deutschlands wird durch den Bundestagswahlkampf bestimmt gestärkt. Jedoch unter der Perspektive des überzeugten Anhängers der freiheitlichen parlamentarischen Demokratie ist der Preis dafür hoch. Mit der Bundestagswahl 1998 wird entschieden, was das für ein Land sein wird, die Berliner Republik.«3 Die Deutschen haben eine rot-grüne Koalition gewählt, und die große Änderung, was immer die Wähler wollten, ist nicht eingetreten. Die stumme Koalition der Westparteien – als hätten wenigstens sie Elisabeth Noelle-Neumanns Warnung verstanden – setzt mit Schröder die Politik der Strangulierung des Sozialstaats fort, die unter Kohl begonnen hat.

Als Hilmar Pabel Anfang 1955 die DDR besuchte, darunter auch Stalinstadt, sah die Welt noch anders aus. Die Gegensätze waren klar: Hier der freie Westen, und dort der unfreie Osten. Wird die Rhetorik noch vom Wiedervereinigungsbegehren bestimmt, bereitet die Bundesregierung mit der NATO-Integration den nächsten Schritt der Teilung vor. Es sind die Auseinandersetzungen um die Pariser Verträge vom Oktober 1954, die die politische Gestimmtheit in der Bundesrepublik zur Zeit von Pabels Reise bestimmen. Diese Verträge sahen einen Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik vor, die öffentlichen Debatten drehen sich um die Remilitarisierung, die Einbindung in das westliche Paktsystem; es gibt die »Ohne-mich!«-Bewegung, die, nach den Erfahrungen des Krieges, als Opposition gegen die Wiederbewaffnung in der Bevölkerung spontane Zustimmung findet. Im Januar 1955 hatte eine Versammlung in der Frankfurt er Paulskirche ein Deutsches Manifest gegen eine Remilitarisierung und Spaltung Deutschlands unterzeichnet. Auch Quick berichtete darüber; unter dem Titel »Offensive gegen die Aufrüstung – und in der Frankfurter Paulskirche spricht die deutsche Opposition« verweist die Illustrierte auf internationale Proteste gegen eine deutsche Wiederbewaffnung in London, Rom, Paris, New York, die nach ihrer Darstellung kommunistisch gesteu-ert sind. »An historischer Stätte, in der Paulskirche zu Frankfurt …, fanden sich 800 deutsche Männer zusammen. Aus welchen ›Lagern‹ sie kamen, zeigt allein schon die erste Reihe …: der stellvertretende Bundestagspräsident Prof. Carlo Schmid, SPD-Vorsitzender Erich Ollenhauer, der frühere Innenminister Gustav Heinemann, als Vertreter der Jugendverbände Ernst Lange, der katholische Theologe Prof. Johannes Hessen, der evangelische Prof. Helmut Gollwitzer, vom Gewerkschaftsbund Georg Reuter, und der berühmte Heidelberger Soziologe und Historiker Prof. Alfred Weber. Sie alle trieb die gleiche Frage: Was wird aus dem zerrissenen Deutschland, wenn seine westliche Hälfte aufrüstet? Sie sind erhaben über jeden Verdacht, Kommunisten zu sein. Gleichwohl lehnen sie, wie diese, eine Aufrüstung ab, und ihre Forderung lautete: alle Verhandlungsmöglichkeiten mit Moskau ausschöpfen, bevor es zu spät ist.«4 In ihrem Deutschen Manifest heißt es unter anderem: »Die Antwort auf die deutsche Schicksalsfrage der Gegenwart – ob unser Volk in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden kann, oder ob es in dem unnatürlichen Zustand der staatlichen Aufspaltung und einer fortschreitenden menschlichen Entfremdung leben muß – hängt heute in erster Linie von der Entscheidung über die Pariser Verträge ab. Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone muß die Chancen der Wiedervereinigung für unabsehbare Zeit auslöschen und die Spannung zwischen Ost und West verstärken.« Die Pariser Verträge wurden vom Bundestag am 27. Februar 1955 gegen die Stimmen der SPD angenommen.

Kurz zuvor, nach einem Ratsprotokoll der Stadt Stalinstadt war es etwa in der dritten Februarwoche, besuchte Hilmar Pabel in Begleitung eines DDR-Reporters von der Neuen Berliner Illustrierten die neue Stadt. »QUICK-Mitarbeiter Hilmar Pabel erhielt vom Presseamt des Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik in Ostberlin die Erlaubnis zu einem großen Reisebericht aus dem Gebiet der DDR. Sein Bericht wurde nicht zensiert. So konnte er mit seiner Kamera endlich eine alte Sehnsucht erfüllen: ein Wiedersehen mit den Deutschen zwischen Elbe und Oder. QUICK weiß, daß dieser Bericht manchen befremden wird – in Ost wie in West. Aber hier sprechen Tatsachen, wie Hilmar Pabel sie sah …«.5 Hilmar Pabel ist ein reisender Fotoreporter, für die Leser der Illustrierten Quick berichtet er von den fernen Plätzen der Welt. Fernsehen ist noch kaum verbreitet, die Illustrierten sind ein popu- läres Medium. Das Titelblatt dieser Ausgabe zeigt Pabel mit seiner Kamera, der genaue Beobachter mit dem Zeigefinger am Auslöser, vor einem seiner Fotos, das, zum Aufblättern einladend, schräg aufs Blatt gesetzt, einen prägnanten Eindruck von der neuen Stadt vermittelt: Stalinstadt im Schnee, mitten im zweiten Wohnkom-plex aufgenommen, vor dem Kindergarten, wo gerade eine kleine Gruppe von der Hand der Kindergärtnerin zur Mutter wechselt, die, ziemlich bepackt, mit ihnen loszieht. Drumherum erkennt man den Eingang der Erich-Weinert-Allee, noch ganz ohne Baumbestand, eine markante Ecke der Stadt. Sicherlich werden dieses Bild und die Stadtansicht, die großzügige Fußgängerallee und die aufwendige wie ebenso eigenartige neoklassizistische Architektur der Gebäude, Aufmerksamkeit und Neugier des westdeutschen Publikums geweckt haben.

Hilmar Pabels Reportage aus der jungen Stalinstadt war, mitten im Kalten Krieg, tatsächlich eine kleine Sensation. Ein solcher Bericht und solche Bilder waren, zumal in einem Massenblatt, in der Bundesrepublik zuvor nicht zu sehen gewesen. Und Pabel ist ein begeisterter Fotograf. Er beobachtet und vermittelt das, was er sieht, als eine erregende Neuigkeit. »Wenn man aus der schneebedeckten Weite des flachen Landes plötzlich die qualmenden Schornsteine, die Kokereien und die sechs Hochöfen des Eisenhüttenkombinats J. W. Stalin vor sich auftauchen sieht, begreift man sofort, was hier geschehen ist. Aus dem Nichts mußte eine Stadt entstehen, weil aus dem Nichts eine ganze Eisenhütte geschaffen werden sollte.« Für Pabel ist die neue Stadt eine Herausforderung: Ein riesiges Werk in einer platten Landschaft, wie aus dem Nichts mit der Stadt in diese abgelegene Gegend an der Oder gesetzt, ein politisches Projekt von ungeheurem Aufwand – und gegen widrige Umstände. Über das neue Werk war im Westen viel berichtet worden, Pabel schreibt, man habe immer wieder behauptet, es sei »fehlkonstruiert«. Er weist auf die Schwierigkeiten in der frühen Zeit des Werks hin, die Änderungen der Planung nach Stalins Tod – die ja, genauer gesagt, als Antwort auf den 17. Juni 1953 vorgenommen wurden – und er erzählt von der harten Zeit des Anfangs, als die Stalinstädter noch in Barackenstädten hausen mußten. Hilmar Pabel ist fasziniert – und erschrocken: »Es ist das ehrgeizigste, aber zugleich sicherlich auch das gewagteste Experiment der Zone.«

  

Stalinstadt im Februar 1955: Der zweite Wohnkomplex ist weitgehend aufgebaut, die HO-Gaststätte Aktivist ist als der erste Ver-gnügungsort der Stalinstädter schon seit einigen Monaten eröffnet, das Friedrich-Wolf-Theater steht kurz vor der Vollendung. Es wird langsam so etwas wie Stadt sichtbar. Der wichtigste Eingang zum Werk liegt noch am Ende der Magistrale, die selbst noch gar nicht bebaut ist. Hilmar Pabels Foto bietet einen großartigen Blick auf die damalige Betriebsamkeit an diesem Übergang zwischen Stadt und Werk, den Stoßbetrieb bei Schichtwechsel, mit Fußgängern, Omnibussen an einem torbogenartigen Durchgang mit der Aufschrift »Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin«. In der Stadt selbst sieht man Fußgänger, Fahrradfahrer, Schlitten – und nur ein einziges Auto. Auf allen Bildern wirkt Stalinstadt bereits wie eine Stadt, obwohl viele Straßen noch ganz plötzlich in der Heide enden. Die Stadt hat 14000 Einwohner, davon leben dreitausend in den neuen Wohnungen, die anderen sind noch in Baracken untergebracht.

Erstaunlich ist nicht nur das, was Pabel zeigt, erstaunlich ist auch, was er nicht zeigt: Die Wohnlager, die, bei entsprechender Absicht, sicherlich als Panorama für die ärmlichen Verhältnisse »in der Zone« hätten herhalten können, werden nicht vorgeführt. Ebensowenig interessiert sich der Fotoreporter für die frühen Gebäude im ersten Wohnkomplex, die in der eigenen Berichterstattung in der DDR als »kasernenmäßige Kästen« kritisiert worden waren – und die man natürlich auch einem westdeutschen Publikum als »Ulbrichts Exerzierplatz« hätte anbieten können. Und er zeigt nicht etwa die Auslagen in den Schaufenstern der Läden, die wohl auch in Stalinstadt weniger glitzerten als in der Bundesrepublik. Statt dessen erfährt man zum Beispiel von hellen, großzügigen Wohnungen zu bezahlbaren Mieten, von Tanzfeiern im Aktivist, von Vorzügen und Privilegien, die die frühe DDR diesen Neubürgern bietet. Auffällig auch, daß keine der zahlreichen Baustellen gezeigt wird, man hat den Eindruck, dem Fotoreporter ginge es allein um das schon erahnbare Ergebnis. Pabel fühlt sich an Charkow erinnert, er sieht Gebäude im sowjetischen Stil, eine Stadt »ganz nach dem Muster der neuen Städte in der Sowjetunion«. Pabel war im Zweiten Weltkrieg Kriegsberichterstatter für die Illustrierte Signal, die der Auslandsabteilung der Wehrmachtspropaganda unterstellt war. Dabei ist er auch in der Sowjetunion gewesen. (Noch 1996 hält man in der Hamburger Fotografieausstellung »Das deutsche Auge« die Biographien der früheren Nazi-Fotografen schamhaft bedeckt. Ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung bemerkt dazu: »Sie … machten einfach weiter, nach dem ›Zusammenbruch‹ gleich wieder groß im Geschäft. Als wäre nichts gewesen. Sie hatten doch ›nur‹ photographiert. Der alte, selbstgedrechselte, schutzschildartige Minderwertigkeitskomplex vieler Photographen spielt da hinein, die Selbstlüge, Photographie an sich sei unpolitisch.«6)

Pabels Report stellt nicht die Schwächen und Schwierigkeiten in den Vordergrund, sondern er will die Stadt in den Absichten ihrer Erfinder portraitieren, nicht als Baustelle, sondern als Konzept. »Hier soll, so wird im Osten immer wieder erklärt, etwas für Deutschland völlig Neues entstanden sein: eine Stadt ohne jegliche Verbindung zu einer bürgerlichen Vergangenheit, das ›bis ins letzte durchorganisierte‹ Idealbild der klassenlosen Gesellschaft.« Dies ist es, was seine Neugier erregt, was er entdecken will – und was ihn womöglich mehr Neues entdecken läßt, als tatsächlich da ist. Die Fotoreportage schildert die Zustände in einem fernen Land. Uns, den Westdeutschen, sind die Ostdeutschen abhanden gekommen: »In der Stadt selbst gibt es weder selbständige Bäcker, Schneider, Schlächter noch selbständige Ärzte oder Juristen – nur Arbeiter und Angestellte volkseigener Betriebe. Von ferne erinnert mich das Stadtbild an die vertrauten Silhouetten der Industriezentren an Rhein, Ruhr und Saar. Aber, als ich näher komme …

Blick in eine fremde Welt. Ich fahre durch seltsame, ungewohnte Straßen, die eher an Charkow als an eine deutsche Stadt erinnern. Es ist drei Uhr nachmittags – aber ich sehe kaum Menschen. Erst im Stadtzentrum begegne ich jemandem: Frauen in Schwesterntracht (!) mit vielen Kindern. Eine von ihnen gibt mir die Erklärung für das menschenleere Stadtbild: ›Um diese Zeit sind alle im Werk. Nur wir sind da, wir betreuen tagsüber die Kinder.‹

Ist das noch Deutschland? Schichtwechsel – auf einmal sind die Straßen belebt von vielen Menschen. Sie sprechen viele Dialekte, berlinisch, sächsisch, ostpreußisch. Dennoch – ich habe das beklemmende Gefühl, hier in einem fremden Land zu sein: massige Häuserblocks im sowjetischen Stil, die eher Regierungsgebäuden oder Versicherungspalästen als Wohnstätten gleichen. Sie sind hell und großräumig, aber wie eintönig! 500 Häuser, genormt, eines wie das andere, keine Straße mit ›eigenem Gesicht‹. Und die Menschen, die stolz in ihnen wohnen? Beginnt hier die große Umwandlung der Einzelwesen in ›Kollektiv-Glieder‹, etwas, wogegen sich die westliche Freiheits-Idee wehrt, wovon der Osten aber das Heil erwartet?«

Im selben Jahr schreibt Marion Gräfin Dönhoff über den Verlust des Einheitsgedankens unter den Deutschen. Was allen Völkern wichtig und wert ist, die Westdeutschen haben es vergessen: die nationale Identität. »In Deutschland war es leider immer so, daß man sich mit den Gegebenheiten abfand: in der wilhelminischen Ära und auch unter Adolf Hitler. Und heute ist es wieder so. Man schiebt der Regierung oder dem Osten oder den Alliierten die Schuld daran zu, daß die Wiedervereinigung nicht zustande kommt. Man hält dabei alle anderen für verantwortlich, nur sich selber nicht, und schließlich heißt es dann: ›Ja, da ist eben nichts zu machen. Wenn die Behörden nichts erreichen und wenn internationale Konferenzen nichts verschlagen, dann gehts eben nicht …‹ Andere Völker verhalten sich anders. Die Polen haben sich in keinem Jahrhundert mit den sogenannten Tatsachen abgefunden, und wie oft ihr Land auch geteilt wurde: ihre Energien, ihre brennende Sehnsucht haben sie immer wieder zusammengeführt. Was aber brennt bei uns? Allenfalls der Wunsch, möglichst rasch vorwärtszukommen und möglichst viel zu verdienen. … Das Wort ›Wieder-vereinigung‹ ist aschgrau geworden, wie Mehltau oder Schimmelpilz. Mancher mag es kaum noch hören. Über dem Gerede von der Wiedervereinigung haben manche vergessen, daß Deutschland geteilt ist. Man sollte mit einer Schaufel einmal diesen traurigen Haufen abgenutzter Worte hochheben können, um zu sehen, was darunter ist. Sicherlich entdeckte man dann, daß man noch einmal neu anfangen, besser: alles neu durchdenken müßte.«7 Was Marion Gräfin Dönhoff in der renommierten westdeutschen Wochenzeitung Die Zeit als die Selbstvergessenheit der Deutschen im Westen beklagt – ihr Vergessenwollen des Faschismus wie ihr stillschweigendes Anerkennen der Teilung, mögen da auch Verwandschaftspäckchen hin und her geschoben werden, Dresdner Stollen gegen brasilianischen Kaffee – die Deutschen, und das meint immer die Westdeutschen, haben sich damit abgefunden. Hilmar Pabel sieht eine fremde Welt entstehen: »Seit zwanzig Jahren bin ich mit meiner Kamera schon einige Male um die Erde gewandert und habe das Leben vieler Völker studiert. Nirgends aber ist die Wirklichkeit so schwer zu erfassen wie bei den Deutschen zwischen Elbe und Oder. In unserer alten Heimat.« Hilmar Pabel ist ein Fremder. Was er schreibt, klingt wie aus einem Eskimo-Dorf, alle laden ihn ein, und immer beschleicht ihn eine große Furcht: Sind das noch Deutsche, oder sind das schon Kosaken? Ist das noch zwanzigstes oder ist das schon einundzwanzigstes Jahrhundert? Ich, Hilmar Pabel, ehrlicher Berichterstatter meiner Zeit, durch Kriege gegangen mit meiner Leica, der ich die Russen kennengelernt habe, kenne die Deutschen nicht mehr. Brüder und Schwestern – was sehe ich statt dessen? Eine Jugend, die teilhat an fadenscheinigen Vorteilen eines Systems, aus dem nie etwas werden kann. Oder vielleicht doch? Der geübte Beobachter weiß nicht, was die Zeit bringt. Muß er sich vielleicht wieder einmal umstellen? Dieser Orwellschen Welt gehört womöglich die Zukunft?

Und Pabel macht seinen Bericht für die Quick, eine populäre illustrierte Zeitschrift mit über einer Million Auflage in Westdeutschland. Er hat das Privileg, als erster über jene Musterstadt der DDR berichten zu dürfen. Pabels Blick auf die neue Stadt ist ein dokumentarischer. Aber es gibt sowenig ein eindeutiges Dokument, sowenig es eine eindeutige fotografische Abbildung gibt. Wie beide der Interpretation bedürfen, so lenkt diese bereits den Blick des Fotografen. Und als Reporter beschriftet er seine Fotos und holt aus ihnen heraus, was sie von sich aus gar nicht hergeben. »So also ist das hier, die Arbeiter, die Ladenmädchen, die Volkspolizisten lachen und flirten und tanzen und trinken miteinander und füllen das ganze Haus ›Aktivist‹, und es steht in Stalinstadt, und die unsichtbare Hand, die das alles lenkt, die sieht man freilich nicht.« Die Bilder zeugen von einer Neugier auf das, was da entstehen konnte, seine Kommentare von dem Schrecken, aber auch der Neugier der Westdeutschen, daß dieses Neue die neue Zeit sein könnte. Sein Kameraauge ist geradeaus. Aber die Texte, die er den Bildern beigibt, bezeugen die Abwehr eines Gesellschaftsexperiments, das er ihnen erst unterlegen muß, um es in den Bildern zu erkennen. So nimmt es nicht wunder, daß er im Abbild von Stalinstadt eine Exerzieranstalt des neuen Menschen dechiffriert. Trau keinem unter dreißig – das Durchschnittsalter der Stalinstädter liegt bei fünfundzwanzig, angeblich wurden sie von ihren Eltern getrennt in dieses Experiment geschickt. »So gesehen freilich stellen die Stalinstädter einen herrlichen Rohstoff dar, aus dem man ideale Marxisten (?!) formen kann. Dem Regime verdanken sie alles, ihr gutes Einkommen, ihre moderne Kleidung, ihr Leben im ›Schaufenster‹ der DDR und den Tanz am Samstagabend bei vollen Tischen …, den sie lebensfroh und naiv genießen. Ich kann mich vor Einladungen kaum retten.« Die Menschen sind offen und freundlich zu ihm. Ist das der Sozialismus, der noch den Fremden zur Gleichheit verführt? Wissen sie nicht, welche Privilegien sie genießen gegenüber einer Umwelt, die viel schlechter dran ist?

Wissen die Stalinstädter das wirklich nicht? Sind nicht auch die Stalinstädter Glücksritter? Eben dem Krieg entronnen ergreifen sie eine Chance, und diese Chance identifizieren sie mit Sozialismus. Hilmar Pabels kleine Portraits von einem Arzt, einem Traktoristen, einem Lehrer, stellen uns diese als Leute vor, die bei ihrer Sache sind, und immer wieder berichtet er von freundlichen Begrüßungen, die er erfahren hat und die er als Naivität begreift. »Sie alle kennen keinen Vergleich mit dem Leben in der übrigen Welt, sie wissen nur, daß es früher schlechter war in den Baracken und daß jetzt in diesen Straßenburgen Wohnungen für sie da sind. Ich glaube schon, daß sie sich dort sogar glücklich fühlen, denn auch Glück ist ja relativ. Und sicher sind sie stolz darauf, was in den letzten Jahren hier geschehen ist.« Und wohin der Fotograf auf seiner Reise durch die DDR auch kommt, immer ist es das Russische, das ihm an meisten auffällt. In der nachträglichen Erinnerung kommt es ihm vor, als sei er mit Watte in den Ohren herumgegangen: »Wenn ich mit den Menschen spreche, merke ich oft, daß ganz einfache Fragen ›verdächtige‹ Fragen sind. Ich stoße auf Mißtrauen, und Mißtrauen begegnet mir auch, wenn ich zu fotografieren beginne. Die Leute sind liebenswürdig, und sie sprechen auch. Aber – sagen sie eigentlich etwas?« Vor allem die Politisierung des Lebens sei ihm aufgefallen, »nicht nur von der Wiege bis zum Grabe, sondern täglich, stündlich überall. Da frage ich in Jena eine 20jährige Studentin nach dem größten Wunsch ihres jungen Lebens. Es ist weder ein schickes Abendkleid noch eine Reise irgendwohin in die Ferne. Ernsthaft und mit Überzeugung sagt mir Evelyn: ›Ein einheitliches Deutschland‹, und sie fügt hinzu: ›Denn davon hängt alles ab.‹« – Man merkt an diesem Report, daß die Teilung im Westen mental schon vollzogen ist, während die Menschen im Osten, wie auch von der SED propagiert, noch an die Wiedervereinigung glauben. Ein Fotoreporter reportiert für seine Leser, im Bewußtsein, daß er die Meinung der Mehrheit trifft. Die Ära Adenauer konsolidiert sich in ihrer Option für die NATO im Westbündnis, die Westdeutschen genießen das Wirtschaftswunder. Man schreibt über die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, das Ende der Klassenkämpfe, die lonesome crowd. Wer Augen hat, konfrontiert sich mit dem italienischen Neo-Realismus und seiner Auseinandersetzung mit dem faschistischen Italien, ansonsten ist die Zeit der Abrechnung vorbei. Die Kontinuität hat obsiegt, die, die mitgemacht haben, sind wieder dabei, auch Hilmar Pabel. Sein Sensorium ist das Sensorium der Westdeutschen. Quick läßt sie den Neuen Menschen fürchten.

 

Es gibt einen Ausspruch von Bert Brecht, wonach das einfache Abbild nichts mehr auszusagen vermag, daß das Abbild vielmehr des Kommentars bedürfe, um verstanden zu werden. In Hilmar Pabels früheren Veröffentlichungen gibt es ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie das Bild mit dem Kommentar auf verschiedene Weise verfügbar gemacht werden kann. Im November 1942 erschien in der schon erwähnten Illustrierten Signal eine Bilderserie, die Pabel von einer Kompanie der Infanterie im Vormarsch nach Osten gemacht hat. Aus dieser Bildserie veröffentlicht er 1954 noch einmal einige Fotos, neu arrangiert und kommentiert in seinem Fotoband »Jahre unseres Lebens«. Was 1942 als »Die Chronik der 50 km« einen soldatischen Heroismus ausstellt, in Stahlgewittern, zu Fuß und mit der Waffe in der Hand, wo sich, wie Signal erklärt, im Schutz der stählernen Kolosse die Infanterie im Nahkampf, Mann gegen Mann nach vorn arbeitet, wo »abgekämpft und hoffnungslos« die Sowjetsoldaten ihr »verzweifeltes Spiel, den letzten Versuch zum Widerstand« beenden (Signal) – das stellt sich 1954 als eine ergreifende Geschichte dar, in der unsere Landser immer nachdenklicher werden und doch nicht zu deuten wissen, wie oder was ihnen geschieht: »Wie schön waren die Sommermorgen in Rußland! Wie gut tat es, inmitten von Kameraden singend in den jungen Tag zu marschieren! Sie alle kannten den Krieg, aber sie vergaßen ihn für diese Stunde. Dann war er plötzlich wieder da. Mittags schon standen sie vor einem frischen Grab: der Raach war gefallen, der Lois, er wird nie wieder singen – kann das einer begreifen? Und nachmittags kommen der Franzl und der Sepp zurück, der Sepp, der mittags so stumm und nachdenklich am Grab vom Alois stand. Beinahe wären nun auch sie an der Reihe gewesen. So ging einer nach dem anderen. Immer kleiner wurde die Kompanie.«8

In der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« wurde auch die Kriegsdarstellung in den populären westdeutschen Nachkriegsmedien gezeigt, in denen die heimkehrenden Frontsoldaten ihr Bild vom Krieg entwarfen, in den illustrierten Massenblättern, im Trivialroman, im Film. »Hier fand die Behauptung vom ganz normalen Krieg, der von anständigen Soldaten und vorbildlichen Offizieren geführt worden war, eine plausible und erinnerungswürdige Form.«9 In Bert Brechts 1955 veröffentlichter Kriegsfibel schreibt Ruth Berlau im Vorwort: »Warum unseren Arbeitern der volkseigenen Industrie, unseren Genossenschaftsbauern, unseren aufbauenden Intellektuellen, warum unserer Jugend, die schon die ersten Rationen des Glücks genießt, ausgerechnet jetzt diese düsteren Bilder der Vergangenheit vorhalten? Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen. Denn es ist dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen. Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser.«10

Die Eigenart der Fotografien Hilmar Pabels besteht darin, daß sie mehr aussagen, als der Kommentar zurücknimmt. Zu jener Zeit ist Stalinstadt das Erfolgsprojekt der DDR. Es ist die Zeit, wo die Kumpel an der Ruhr dafür streiken, daß die Montanmitbestimmung nicht ausgehölt wird. Die Arbeiter in Westdeutschland führen ihre ersten Verteidigungskämpfe. Die FDJ ist verboten, das Verbot der KPD ist auf dem Weg. Der Geist der Massenpresse, und vornan der illustrierten Zeitschriften, ist beseelt von der Überlegenheit des westlichen Konsummodells. Und da kommt dieser Bericht aus der östlichen Zone des Ostens Deutschlands, den sie damals noch Mitteldeutschland genannt haben, weil die Begehrnisse auf jene Gebiete, die auf der Landkarte als polnisch oder sowjetisch verwaltet bezeichnet wurden, längst nicht aufgegeben waren – da kommt dieser Bericht von Hilmar Pabel in einer gewöhnlichen westdeutschen Illustrierten, und er tut so, als wenn er etwas aufschreckte. Was aber schreckt er auf? Nichts, was die Menschen nicht eh schon glauben und wissen. Das Gemüt und der Verstand der Westdeutschen sind eingefroren im Kalten Krieg, und gerade und selbst die Erfolge des Sozialismus sind Beweise und Zeugnis der Unfreiheit dieses Systems.

»Jetzt wohnen vierzehntausend Menschen hier. In fünf Jahren sollen es mehr als doppelt soviel sein: fünfunddreißigtausend. So verlangt es der Plan. Was werden das für Menschen sein? Und was für Menschen leben heute in diesen gerade ausgerichteten Wohnblocks von Stalinstadt? Sie sprechen deutsch, diese Frauen mit den Kopftüchern und diese Männer. Und wenn ich sie näher kennenlerne, lachen und winken sie mir zu. Aber etwas Beklemmendes und Erregendes hat mich hier erfaßt. Heute gehe ich auf den Straßen der jüngsten Stadt Deutschlands. Aber ist das noch Deutschland?« – Die Stalinstädter stehen wie eine Bedrohung da. Die jungen Bewohner sind den westdeutschen Lesern Zeugen dafür, daß auch sie schon einmal mitgemacht haben für eine idealistische Verblendung. Sozialismus, das ist nichts anderes als Nationalsozialismus. Jeder ist verführbar. Ohne mich! und: Nie wieder! prägen als Mahnung und Leitformel ihre zu jeder Politik distanzierte Haltung. Daß im Osten Deutschlands, in Stalinstadt, eine junge Generation aufwächst, die Gelegenheiten nutzt und sich mit einem neuen Beginnen einverstanden erklärt, unverwandt dem Fremden begegnend, ohne Feinderklärung, ist unter diesen Umständen nur Anlaß ihres Mißtrauens, das sie gegen sich selbst hegen. Keine Hoffnung mehr, nur noch Erfolg. Wir sind gebrannte Kinder, jede Überzeugung ist trügerisch. Pabel ist der Zeuge dieser Haltung der Westdeutschen in einer populären westdeutschen Zeitschrift, und zugleich gibt er Zeugnis von dem Versuch einer jungen Generation von Menschen in Deutschland, die augenscheinlich neu beginnen wollen. Er hat sie als Exoten gesehen.

Kommt die Demark bleiben wir – kommt sie nicht, gehn wir zu ihr. Die Überlegenheit des Kapitalismus hat gesiegt. Jedenfalls hat sie in der Heldenstadt Leipzig ihre Akklamation gefunden. Sollte es aber gar nicht die Freiheit, sondern viel eher der nüchterne Sinn für diese Überlegenheit gewesen sein, der die Einheit beflügelt hat, so mag es die Ironie der Geschichte sein, daß auch die Westdeutschen die Freiheit nicht mehr wollen – oder sie verstehen Freiheit gegen Noelle-Neumann als eine Macht, die nur der gewinnt, der sich auf Gleichheit und Gerechtigkeit verlassen kann. – » ›Wir waren glücklich in der DDR‹, rief während der öffentlichen Sitzung der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine ältere Frau mit vor Erregung zitternder Stimme in den überfüllten Versammlungssaal des Rathauses von Eisenhüttenstadt. Hierher hatte sich im April 1997 die Kommission des Deutschen Bundestages begeben, um Fachleute anzuhören und das Gespräch mit Zeitzeugen zu suchen. … Die Schatten der Vergangenheit sind noch allgegenwärtig in dieser ›ersten sozialistischen Stadt‹ der DDR, die Anfang der fünfziger Jahre am Reißbrett entstanden war. … Die realsozialistische Schäbigkeit ist notdürftig von den bunten Tupfern der schönen neuen Warenwelt überkleckert worden, im übrigen scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Hier also waren die Menschen glücklich. In diesen Wohnbezirken hatten sie irgend-wann – meist nach jahrelangem Warten – die begehrten Vollkomfort-Wohnungen mit Fernheizung und fließendem Wasser bekommen, haben sie ihre Kinder in den ›kombinierten Kindereinrichtungen‹ abgeliefert, um morgens zur Schicht zu fahren, haben – um das kleine Glück vollkommen zu machen – nach zehn- oder fünfzehnjähriger Anmeldefrist ein Auto bekommen, den Urlaub in einer Einrichtung des FDGB-Feriendienstes geplant, abends vor dem Fernseher gesessen und wenn der ›Blaue Bock‹ oder Millowitsch kamen, heimlich den Westkanal eingestellt; und mehr an Freiheit haben sie sich eigentlich nie gewünscht. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich so ein Leben vorzustellen, und jede Ironie verbietet sich angesichts der simplen Ehrbarkeit derer, die gerne stolz auf diese Art der Existenz sein möchten. … Wer es noch nicht wußte, konnte es im April 1997 in Eisenhüttenstadt erleben: Die Aufar-beitung der DDR-Geschichte steht auch sieben Jahre nach der Vereinigung vor großen Problemen.«11 Stefan Wolle, ein in der DDR Gemaßregelter, ist unzufrieden mit seinen Landsleuten in der Musterstadt des Sozialismus. Hier hatte, wie Pabel schrieb, »die große Umwandlung der Einzelwesen in ›Kollektiv-Glieder‹ (begonnen), etwas, wogegen sich die westliche Freiheits-Idee wehrt, wovon der Osten aber das Heil erwartet«. Und im Rückgriff darauf reklamieren ihre Bewohner ein Spießerglück und können mit Freiheit natürlich nicht umgehen. Was er, Wolle, mit der BRD gewonnen hat, ist ihnen fremd. Sie klammern sich an die verlorene Sicherheit und nehmen die Freiheit in Anspruch, ihre Klagen vorzutragen. Ist das undankbar? Braucht Freiheit Dankbarkeit, oder lebt sie erst von der Unverschämtheit derer, die sie in Anspruch nehmen?

Stalinstadt hat verschiedene Umbrüche erfahren. Das Ende der Stalin-Ära hat ihr einen neuen Namen eingebracht, Eisenhüttenstadt. Mit der Vereinigung hat das Eisenhüttenkombinat Ost den Besitzer gewechselt, es ist westeuropäisch geworden. Die jungen Menschen von Stalinstadt aus dem Jahre 1955 scheinen etwas nicht vergessen zu haben: den Vorzug der Gleichheit, den sie auch als einen ihrer Freiheit verstanden haben. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – in gewisser Weise versuchen sie, die Ideale der französischen Revolution, die ja nur halb und unbeholfen die Ideale der DDR gewesen sind, in die neue Zeit hinüberzuretten. Und wenn Frau Noelle-Neumann recht hat, haben sie einen größeren Erfolg, als die Konstrukteure einer Vereinigung, die mit Freiheit & Democracy den egalitären Impuls austreiben wollen.

Wir waren glücklich in der DDR: Die, die sich da zu Wort melden, rücken die Geschichte der DDR und ihrer Stadt in das milde Licht der geschönten Erinnerung. Wenn man heute Zeitungsberichte lesen kann, die auf eine wachsende Ausländerfeindlichkeit gerade unter Jugendlichen in der ehemaligen DDR und gerade auch in Eisenhüttenstadt hinweisen, so daß sich Unternehmensleitung und Betriebsrat der französischen Konzerntochter EKO genötigt sehen, dagegen vorzugehen, dann weist das auf eine nachhaltige Irritation hin. Es weist auch darauf hin, daß unter Gleichheit wohl immer schon die eigenen Leute, nicht aber die Fremden verstanden wurden. Die Egalität verdankt sich einer Abschließung, auf deren Auflösung nicht wenige der ehemaligen DDR-Bürger mit Ausschließung reagieren.

Hilmar Pabel, als er 1955 Stalinstadt und die DDR besuchte, hat mit seinem westdeutschen Blick ein Zeugnis hinterlassen für den Versuch, etwas Neues zu beginnen, was er womöglich als eine Form der asiatischen Produktionsweise angesehen hat. Und was er so dokumentiert hat, in der Fremde eines fernen Landes, das könnten die Herausforderungen sein für eine Berliner Republik, die sich als Republik überhaupt noch konstituieren muß.

 

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Ruth May – Jg. 1959, Stadtplanerin, Universität Hannover; Arbeitsgebiete: Planungsgeschichte, Planungstheorie;

Veröffentlichung: Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriß der frühen DDR – aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmunder Beiträge zur Raumplanung 92, Dortmund 1999.

1 Elisabeth Noelle- Neumann: Was ist anders als 1994? In Deutschland kehren sich die Trends um, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Februar 1998.

2 Nach: Bert Brecht: Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy (1947).

3 Wie Anmerkung 1.

4 Quick, Nr. 7 vom 12. Februar 1955.

5 Der Reisebericht ist unter dem Titel: »Quick besucht die Deutschen zwischen Elbe und Oder« in: Quick, Nr. 12 vom 19. März 1955 (Erster Groß- bericht: Stalinstadt an der Oder) und folgenden Ausgaben erschienen.

6 Claus Heinrich Meyer: Das Ende der Photographie? Die Ausstellung »Das deutsche Auge« in Hamburg, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. Juni 1996. Ein knappes Jahr zuvor, am 16. September 1995, war in derselben Zeitung über Pabel folgendes zu lesen: »Wie ein roter Faden zieht sich durch seine Serien und Reportagen ein tiefes inneres Anliegen. Es geht um die Menschlichkeit im Angesicht von Tod, Zerstörung, Krieg und Unterdrückung.« Was immer ein inneres Anliegen ist: Jeder kann irren, und jeder kann sich ändern. Pabel, so dort weiter, »bekam für seine Photographie und für sein journalistisches Werk viele Auszeichnungen und Ehrungen. Aber er war auch immer bereit, für seine Überzeugung einzustehen und zu kämpfen. So zum Beispiel 1987, als er aus Protest einem Amtsrichter in Schwäbisch Gmünd seine beiden Bundesverdienstkreuze auf den Tisch knallte. Pabels Tochter hatte sich an Sitzblockaden gegen die Pershing- Stationierung beteiligt und war wegen Nötigung verurteilt worden.« Hatte er sich geändert?

7 Marion Gräfin Dönhoff: Macht Ernst mit der Solidarität!, in: Die Zeit vom 29. Dezember 1955.

8 Hilmar Pabel: Jahre unseres Lebens, Stuttgart 1954.

9 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 (Ausstellungskatalog), Hamburg 1996.

10 Bertolt Brecht: Kriegs- fibel, Berlin/DDR 1955.

11 Stefan Wolle: Herrschaft und Alltag. Die Zeitgeschichtsforschung auf der Suche nach der wahren DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament vom 20. Juni 1997. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte. Auf Hilmar Pabels Fotoreportage über Stalinstadt bin ich durch einen Hinweis von Jochen Czerny (EKO. Eisen für die Republik, illustrierte historische Hefte 34, Berlin 1984) gestoßen.

12 Ich habe mir aus einem Zeitungsarchiv diese Reportage besorgt und in meiner Arbeit »Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriß der frühen DDR – aufgesucht in Eisenhüttenstadt«, Dortmund 1999, darauf aufmerksam gemacht. Andreas Ludwig, der in Eisenhüttenstadt das »Dokumentationszentrum für Alltagskultur der DDR« betreibt, war sehr interessiert, einen Beitrag von mir über Pabels Reportage in einen Band über Eisenhüttenstadt zu ihrem 50jährigem Jubiläum aufzunehmen. Schließlich beließ er es bei einer einfachen Wiedergabe des Quick-Reports.