Publikation Wirtschafts- / Sozialpolitik Die Zukunft der Rente heißt Solidarität

Text der Woche 24/2000 von Lutz Brangsch

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Lutz Brangsch,

Erschienen

Juni 2000

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Nur online verfügbar

Text der Woche 24/2000

Eckwerte für die Diskussion der Zukunft der Rentenversicherung an der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Mit den nunmehr bekannt gewordenen Riesterschen Eckpunkten zu einer Reform der Alterssicherung markiert die Mehrheitsfraktion der SPD ihren endgültigen Bruch mit den sozialpolitischen Traditionen, mit denen der Name dieser Partei immer noch in Verbindung gebracht wird. Nachdem die Vorgängerregierung in der Pflegeversicherung erstmals das paritätische Finanzierungsprinzip ausgehebelt hat, führt eine SPD-geführte Regierung diesen Kurs weiter, indem das gleiche in einem tradierten Sicherungssystem durchgesetzt wird. In einem Kernbereich sozialdemokratischer Werte wird ein grundlegender Bruch vollzogen, der weitreichende Konsequenzen für gesellschaftspolitische Machtkonstellationen haben wird. Tatsächlich sind in diesem Sinne vielfältige Möglichkeiten eines Neuaufbaus sozialer Sicherung denkbar – aber dies hat eine andere, brutalere und weniger humanere Gesellschaft zur Konsequenz. Wenn man dies will, soll man es aber auch sagen.

Was ist die gesellschaftliche Funktion sozialer Sicherungssysteme?

Ausgangspunkt der Entwicklung der Rentenversicherung in Deutschland ist nicht ein irgendwie gearteter sozialer Konsens, schon gar kein Generationenvertrag, sondern ein pures machtpolitisches Kalkül – die Rentenversicherung, wie auch die in gleicher Zeit eingeführten anderen Bereiche der Sozialversicherung, sollte angestauten gesellschaftspolitischen Sprengstoff entschärfen. Sie war eines der Systeme, mit denen die Herrschenden versuchten, die Gesellschaft gegen die Folgen der kapitalistischen Industrialisierung zu stabilisieren. Der Niedergang und die Verarmung handwerklicher Mittelschichten wie der Zerfall der Großfamilien, die Fragen der Alterssicherung intern regulieren konnten, gehören zu den Quellen, die die heutigen sozialen Sicherungssysteme hervorbrachten.

Die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme war im weiteren Verlauf der Geschichte immer Reflex der Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnis. Das Sozialsystem der Bundesrepublik wurde nach dem 2. Weltkrieg eben unter der Maßgabe konzipiert, „Verwerfungen“ zwischen „Oben und Unten“ zu vermeiden. Auch hier steht die Forderung der Sicherung sozialer Stabilität, im Sinne der Stabilität von Herrschaftsverhältnissen, im Mittelpunkt.

In einem weiteren Sinne ist die Frage der sozialen Stabilität ein entscheidender Schnittpunkt zwischen den Interessen der Herrschenden und denen der ArbeiterInnenbewegung. Was von Seiten der Herrschenden als Befriedung gedacht, stellt sich auf Seiten der ArbeiterInnenbewegung als Möglichkeit der Schaffung von Freiraum gegen Kapitalinteressen dar. Entwicklung von Individualität, Selbstverwirklichung, soziale und politische Selbstorganisation sind in Deutschland untrennbar mit der Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme verbunden. Sie dämpfen die Marktkonkurrenz zwischen den Lohnabhängigen und helfen, Solidarität entwickeln zu können. Sie tun dies, indem die individuelle Zukunftssicherheit eng mit der der Solidargemeinschaft in solchen existentiellen Fragen wie Gesundheitssicherung, Absicherung gegen Arbeitslosigkeit sowie Alterssicherung verbunden ist. Dabei wirken differenzierende mit ausgleichenden Tendenzen zusammen. Für Deutschland ist dieser Zusammenhang ein wesentliches Moment für die Gewährleistung normaler zivilgesellschaftlicher Normen des Umgangs der Menschen untereinander. Beide Seiten sind untrennbar miteinander verbunden. Insoweit sind die sozialen Sicherungssysteme auch zu einem unabdingbaren Faktor der Produktivitätsentwicklung geworden.

Eine Auflösung dieses Zusammenhanges bedeutet eine völlige Neustrukturierung der Machtkonstellationen und in diesem Zusammenhang eine Auflösung der in Deutschland gewachsenen sozialen Normen wie auch des erreichten Produktivitätsniveaus.

Was ist die Funktion der sozialen Rentenversicherung?

Zwei Funktionen sind vor diesem Hintergrund hervorzuheben:

  • Die soziale Rentenversicherung soll allen Arbeitenden (BeitragszahlerInnen) und den noch nicht Arbeitenden Zukunftssicherheit geben und allen RentenbezieherInnen ein selbstbestimmtes Leben garantieren. Dabei sind die Lebensarbeitsleistung und andere gesellschaftlich relevante Leistungen, wie etwa die Kindererziehung, wichtige Bezugspunkte, ohne das sich die Rente auf eine Funktion als „Lohn der Lebensleistung“ reduzieren ließe.
  • Die soziale Rentenversicherung soll weiterhin sichern, dass alle RentenbezieherInnen an der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums, für den sie mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement die Basis geschaffen haben, gleichermaßen partizipieren können.

 

Welche Kriterien sollten davon ausgehend an Reformprojekte im Bereich der Rentenversicherung angelegt werden?

  1. Stärkung des solidarischen Charakters
    d.h. Beibehaltung des Prinzips der Pflichtversicherung, Ausweitung des Kreises der Beitragspflichtigen und Leistungsberechtigten, Demokratisierung der Selbstverwaltung und Erhöhung ihres Stellenwertes. Dies schließt auch ein, dass die Probleme aus der demographischen Entwicklung in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, nicht über die Rente alleine gelöst werden müssen.
  2. Gewährleistung der gesetzlichen Rente auf einem lebensstandardsichernden Niveau
    Differenzierungen entsprechend der Lebensleistung sollten erst oberhalb eines garantierten Grundsicherungsbetrages, der oberhalb der Armutsgrenze liegen muss, einsetzen
  3. Beibehaltung des Prinzips der Umlagefinanzierung bei Ergänzung durch einen entsprechenden Zuschuss aus dem Bundeshaushalt
    der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt soll den Grundsicherungsbetrag finanzieren und Defizite der Gesetzlichen Rentenversicherung aus Steuermitteln, vor allem aus der Unternehmensbesteuerung, abdecken
  4. Anhebung des Stellenwertes von Zeiten der Kindererziehung und der Pflege Angehöriger, von ehrenamtlicher Arbeit und Ausbildungszeiten bei der Bestimmung der Höhe des Rentenanspruches
  5. Private Absicherung ist und bleibt möglich; zumal sie heute bereits ein Ausmaß erreicht hat, das deutlich macht, dass sie keiner Förderung bedarf – sie setzt sich auch dann in den entsprechenden Einkommensgruppen durch, wenn das Rentenniveau relativ hoch liegt.

Die Entwicklung von Konzepten zur Reform der solidarischen Rentenversicherung ist schwierig, muss sie sich doch mit einem veränderten Kräfteverhältnis in der Gesellschaft, mit neuen Erscheinungen in der Gesellschaft, mit Veränderungen in den moralischen Wertvorstellungen und mit einer Werbemaschinerie von Interessenverbänden, Banken, Versicherungsunternehmen und Finanzdienstleistern, die die Sozialversicherung als bereits begraben darstellt, auseinandersetzen.

Aber gerade die sozialen Differenzierungen, die mit den Umbrüchen in der Arbeitswelt verbunden sind, die Zunahme von unstetigen Erwerbsverläufen, zunehmende Wechsel zwischen abhängiger Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, Selbständigkeit, Aus- und Weiterbildungszeiten sind ein entscheidendes Argument für, nicht gegen die Stärkung der solidarischen Alterssicherung. Weder Modelle privater noch betrieblicher Sicherung können soziale Stabilität und gesellschaftliche Solidarität vermitteln, wie dies eine solidarische Rentenversicherung kann. Im Gegenteil: die Einbindung der Alterssicherung in die Kapitalmärkte erhöht Unsicherheit, erhöht die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und stellt damit das Kräftegleichgewicht in Wirtschaft und Gesellschaft ernsthaft in Frage.

Die ganze Diskussion macht nur dann Sinn, wenn die Gewährung sozialer Leistungen als Anreiz zur Arbeit, genauer als Belohnung für unternehmenskonformes Verhalten verstanden werden soll. Ein weiteres Abdriften der einzelnen sozialen Sicherungssysteme in derart repressive Funktionen darf nicht zugelassen werden.