Publikation International / Transnational - Europa Meilenstein auf Polens schwierigem Weg zu einer Bürgergesellschaft

Holger Politt (RLS Büro Warschau) zum polnischen EU-Referendum

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Erschienen

Juni 2003

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Holger Politt (RLS Büro Warschau) zum polnischen EU-Referendum.

Polens Bevölkerung hat abgestimmt und sagt Ja zur EU. Im Ergebnis wird Polen ab 1. Mai 2004 Mitglied der EU werden. In den ersten Stunden nach Schließung der Wahllokale überwog unbändige Freude bei den Befürwortern des Beitritts - beim Präsidenten, beim Spitzenpersonal der meisten politischen Parteien, bei den Bewohnern der größeren Städte, bei der Jugend. In der Aufzählung nicht zu vergessen jene Gruppen, die ganz entschieden und aus guten Gründen der Integration ihre Zustimmung gaben - z. B. die behinderten Menschen, die etwa 10% der Gesamtbevölkerung ausmachen, oder die Schwulen- und Lesben. Auf der Seite der EU-Befürworter ist auf jeden Fall jede Menge kreatives und emanzipatorisches Potential vorhanden. Das macht Mut, denkt man an die zukünftigen Aufgaben der in Fläche und Bevölkerung beträchtlich erweiterten Union.

Die Freude nach Verkündung der Wahlbeteiligung kannte bei den meisten Spitzenpolitikern kaum Grenzen. Die magische 50% Marke der Wahlbeteiligung wurde quasi in letzter Minute überschritten. Und doch kann die verständliche Freude nicht ungeteilt sein. Denn die Volksabstimmung hat einmal mehr verdeutlicht, welch tiefer Riss die polnische Gesellschaft teilt. Obwohl die teure und wenig überzeugende Werbe-Kampagne in den Wochen zuvor genau diese Spaltung der Gesellschaft zu übertünchen versuchte, liegt das ungeschminkte Ergebnis nunmehr vor. Denn mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten ist nicht einverstanden mit dem Beitritt zur Union. So etwa argumentieren die politischen Gegner des Beitritts. Wären nämlich diejenigen, die an der Wahlurne den Beitritt zu den ausgehandelten Bedingungen mit der Neinstimme ablehnten, auch zu Hause geblieben - das Referendum wäre nicht gültig gewesen. Und umgekehrt: Hätten diejenigen mit Nein gestimmt, die nicht an die Wahlurne gegangen sind - der ausgehandelte Beitritt wäre abgelehnt worden. Indem kurz vor der Abstimmung unter den Forschungsinstituten unisono übertrieben hohe Beteiligungswerte gehandelt wurden, konnte den EU-kritischen Parteien wohl recht erfolgreich der Wind aus den Segeln genommen werden. Was sollte der eignen Anhängerschaft empfohlen werden?

Das Ergebnis ist also erfreulich, denn alles andere hätte das Land vor überflüssige Zerreisproben gestellt, hätte Kraftanstrengungen gebunden, die das Land für die Vorbereitung auf den Beitritt ohnehin so bitter nötig haben wird. Nur sollte die siegreiche politische Seite sich vor Illusionen hüten. Soziologen, so scheint es, haben wieder einmal den besseren Riecher (alles Äußerungen führender Soziologen aus der führenden Tageszeitung "Rzeczpospolita" vom 9. 6. 2003):

  • "Es gelang nicht, die große Mehrheit der Bauern, der Landbevölkerung und der kleinen Gewerbetreibenden zu überzeugen. Sie trauen der gegenwärtigen Regierungsmannschaft nicht mehr zu, sie sicher in die Europäische Union zu führen."

  • "Weder Medien noch Schule bilden in der heutigen jungen Generation ein Verantwortungsgefühl für das Land heraus. Die jungen Menschen sind für die Integration, übertragen das jedoch nicht in Pflichtgefühl gegenüber dem eigenen Land."

  • "Bereits am ersten Tag zeigte sich das zerteilte Polen. Jenes, welches an die Wahlurne ging, und jenes, welches zu Hause blieb. Jenes erste setzt sich vor allem zusammen aus Bewohnern der größeren Städte, aus aktiven und gebildeten Menschen. Doch ein großer Teil der Polen ist augenfällig in den Zustand gesellschaftlicher Depression gefallen. Armut, rückständige Erziehung, Missmut gegenüber den politischen Eliten - das sind nur einige Ursachen der Depression, der Unlust zum gesellschaftlichen Leben. Dieses andere Polen sind vor allem die Dörfer und Kleinstädte. Das ist ein ernstes gesellschaftliches und politisches Problem, mit dem sich in den kommenden Monaten zu befassen sein wird."