Auf dem Weltsozialforum von Porto Alegre vom 25. bis 30. Januar 2001 hat sich neuer Geist selbstbestimmten Lebens gegen die spätkapitalistischen globalen Ströme von Menschen, Geldern, Produkten und Dienstleistungen zu Wort gemeldet. Wobei die gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort Hoffnungen auf politische Mitbestimmung haben entstehen lassen, die sich andernorts so sicherlich noch nicht erfüllen lassen.
Damals war's, als es noch so feine linke Postillen gab wie TransAtlantik. Darin schrieb regelmäßig ein gewisser politischer Poet namens Hans Magnus Enzensberger seine polemischen Traktate. Zum Beispiel den frei schwebenden Intellektuellen alias linken Kleinbürgern, bevor sie auszogen, in der Dritten Welt ihr "Ganz Anderes" auszuleben, einen bitteren Abschiedsbrief. Schadenfreudig rief er denen hinterher, dass die Unterentwickelten jedenfalls nicht diejenigen seien, die ihr eigenes Projekt vom Menschen verfolgten: "So verlagerte sich die revolutionäre Hoffnung, die in den Industrieländern gescheitert ist, immer weiter in die Ferne, nach Rußland zuerst und nach Zentralasien, dann nach China und in die sogenannte Dritte Welt. ... (Aber) eine exotische Alternative zur industriellen Zivilisation existiert nicht mehr. Wir sind eingekreist und belagert von unseren Nachahmern." Ganz die Häme in Person empfahl der sonst so aufgeweckte Junge aus dem Schwäbischen denen, die auszogen, das Helfen zu lernen, sie sollten doch bitte bitte nur ein one way ticket lösen. Auf Nimmerwiedersehen sozusagen. Vor ziemlich genau zwanzig Jahren war's das gewesen.
Zehn Jahre drauf sah man sich dann doch nochmals wieder. Und erneut schrieb der Sarkast - diesmal im ihm ebenfalls nahestehenden Kursbuch - der Intelligenz Schadenfreudiges in die Stammrolle: "Der fliegende Teppich der Utopie wird denen, die sich häuslich auf ihm eingerichtet haben, unter den Füßen weggezogen." Und indem er sich ins ideologiefreie Fäustchen lachte ob der verstörten Ratlosigkeit, mit der konservative Politiker wie illusionäre Intellektuelle auf die Wenden von der Elbe bis zum Amur reagierten, belehrte Jeanlemagne beide Kader: "Wer glaubt, die Zukunft gepachtet zu haben, ist eher noch schlechter dran, als wer sich zum Hüter des Vorhandenen berufen glaubte. Der Illusion von der Beherrschbarkeit der gesellschaftlichen Sphäre waren beide verfallen. Doch die Verluste der linken Intelligenz fallen schwerer ins Gewicht; denn das Endgültige, das sie im Sinne hatte und das sich als bloßer Schein erweist, stand nicht unter dem Diktat der Realität, sondern unter dem Zeichen der Hoffnung." So sahen sie sich unversehens ins selbe Boot gesetzt - die Krenz und Kohl mit den Kluge und Kuczynski und den Wildwassern übergeben, die sich aus den Staubecken globaler Kapitalströme über die ganze Welt ergossen. Da sollten sie sehen, wo sie bleiben, wo doch endlich endlich Weltinnenpolitik für die neue Weltordnung angesagt wäre und die Sache des Sozialismus vom Tisch. Die Dmark als die Blume des bösen Anschlusses duftete (weil Geld ja nicht stinkt), der nunmehr ganz nahe Osten wurde flugs zur Transformation gerufen, und vom Ende der Geschichte trennt die Globalisierer der nunmehr einpoligen Welt nur noch ein allerletzter Kampf der "Kulturen" gegen Chinesen und Muslime. Wie gesagt, damals war's, als sich die Völker so ganz und gar revolutionär für diese hoffnungslose Realität entschieden hatten.
Und heute? Da haben ein paar Schikanen im Wildwasserkanal die Realisten doch wieder das Fürchten - und das staatlichen Gewaltmonopol das Knüppeln - gelehrt und den linken Oppositionen unerwarteten Handlungs-Spiel-Raum geschaffen. Die Slalomtore waren von Seattle über Millau, Nizza und Prag bis nach Porto Alegre gesteckt, so dass Le Monde diplomatique nun frohlockt: "Einige, die das Träumen nicht lassen können, werden die Welt daran erinnern, dass nicht allein die Wirtschaft global ist. Auch die Erfordernisse des Umweltschutzes, die schreiende soziale Ungleichheit und die bedrückende Lage der Menschenrechte sind weltweite Angelegenheiten. Es ist nun an den Bürgern dieses Planeten, diese Probleme endlich selbst in die Hand zu nehmen." Fragt sich nur, ob jenes Träumen auf dem Weltsozialforum und seit Porto Alegre auch andernorts den rigiden Ansprüchen zu entsprechen vermag, unter die Ernst Bloch einst die menschenfreundliche Utopie gegen den negativ besetzten Tagtraum gestellt hatte.
Was von Anfang bis Ende das Klima des Weltsozialforums im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul prägte: Die direkte Konfrontation mit dem Gegner fiel aus! Denn der tagte zur selben Zeit in Davos und ließ sich von Schweizer Polizisten und Soldaten abriegeln. So hatten die Tausende von Teilnehmer in ihren Hunderten von Arbeitsgruppen freien Raum zum unpolemischen Reden und wohlwollenden Zuhören. Und als die Gewerkschaft CUT zum Marsch durch die Stadt rief, geriet der Zug der Demonstranten weniger zu einer Manifestation politischer Programmatik als zu einer neugierigen und heiteren Aneignung der Hauptstadt des Bundesstaates. Die ja auch tatsächlich einiges zu vergeben hat; ist Porto Alegre doch der Ort, an dem seit zwölf Jahren der Lieb- und Leblosigkeit der repräsentativen Demokratie ein Modell der Teilhabe und -nahme entgegengesetzt wird, das vergessen läßt, dass Mißtrauen gegenüber den politischen Klassen und Politikmüdigkeit vor allem der Jüngeren weltweit die verkrusteten und verfilzten Strukturen der überkommenen Mehrparteiendemokratie austrocknen läßt. Hier ist die Alternative zum endzeitlichen Kapitalstaat und zum überzeitlichen Law-and-order-Staat gesellschaftliches Leben geworden, was die Menschen des Forums schnell ebenso sinnlich wie diskursiv mitbekamen. Denn sie gehören ja zu denen, welche die revolutionäre fraternité längst als Solidarität ausbuchstabieren und versuchen, diese als ein kooperatives Gemeinwesen für Menschen im Widerstand zu gestalten.
Trotzdem wäre es falsch anzunehmen, der Geist von Porto Alegre verdanke sich doch wieder nur dem Frust der Abendländer, die ihre von globalisierender Gleichmacherei bedrohte Differenz tagträumerisch oder gar traumatisiert auf die Folien des Südens projizieren. Sozusagen auf drei auf einen Streich: Auf ein Land, dessen Armutsschere sich immer schneller immer weiter öffnet; auf eine Partei, die sich als linkes Sammelbecken kritischer Bewegungen bewährt, weil sie ohne alternativen Fundamentalismus und ohne die Orthodoxie marxistischer Erkenntnistheorie auskommt; auf ein Modell bürgerlicher Selbstbestimmung und öffentlicher Mitbestimmung, das im besten Sinne der Zivilgesellschaft von zivilisierender Wirkung ist. Dieses Orçamento participativo - was soviel heißt wie Mitbestimmung über die Haushalte der Öffentlichen Hand - verwischt die gängige Unterscheidung von Zentrum und Peripherie und läßt die gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort auf dem Rücken solcher Berufspolitiker tanzen, die "Sachzwänge" vorschützen, wenn sie Transparenz fürchten.
Eduardo Galeano hat im Vorfeld des Forums ein paar Worte formuliert, die den Verdacht entkräften, der "Geist von Porto Alegre" sei nur das Wiederaufleben wohlmeinender Dritte-Welt-Fixierung. Im Gegenteil machte er den neuen Aufbruch an der verkehrten Welt fest, die insgesamt umzukehren sei: "Die Globalisierung reduziert den Internationalismus auf die Erniedrigung. ... Der Preis, der uns entwertet, definiert den Wert der Dinge, der Menschen und der Länder. Die Luxusobjekte machen die Subjekte neidisch, denen der Markt die Existenzberechtigung abspricht, in einer Welt, wo derjenige am meisten Respekt verdient, der die meisten Kreditkarten besitzt." Wie gesagt, der brasilianische Bundesstaat Rio Grande do Sul und seine Hauptstadt Porto Alegre sind noch viel weniger "Entwicklungsland", als es die dubiose Terminologie eines "Schwellenlandes" dingfest zu machen vermag. Denn man lebt dort Gleichzeitigkeit: Dichter an sozialen Verhältnissen, die nach solidarischem Wirtschaften verlangen; aber auch dichter an kommunalen Spielfeldern, auf denen sich erfolgreich eine volks-"tümliche" wie sach-"verständige" Kultur des Politischen tummelt.
Solche Gleichzeitigkeit läßt alle Versuche obsolet werden, weiterhin nach Welten zu zählen. Und insofern holte der Geist, der sich auf dem Forum artikulierte, endlich in der Praxis nach, was wir aus den Theorieräumen längst wissen: Wie es mit einer menschenverträglichen Welt weitergehen soll und kann, das wird geographisch grenzenlos (vor)gedacht. Wofür sie stehen - die Samir Amin und Bernard Cassen, die Edward Said und Peter Marcuse, die Mary Castro und Anuradha Mittal, die Luis Vitale und Christoph Spehr! - Sicher: Als das Forum zu Ende ging, machten auch die gewohnten flyer wieder die Runde "Resist corporate globalization". Man wird sich lautstark zurückmelden im September bei IWF und Weltbank in Washington, im November bei der WTO in Katar. Aber die corporate identity, die Porto Alegre geschaffen hat, wird sich woanders zeigen. Nämlich da, wo an den Zentren des Neoliberalismus vorbei listig Neuland besetzt wird von politischer Phantasie mit Zukunfts-Qualität, damit der Mensch "das tut, was er für richtig hält, anstatt das, was ihm am meisten nützt".