Antoni Mickiewicz ist Mitglied der Akademie für Landwirtschaft Szczecin(Vorliegende Thesen wurden auf der Basis einer im Rahmen des Projektes "Soziale und demokratische Gestaltung des Beitritts Polens zur Europäischen Union. Förderung des zivilgesellschaftlichen Dialogs" erstellten Expertise durch Holger Politt angefertigt.)
Aktuelle Umfragewerte in Polen bescheinigen der Protestbewegung "Samoobrona" um Andrzej Lepper starken Aufwind: um die 17% würde das Sammelbecken unzufriedener Landwirte derzeit bei Parlamentswahlen bekommen. Tendenz steigend! Damit hätten diese entschiedenen Gegner eines Beitritts zur EU mehr als doppelt so viele Stimmen wie die ebenfalls als Interessenvertreter der Landwirte agierende und jetzige Koalitionspartei PSL. Ein Blick hinter die Kulissen verrät, dass es für diesen unvermuteten Erfolg handfeste Gründe gibt. In diesem Zusammenhang sei auf eine Analyse verwiesen, die Antoni Mickiewicz (Szczecin) im Auftrag der Veit-Stoß-Stiftung unlängst vorgelegt hat. Einige Schwerpunkte in Thesenform (Zahlenangaben beziehen sich wenn nicht anders angegeben auf die Jahre 1998-2000):
- Der volkswirtschaftliche Stellenwert der Landwirtschaft in Polen ergibt sich einerseits aus dem vergleichsweise sehr hohen Anteil an Beschäftigten (19,1% aller Beschäftigten), andererseits aber auch aus dem relativ niedrigen Anteil am BIP (nur 4,8% am Gesamt-BIP). Aber während die Stadtbevölkerung von 8 Mio. EW im Jahre 1946 auf 23,0 Mio. EW im Jahre 2000 wuchs, blieb die ländliche Bevölkerung zahlenmäßig weitgehend konstant: 15,6 Mio. EW bzw. 14,7 Mio. EW. Diese Zahlen verweisen bereits auf das Hauptproblem der polnischen Landwirtschaft - die ausgeprägte und weit voran getriebene Parzellierung des Bodens und die daraus sich ergebende geringe Effektivität. In der Landwirtschaft Polens arbeiten 26 Personen auf 100 ha - die Landwirtschaft Belgiens benötigt lediglich 2,7 Personen bei deutlich höheren Hektarerträgen! Es gilt weithin als ausgemacht, dass im Zuge der Angleichung an das EU-Niveau Millionen Landwirte ihre wirtschaftliche Existenzberechtigung verlieren werden. Auch in Polen, so scheint es, hat man sich mit diesem Schicksal abgefunden. Das sei - so heißt es selbst in Kreisen der traditionellen Landwirte-Partei PSL - der bittere aber erforderliche Preis für den EU-Beitritt. Auch aus soziologischer Sicht bemüht man sich um eine gewisse Entwarnung.
- Die privaten Bauernwirtschaften lassen sich nach Betriebsgröße in drei große Gruppen einteilen. Zur ersten Gruppe (kleine Wirtschaften mit 1-5 ha) zählen 55,3% aller Wirtschaften, auf sie entfällt ein Anteil von 21,1% an der Gesamtagrarfläche. Zur zweiten Gruppe (mittelgroße Wirtschaften mit 5-10 ha) werden 25,5% der Wirtschaften mit einem Anteil von 25,8% an der Gesamtagrarfläche gerechnet. In die dritte Gruppe (große Wirtschaften mit über 10 ha) kommen 19,2% der Wirtschaften mit einem Anteil von 52,1% an der Gesamtagrarfläche. Die Diskrepanz zwischen der ersten und der dritten Gruppe ist augenscheinlich - der als notwendig erachtete Aderlass wird vor allem die erste Gruppe betreffen. Selbst innerhalb dieser Gruppe hat sich die strukturelle Situation gegenüber der Zeit vor 1989 außerordentlich verschärft: der Anteil der Wirtschaften mit einer Größe von nur 1-2 ha hat sich verdoppelt, d. h. ein Großteil dieser Betriebe produziert nur noch für den eigenen Bedarf und am Markt vorbei. Insgesamt gelten 56% aller Wirtschaften als nicht mehr entwicklungsfähig. Obwohl zu ihnen vereinzelt auch Wirtschaften aus der mittleren Gruppe gerechnet werden, ist also beinahe jede der sogenannten kleinen Wirtschaften vom baldigen wirtschaftlichen Ende bedroht. Trost kann da lediglich aus der Tatsache gezogen werden, dass der Anteil älterer, ohnehin bald aus dem Erwerbsleben ausscheidender Landwirte in dieser Gruppe überdurchschnittlich hoch ist.
- Kopfzerbrechen bereitet den Landwirtschaftsexperten und den verschiedenen Agrarpolitikern jedoch vor allem die zweite Gruppe, die notwendigerweise dem größten Anpassungsdruck ausgesetzt ist. Denn hier gibt es eine beängstigende Zunahme von Vorbehalten gegenüber den als notwendig erachteten Veränderungen. Es werden Wirtschaften mit und Wirtschaften ohne Entwicklungschancen unterschieden. Bei letzteren gibt es einen starken Hang, alles beim alten zu belassen. Getreu dem guten alten polnischen Sprichwort "Jakos to bedzie" ("Es wird schon irgendwie werden"), glauben allzu viele, die augenblickliche Phase der Veränderungen ungeschoren überstehen zu können. Doch wird im polnischen Fall davon ausgegangen, dass erst ab einer Betriebsgröße von mindestens 7 ha berechtigte Chancen auf Marktfähigkeit bestehen (das wären im Augenblick 44% aller Wirtschaften). Erfreulich ist, dass vor allem jüngere Landwirte in dieser Gruppe Bereitschaft signalisieren, ihre Wirtschaften entsprechend den Marktanforderungen umzustrukturieren. Etwa 15% der Wirtschaften aus dieser zweiten Gruppe werden zudem nach neuen, nichtlandwirtschaftlichen Einnahmequellen suchen bzw. suchen müssen (u.a. Ökotourismus). Hier bedarf es jedoch gezielter Förderprogramme und Instrumentarien, damit dieser Prozess behutsam und sinnvoll begleitet werden kann.
- Territorial wird Polens Landwirtschaft in drei große Regionen eingeteilt. In der West- und Nordregion kommen die Wirtschaften je nach Gebiet auf eine durchschnittliche Betriebsgröße von 10 bis14 ha. Hier gibt es folglich die höchste Bodenkonzentration. Je nach Gebiet werden zwischen 64 und 84% der Ackerfläche von Wirtschaften mit über 10 ha Betriebsgröße bewirtschaftet. In Mittel- und Ostpolen dominieren mittelgroße Wirtschaften, denn 40% aller Wirtschaften haben dort eine Betriebsgröße zwischen 5 und 10 ha. In Südpolen gibt es die ausgeprägteste Zersplitterung des Bodens, da 75% aller Wirtschaften über eine Betriebsgröße von weniger als 5 ha verfügen. Die durchschnittliche Betriebsgröße beträgt für das gesamte Gebiet nicht einmal 4 ha. Die Anzahl der großen Wirtschaften ist äußerst gering, sie beträgt je nach Gebiet 2 bis 8%.
- Polen besitzt etwa die gleiche landwirtschaftliche Nutzfläche (18,5 Mio. ha) wie Deutschland (17,2 Mio. ha) oder Italien (17,2 Mio.). Über mehr Fläche verfügen lediglich Frankreich (30,6 Mio. ha) und Spanien (29,7 Mio. ha). Auffallend ist der überdurchschnittlich hohe Anteil von Ackerfläche (Polen 77%, EU-Durchschnitt 52,6%). Allerdings ist die Qualität der Böden schlechter als anderswo (hoher Anteil leichter Böden). Neben der Flächen-Zersplitterung trägt dieser Faktor wesentlich zu den vergleichsweise niedrigen Hektarerträgen bei. Selbst im Kartoffelanbau, bei dem Polen nach absoluten Produktionszahlen zu den wichtigsten Weltproduzenten gezählt wird, bleiben die Hektarerträge etwa im Vergleich zum benachbarten Deutschland oder gar Dänemark deutlich zurück (Polen 200 dt/ha, Deutschland 350 dt/ha, Dänemark 429 dt/ha).
- Im Zuge der ökonomischen Transformation in den 1990er Jahren spürte das Gros der Landbevölkerung die immer schneller sich vollziehende Abkehr vom so genannten paritätischen Einkommensniveau, wie es Ende der 1980er Jahre tatsächlich erreicht worden war. Damit begann die Schere zwischen den Einkommen in den Städten und auf dem Lande wieder deutlich zu wachsen. Forderungen der Landbevölkerung, das paritätische Einkommensniveau als Ziel festzuschreiben, werden im öffentlichen Meinungsbild tendenziell als populistische und "marktferne" Forderungen heruntergestuft. Der PSL ist es nicht gelungen, das Problem wirkungsvoll in die öffentliche Meinungsbildung einzuführen. Dafür gibt es eine andere Zahl, die in ihrer Dimension nicht zu unterschätzen ist: Theoretisch kann heute eigentlich erst ab einer minimalen Betriebsgröße von 20 ha ein paritätisches Einkommen erzielt werden. Das beträfe also weniger als 5% aller polnischen Betriebe. So verwundert es nicht, dass die "Samoobrona"-Aktivisten um Lepper sich durchaus mit Erfolg anschicken, die PSL als bisher weitgehend unangefochten agierenden politischen Interessenvertreter der Landbevölkerung zu beerben. Deren Appelle an die Bauern sind einfach und schlicht, gerade deshalb so wirkungsvoll: Ihr seid vom politischen Establishment - zu dem auch die PSL gehöre - im Stich gelassen worden! Was die politische Klasse Polens sich bisher nicht trauen konnte, werde die hinter rechtsstaatlichen Regeln und Marktgesetzen sich versteckende Brüsseler EU-Bürokratie vollziehen. Wehrt euch gegen die Pläne zur Vernichtung der polnischen Landwirtschaft!
- Wenn knapp 20% aller Beschäftigten Polens in der Landwirtschaft zu Hause sind, davon mindestens 50% eine wirtschaftliche Überlebenschance nicht attestiert bekommen, insgesamt der dörfliche Bereich als eigentlicher großer Verlierer der Transformation sich zunehmend begreift, dann verwundert es nicht, dass eine politische Gruppierung wie die "Samoobrona", die kaum Botschaften für städtische Kreise aussendet, urplötzlich auf über 15% Wählerpräferenz kommt und der PSL spürbar das Wasser abgräbt. Damit verliert der Koalitionspartner der SLD deutlich an Rückhalt, was die ohnehin nicht einfache Situation der Koalition weiter erschweren dürfte.
Für weitere Informationen zum Projekt und Thema: Dr. Holger Politt
e-mail: politt@rosaluxemburgstiftung.de