Publikation Globalisierung So viel Demokratie war noch nie

Beitrag für das Seminar auf dem Europäischen Sozialforum. von Michael Brie

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Michael Brie,

Erschienen

November 2003

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Nur online verfügbar

Beitrag für das Seminar auf dem Europäischen Sozialforum

Die Veranstalter dieses Seminars haben eine Suchanzeige aufgegeben: "Democracy wanted!" Ist die Demokratie auf der Flucht oder haben wir sie einfach verloren? Ist sie ein Liebhaber, der das Weite gesucht hat, oder eine Geldkarte? Und wozu sollten wir um sie trauern und sie suchen?

Vor allem aber: Es gibt doch so viel Demokratie, wie überhaupt noch nie! Wir haben geradezu ein Überangebot an Demokratie. Das ist wie ein Sommerschlussverkauf. Niemals gab es so viele demokratische Staaten auf der Erde wie jetzt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Niemals wurde so viel und oft gewählt. Niemals haben so viele Demokraten mit so vielen demokratischen Unternehmern und noch demokratischeren NGO's zusammen die Welt ganz demokratisch regiert. Im Sicherheitsrat, IWF, Weltbank, NATO, Pentagon und CIA - überall nur Demokraten.

Wenn also jemand Demokratie verloren hat oder sie ihm wegrannte, so kann er sich doch einfach jene nehmen, die überall herumliegt. Mehr noch: Eine Koalition von Willigen wurde gerade zusammen getrommelt und hat die Demokratie nach Afghanistan sowie in den Irak getragen. Die Frauen wurden gleich mit demokratisiert. Wer keine Demokratie hat oder sie verlor, bekommt sie heute also sogar mit Gewalt aufgezwungen. Wehe dem, der kein Demokrat ist. Er lebt gefährlich! Er steht fast schon auf der internationalen Fahndungsliste. Suchen die Veranstalter vielleicht deshalb so verzweifelt nach Demokratie, damit sie nicht nach Guantanamo zur demokratischen Umerziehung kommen?

Wenn die Demokratie überall herumliegt, wieso bücken wir uns nicht und heben sie auf? Wieso suchen wir sie, wo sie uns doch an jeder Ecke aufgedrängt wird? Diese Demokratie, die im Überfluss da ist, scheint wie Falschgeld zu sein, das keiner so richtig will. Und dafür gibt es Gründe. Denn von dieser Demokratie kann man sagen: Sie ist ein Anti-Robin-Hood. macht die Reichen reicher und die Armen ärmer. Sie nimmt das öffentliche Eigentum des Volkes und gibt es den multinationalen Konzernen. Sie verwandelt Wissen, genetische Ressourcen, Bildung und Gesundheit in Privateigentum. Sie zerstört die sozialen Gegengewichte des Kapitals und stärkt die Macht der Großkonzerne. Es ist eine Demokratie, die ohne Verschweigen, Lüge und Betrug nicht leben kann. Die Begründung des Krieges gegen den Irak war nur ein Beispiel.

Diese Demokratie, die so billig zu haben ist, ist eine Demokratie, die die Entscheidungen einer Oligarchie trifft. Und wo sich Widerstand regt, da wird sie zur Tyrannis mit Polizei und Militär. Fast eintausend Milliarden Dollar werden jährlich für Rüstung ausgeben, vierzig Prozent davon durch die USA. Und fragt man nach jeder neuen demokratischen Wahl zaghaft an, ob nicht endlich einmal anders entschieden werden könne als bisher, etwas sozialer und gerechter, so verweist man uns auf den eigentlichen Souverän: Die Wirtschaft. So stupid: It's not about democracy, it's about capitalist economy!

Wieso suchen wir dann aber nach Demokratie? Was haben wir denn verloren? Wir haben verloren, was wir niemals wirklich hatten. Wir haben das große Versprechen der Demokratie auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verloren! Wieso denn haben sich die Kapitalisten nach 1789 so lange dem allgemeinen Wahlrecht und den demokratischen Grundrechten widersetzt? Sie wussten, dass diese politischen Rechte ohne soziale Grundrechte nicht bestehen können. Armut und Demokratie passen nicht zusammen, wie schon die alten Griechen wussten. Die erste große Arbeiterbewegung, die Chartisten, forderten deshalb beides: Wahlrecht und Achtstundentag. Es bedurfte großer Revolutionen und Massenbewegungen, um gemeinsam mit dem Aufbau eines Sozialstaats auch die elementaren politischen Rechte des Volkes durchzusetzen.

Heute nun scheinen die Herrschenden zur Erkenntnis gekommen sein, dass man auf die sozialen Rechte doch verzichten kann. Sie sehen sich so fest im Sattel, dass sie eine neue große Welle der Enteignung eingeleitet haben: Sie nehmen uns die sozialen Rechte, das öffentliche Eigentum, die Fähigkeit zur Bildung demokratischer Gegenmächte, und sie haben uns über ihre Kontrolle der Medien weitgehend die demokratische Öffentlichkeit genommen. Weil die Herrschenden sich und uns sagen können "There is no Alternative!", sind sie sehr billig zu Demokraten geworden: Wo es zu ihrer Herrschaft keine Alternative gibt, kann man ganz frei wählen - es gibt ja keine Wahl, wer auch immer gewählt wird.

Wie zu Zeiten des antiken Roms beim Übergang von der Republik zum Kaiserreich so auch heute: Die formalen Institutionen bleiben, aber die realen Machtverhältnisse werden radikal verändert. Der Neoliberalismus ist eine Bewegung der Enteignung des Volkes und der Reduktion von Demokratie auf die Wahl zwischen verschiedenen Statthaltern der Kapitalinteressen. Sie unterscheiden sich nicht im Charakter, sondern nur im Maß der Rücksichtnahme auf den sozialen Frieden.

Was wir heute immer mehr bekommen, ist kapitalistische Diktatur in demokratischer Form. Was wir aber suchen, ist eine soziale Demokratie. Denn eine Herrschaft des Volkes ist nur denkbar, wenn die Bürgerinnen und Bürger frei sind vom Zwang, sich verkaufen zu müssen. Nur der kann politisch frei entscheiden, der sozial frei ist. Der Kampf für die Demokratisierung der Demokratie ist deshalb vor allem ein Kampf für soziale Grundrechte. Nur dann, wenn Menschen über die Grundgüter eines freien Lebens, über das Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheitsvorsorge, Rente, Umwelt verfügen, werden sie auch zu freien Bürgern einer wirklichen Demokratie. Wer uns diese Grundgüter der Freiheit wegnimmt, tastet unsere Würde an. Demokratie ist nicht billig zu haben - sie verlangt, dass jeder und jede über diese Grundgüter frei und gleich verfügen kann.

Damit ist aber auch klar: Soziale Demokratie hat keinen Bestand, wenn die Wirtschaft und die Gesellschaft durch den Profit dominiert werden. Politische Menschenrechte haben keine Bestand, wenn nicht endlich die sozialen Menschenrechte eingelöst werden. Dazu gehört vor allem auch das Recht auf Arbeit. Der heutige Rollback wurde möglich, weil der Schritt zu einer Wirtschaftsdemokratie niemals eingeschlagen wurde oder aber wie in Chile mit Hilfe der USA militärisch unterdrückt wurde.

Politische Demokratie gibt es nicht ohne soziale Demokratie. Und soziale Demokratie ist - so haben wir erfahren - unmöglich ohne Wirtschaftsdemokratie. Und Wirtschaftsdemokratie verlangt, dass das Volk über die Grundrichtung der Wirtschaft entscheidet. So stupid: It's about socializing the economy. Deshalb stehen meines Erachtens vor allem drei Aufgaben, wenn wir die so viel gesuchte Demokratie finden wollen:

Erstens: Die Demokratie, die wir suchen, ist unmöglich, wenn in der Gesellschaft Profit und kapitalistisches Eigentum herrschen. Die erste Demokratie der Welt, die Demokratie von Athen, wäre ohne das öffentliche Eigentum an den Silberminen von Laureion nicht denkbar gewesen. Demokratie braucht ökonomische und soziale Gewaltenteilung. Soziale und ökologische Interessen sind ohnmächtig, wenn sie sich nicht auf eigene ökonomische Macht gründen. Ohne starkes staatliches und kommunales Eigentum vor allem in jenen Bereichen, wo die wichtigsten öffentlichen Güter bereitgestellt werden müssen, gibt es keine soziale Demokratie. Die öffentliche Daseinsvorsorge muss öffentlich bleiben. Mit der biogenetischen Revolution, dem Übergang zur Informationsgesellschaft bedarf es auch neuer öffentlicher Sektoren und neuen öffentlichen Eigentums.

Zweitens: Die Demokratie, die wir suchen, braucht starke öffentliche Haushalte. Demokratie ist vor allem Entscheidung über Haushalte. Athens Demokratie war es, die die Sozialpflichtigkeit des großen Eigentums einführte. Die Reichen sind gegenwärtig auf der Flucht. Sie fliehen vor Steuern und damit vor ihren demokratischen Pflichten. Deshalb sind heute die öffentlichen Haushalte Geisel der Kapitalinteressen. Ein armer Staat aber ist ein ohnmächtiger Staat. Er liefert uns alle dem Kapital aus. Die Verarmung der öffentlichen Haushalte ist bewusste Zerstörung der Demokratie. Ohne Kapitalkontrolle, ohne Umverteilung von oben nach unten, ohne Sicherung der Steuergrundlagen der Demokratie wird sie erpressbar. Selbst linke Regierungen bleiben dann gegen ihren Willen Erfüllungsgehilfen des Kapitals.

Drittens: Die Demokratie, die wir suchen, braucht demokratische Kontrolle über die Grundentscheidungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Sie ist nicht als elitäre Herrschaft möglich. Demokratie bedarf der direkten Partizipation der Bürgerinnen und Bürger über Haushaltsentscheidungen, über Verfassungen, über die Durchsetzung von Grundrechten. Sie braucht demokratische Wirtschaftsregulierung und sie braucht einen kürzeren Arbeitstag, damit wir endlich Zeit haben, uns um unsere eigenen Angelegenheiten auch selbst kümmern zu können.

Demokratie ist deshalb heute so billig zu haben, weil sie zur Fassade geworden ist für eine neoliberale Herrschaft. Was wir brauchen, ist eine andere Demokratie als Teil einer anderen Welt: Gesucht wird eine partizipative Demokratie, die auf sozialer und wirtschaftlicher Demokratie basiert. Diese aber ist nicht zu finden: Sie muss erst noch geschaffen werden! Und in Momenten wie diesen können wir spüren, dass sie möglich ist."Für ein anderes Europa - in einer anderen Welt"

Zweites Europäisches Sozialforum in Paris/St. Denis 2003