Text der Woche 48/2002
Wirklichkeit und Anspruch nach der Wahl Lulas zum Präsidenten
Brasilien hat gewählt und mit mehr als 61% aller Stimmberechtigten Luiz Inacio Lula da Silva, den ehemaligen Metallarbeiter, Gewerkschaftsführer und Begründer der Partei der Werktätigen (PT) zum neuen Präsidenten Brasiliens gemacht. Seine Wahl in der zweiten Runde wurde möglich, weil sie von einer breiten Koalition unterschiedlicher Parteien getragen wurde. Die Auseinandersetzung mit dem Kandidaten der Regierung, Jose Serra, wurde entschieden, weil die große Mehrheit des brasilianischen Volkes eine Wende in Politik und Wirtschaft will. In seinem vierten Anlauf erreichte Lula ein Ergebnis, das für ihn und die PT (Partei der Werktätigen), bisher unerreichbar war.
Die PT ist eine junge politische Kraft in der neuen Geschichte des Landes. Der Unterschied zu anderen Arbeiterparteien kann darin bestehen, dass sie als Partei des Volkes eine Partei der Armen, Marginalisierten und Sozialbenachteiligten bleibt. Zu Beginn des XXI. Jahrhunderts ist das ein bemerkenswerter Vorgang. Es wird keine Revolution sein, die eingeleitet wird. Es kann eine langwierige und schwierige Veränderung sein, die durch das Volk, von unten kommend, bestimmt wird.
Die PT und Präsident Lula übernehmen ein schweres Erbe. Das von den Vorgängerregierungen realisierte Entwicklungsmodell der Marktregulierung, der Privatisierungen und Währungspolitik im neoliberalen Sinne ist gescheitert. Gescheitert ist das von Fernando Henrique Cardoso bevorzugte konservative Entwicklungsmodell und unter dem Druck der Auslandsverschuldung wurde im Rahmen der Globalisierung und der technologischen Revolution das nationale Entwicklungsmodell begraben. Der Staat mutierte zum bloßen Erfüllungsgehilfen des internationalen Kapitals. Moderner Liberalismus in Gestalt einer orthodoxen monetaristischen Politik, ausgerichtet auf die unbedingte Einhaltung eines fiskalischen Gleichgewichtes, missachtete in seinem Kern soziale Komponenten, sodass die Schere zwischen Arm und Reich sich stark vergrößerte und die erhöhte Einkommenskonzentration einer zunehmenden sozialen Ausgrenzung breiter Schichten gegenübersteht. Detaillierte Untersuchungen, auch internationaler Organisationen, belegen, dass mehr als 44 Millionen Menschen am Rande des Existenzminimums leben. Die Politik der Regulierung durch den Markt marginalisierte breite Kreise der brasilianischen Bevölkerung, von der auch die Mittelschichten betroffen sind.
Die Privatisierung der Aktiva des Landes und die hohe innere und äußere Verschuldung Brasiliens haben dazu geführt, dass die Kontrolle über die Wirtschaft des Landes an den Markt und das Finanzkapital abgegeben wurde. Die vom IWF diktierte Strukturanpassungspolitik verfolgt vorrangig die Begleichung der Staatsverschuldung und damit die Minimierung der Ausgaben für wesentliche Wirtschaftszweige, vor allem aber der Kürzung der Ausgaben für soziale Zwecke. Der Schuldendienst und die Amortisierung der vom IWF und anderen Finanzinstitutionen gewährten Kredite machte im Jahr 2000 mehr als die Hälfte der Ausgaben des Staatshaushaltes aus. (Im Zeitraum der Regierung Cardoso wurden ca. 200 Mrd. $ an Gewinnen etc. ins Ausland transferiert). Die Ausgaben für das Gesundheits- und Erziehungswesen wurden dagegen drastisch reduziert. Die in Lateinamerika grassierende Krise, die Argentinien, Uruguay und andere Länder erfasste, kann sich jeden Moment auch in Brasilien verschärfen. Wie Argentinien kann Brasilien im Handumdrehen vor der Zahlungsunfaehigkeit stehen und muss den Bankrott seiner Staatsfinanzen erklären. Sowohl die Entwicklung in Lateinamerika als auch die internationale Instabilität sind für die neue Regierung eine wesentliche Herausforderung.
Brasilien braucht eine Wende hin zu einem tragfähigen Entwicklungsmodell, das ein Gleichgewicht zwischen Politik, Wirtschaft und Sozialem garantiert und die einseitige Dominanz der Wirtschaft beseitig. Das Streben der Zivilgesellschaft Brasiliens nach demokratischer Partizipation und sozialer Demokratie erfordert deren Umsetzung in die Sprache demokratischer Politik. Es muss der Versuch unternommen werden, den angeblich fatalistischen Konformismus zu brechen, der Grundrechte der Bevölkerung missachtet und ethische und moralische Werte verkommen lässt. Im gleichen Sinne ist ein Bruch mit der Klientelpolitik erforderlich, die in einem System existiert, in dem der Austausch von Gefälligkeiten vorherrschend ist und das von der bisher regierenden Koalition zentralistisch gesteuert wurde.
Eine wirkliche Umwandlung bedeutet seitens einer demokratischen und volksverbundenen Regierung den Bruch mit dem gegenwärtigen Entwicklungsmodell und den Versuch der Durchführung eines alternativen Projektes, das in seinen Grundzügen schon in den 60er Jahren von Celso Furtado (1) erarbeitet wurde und bisher nie staatliche Macht errang. Im Zentrum eines solchen Projektes stehen folgende Fragen:
- Verminderung der äußeren Abhängigkeit des Landes,
- Streben nach nationaler Autonomie,
- Wesentliche Ausrichtung auf die Lösung sozialer Fragen und ihre nachhaltige Sicherung durch eine Umverteilung von Einkommen,
- die Schaffung von Arbeitsplätzen,
- auf der Grundlage der sozialen Integration die Schaffung dauerhafter Bedingungen für die Demokratisierung des Staates und der Politik.
Verfolgt wird das Ziel, soziale Fragen mit der Demokratie und der Stärkung der nationalen Unabhängigkeit zu verbinden. In der Geschichte Brasiliens beruhte die Herrschaft der Eliten auf der Abhängigkeit vom Ausland, sodass die Entwicklung der Demokratie in direkter Weise mit dem nationalen Faktor verbunden ist. Die Lösung der sozialen Probleme ist ohne die Sicherung der nationalen Unabhängigkeit jedoch nicht zu erreichen. Das kann nach Ansicht führender Politiker der PT nur mit Hilfe eines starken Staates geschehen, der dafür sorgt, dass die Realisierung einer nationalen Wirtschaftspolitik mit der gleichberechtigten Eingliederung Brasiliens in die globalisierte Welt verbunden ist. Es wird eine Politik erforderlich sein, die die Verwirklichung eines alternativen Entwicklungsmodells ermöglicht, das die Abhängigkeit vom Ausland bedeutend reduziert. Diese Fragen berühren sowohl die von den USA angestrebte Schaffung der Amerikanischen Freihandelszone (ALCA) wie auch Regulierungsmaßnahmen zur Tätigkeit transnationaler Unternehmen und des Finanzmarktes. Die ALCA wird in Brasilien als Projekt betrachtet, dass darauf abzielt, die Vorherrschaft des Marktes und des internationalen Kapitals zu erreichen. Auf der Tagesordnung stehen die brasilianischen strategischen Interessen, die Sicherung der eigenen Unabhängigkeit und die Zukunft der brasilianischen Nation. Die Herstellung gleichberechtigter Beziehungen - auch zu den USA - und die Entwicklung einer multilateralen Außenpolitik werden Grundpfeiler darstellen, um das angestrebte Entwicklungsmodell realisieren zu können.
Bisherige Reaktionen aus Washington lassen darauf schließen, dass die Bush-Administration abwartet. Die Einladung Lulas Anfang Dezember in die USA ist Ausdruck dafür, dass mit diesem großen und wichtigen Land nicht gespielt werden kann. Unbekannt sind bisher von der alten brasilianischen Regierung getroffene Vereinbarungen mit dem IWF, der im August des Jahres Brasilien 30 Mrd. $ zur Verfügung stellte. Realistisch ist, davon auszugehen, dass es wesentliche Einschränkungen für von der PT angestrebte Veränderungen geben kann. Ein grundlegender Wandel in der politischen Orientierung der Politik ist deshalb vorerst nicht zu erwarten.
Angesichts der Kompliziertheit der internationalen Lage und der bedrohlichen Aussicht eines bevorstehenden Krieges kann Brasilien eine wesentlich größere Rolle spielen. Eine im Sinne der Stärkung des UN-Sicherheitsrates geführte und auf Veränderungen des multilateralen Systems gerichtete aktive Außenpolitik wird international Anerkennung und Unterstützung finden. Auch der großen "schweigenden Mehrheit" der Länder der Dritten Welt könnte Brasilien neues Gewicht und Stimme verleihen, ohne dass es zu einer vertieften Konfrontation mit den industriell entwickelten Ländern kommen muss: Eine Politik zu entwickeln, die nicht polarisiert und Feindschaften pflegt, sondern deutlich macht, dass Interessen, zwischen denen, die heute gewinnen, und denen, die heute verlieren, die nahe Zukunft aller bestimmen werden.
Vor allem in Lateinamerika kann die Wahl Lulas mitnehmende Effekte auslösen. Entwicklungen in einigen Andenländern wie Ecuador und Bolivien, die sich auf soziale Bewegungen stützen, werden positiv beeinflusst. Argentinien, das im ersten Halbjahr 2003 wählen wird, wird nicht unbeeinflusst bleiben. Das eröffnet Möglichkeiten, den lateinamerikanischen Markt, bes. den MERCOSUR, zu beleben und zu einem Instrument der Integration des Kontinents zu machen. Möglich erscheint auch eine vermittelnde und ausgleichende Rolle Brasilien im kolumbianischen Konflikt und in Venezuela.
Die Aufmerksamkeit der brasilianischen Öffentlichkeit richtet sich in diesen Tagen auf die Frage nach den Möglichkeiten, die die Regierung Lula haben wird, diese Herausforderungen anzunehmen. Der Wahlsieg der PT und Lulas wurde errungen, weil es möglich war, sowohl die eigene Mitgliedschaft, die sozialen Bewegungen und die Zivilgesellschaft zu mobilisieren als auch bis hinein in Kreise des Mittelstandes und eines Teiles der Elite Brasiliens Unterstützung zu finden. Gewandelt hat sich auch in der Gesellschaft das Gesicht der PT. Sie wird angenommen als politische Kraft, die - im Gegensatz zu den alten Eliten - gegen Korruption und Klientelismus eintritt. An Einfluss verloren haben Caudilho-Figuren und Mediengruppen wie das "Globo"-Imperium. Mehr als zehn Jahre hat die PT in Rio Grande do Sul und Porto Alegre ein Projekt der demokratischen Partizipation entwickelt, das begonnen wurde, auch in anderen Bundesstaaten und Kommunen anzuwenden. Es sind Strukturen entstanden, die das PT-Projekt über einen längeren Zeitraum hinweg konsolidiert und befördert haben. Die in der brasilianischen Gesellschaft von unten aufgebauten demokratischen Strukturen stellen eine wesentliche Grundlage für den Wahlerfolg der PT dar. Sie sind schwer umkehrbar und politisch bedeutsam.
Mit den ersten Erklärungen nach der Wahl, mit denen Lula an die Öffentlichkeit trat, wird deutlich, dass sich die neue Regierung gewillt ist, in Ruhe die Regierungsübernahme vorzubereiten. Die Forderungen nach umgehender Ernennung von wichtigen Wirtschaftsministern, einschließlich des Präsidenten der Zentralbank, hat Lula bisher mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass er sich von den Märkten nicht unter Druck setzen lässt. Zum vorrangigen Ziel erklärte Lula die Bekämpfung des Hungers und der Armut, die verbunden sind mit einer zunehmenden sozialen Verunsicherung, der Brutalisierung des oeffentlichen Lebens und zunehmender Kriminalität.
Die Wochen nach der Wahl unterstreichen, dass die PT Kurs auf die Schaffung einer breiten Koalition politischer Kräfte nimmt. Diese Koalition kann entstehen und erfolgreich sein, wenn unterschiedliche politische Interessen auf das Ziel, der Bekämpfung des Hungers und der Armut konzentriert werden können. Im Rahmen des "Sozialpaktes", der die Schaffung eines "Rates zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung" ermöglichen soll, will die PT ihr vor der Wahl erarbeitetes Programm "Fome Zero" ("Keinen Hunger mehr") verwirklichen. Die Aussichten, dieses Ziel mit breiter nationaler Unterstützung zu realisieren, sind durchaus erfolgversprechend. Hunger und Armut bedrohen nicht nur die davon betroffenen Menschen sondern die gesamte Gesellschaft.
Wesentliche Unterstützer der Regierung Lula sind und bleiben die politischen Kräfte der bisherigen Opposition und die sozialen Bewegungen. Die Landlosenbewegung (MST) erklärte, dass sie weiterhin alles tun wird, um die demokratische Wende zu erreichen und die neue Regierung bei der Durchsetzung einer demokratischen Landreform zu unterstützen. Selbst werde sie sich im Interesse des Erhalts ihrer Unabhängigkeit aber nicht in den Dienst der neuen Regierung stellen. Schon jetzt wird deutlich, dass das bevorstehende 3. Weltsozialforum in Porto Alegre im Januar 2003 eine große Manifestation der Solidarität mit der PT-Regierung werden wird. Die Wahlen in Brasilien stellen eine historische Chance dar, neue Räume für neue soziale Kräfte zu eröffnen. Von der Stärkung der demokratischen Kräfte in und außerhalb Brasiliens wird es abhängen, wie den kommenden Herausforderungen begegnet werden kann.
Nicht wenige Kommentatoren meinen, dass die PT ihr ärgster Feind sein kann. Die PT wurde im Jahre 1980 gegründet. Ihre Basis hatte sie in den sozialen Kämpfen und Protestbewegungen gegen die Militärdiktatur, den Streiks der Gewerkschaften im Großraum Sao Paulo, in den Basisgruppen der kirchlichen Gemeinden und im Widerstand, den linke Gruppen und intellektuelle Kreise organisierten. Ihr erklärtes Ziel war es, für mehr Rechte der arbeitenden Menschen einzutreten und demokratische Verhältnisse zu schaffen. Sie erklärte sich als Partei des demokratischen Sozialismus und versteht sich als neue Linke, die mit alten Doktrinen und ideologischen Vorurteilen brach. Von Beginn an war sie eine aus heterogenen Kräften und Gruppen zusammengesetzte Partei, die mit dieser Unterschiedlichkeit leben wollten und sich als demokratisch organisierte Partei entwickelte. Das Zusammenwirken unterschiedlicher Strömungen ist Ergebnis einer innerparteilichen Demokratie, die bewusst gestaltet wurde und die jeder das Recht auf proportionale Vertretung in den leitenden Gremien der Partei einräumt.
Mit dem Wahlsieg Lulas, der der Erfolg der gesamten Partei ist, werden nun in der PT durchaus unterschiedliche Hoffnungen verbunden. Radikaler eingestellte Kräfte hoffen auf schnelle Veränderungen, andere wollen einen gemäßigten Weg, der keineswegs eine Abkehr von den erklärten Zielen darstellen soll. Es bleibt zu hoffen, dass die Partei diese Probe bestehen wird und ihre Einheit beibehält.
Die PT ist in den Jahren des Kampfes um eine demokratische Veränderung gewachsen. Im Sinne ihrer eigenen Genese hat sie ihren Kampf um Demokratie und Menschenrechte immer mit dem Kampf breiter Schichten des Volkes verbunden. Es ist nicht zu erwarten, dass die von ihr und anderen politischen Kräften angestrebte Wende sich von heute auf morgen realisieren lässt. Auch Auffassungen, die heute schon die Partei als "PT-light" einstufen, gehen an der Realität vorbei. Sie ignorieren die schwierigen Umstände und Bedingungen auf die die PT und Lula treffen werden.
Es wird ein schwieriger Weg sein, der zurückgelegt werden muss. Er wird Geduld und Geschick erfordern. Brasilien ist jedoch kein Land, was sich erpressen lassen wird. Die entscheidende Stunde wird das Wahljahr 2006 sein. Entscheiden die Wähler für die PT, kann eine neue Etappe einer umfassenden Veränderung im Sinne des Programms der PT eingeleitet werden.
(1) Celso Furtado, brasilianischer Wirtschaftspolitiker, geb. 1920, gilt als "Vater" eines nationalen wirtschaftlichen Entwicklungsprojektes, das zusammen mit der Industrialisierung des Landes die Demokratisierung der Agrarfrage, der Staatseinnahmen des Reichtums, des Bildungs- und politischen Systems beinhaltet.
Berlin, im November 2002