Publikation Deutsche / Europäische Geschichte - Geschichte Die friedliche Revolution und die Modrow-Regierung

Beitrag von Gabriele Lindner zum RLS-Symposium «20 Jahre nach der Modrow-Regierung» (17.11.2009, Berlin).

Information

Reihe

Buch/ Broschur

Autor

Gabriele Lindner,

Erschienen

November 2009

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Die „friedliche Revolution“ wird als sich selbst erklärender politischer Begriff gebraucht. Doch solche selbstverständlichen Begriffe bergen nicht selten die Gefahr mit höchst unterschiedlichen konkreten Vorstellungen verbunden zu werden. Im Dienst aktuellen politischen Kalküls sind sie für das Verständnis komplexer historischer Vorgänge nicht hilfreich, s. Grundtenor der gerade abgelaufenen Feierlichkeiten.

Es lohnt sich also durchaus nachzufragen, welche Abläufe und Sachverhalte zur vollendeten Revolution, verstanden als radikaler Umgestaltung aller politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, und kulturellen Verhältnisse, und ihrem friedlichen Verlauf beigetragen haben.

Wenn wir die Leninsche Definition  einer revolutionären Situation in Alltagssprache übertragen: „Die unten wollen nicht mehr und die oben können nicht mehr“, dann hatte sich die Lage in der DDR im Herbst 1989 zu einer solchen revolutionären Situation zugespitzt. Es stellt sich allerdings sofort die Frage, wie sich das Oben und Unten voneinander abgrenzen lassen.

Der polnische Marxist Adam Schaff hat bereits 1982 unter dem Titel  „Die kommunistische Bewegung am Scheideweg“  die Effekte des  politischen Systems, also auch in der DDR, mit kritischer Schärfe analysiert. Er hat die quasi zwangsläufige Gegenwehr in der Gesamtheit von Gesellschaft in den sozialistischen Länder, einschließlich innerhalb ihrer führenden Parteien, beschrieben als Gefahr für eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Er arbeitete heraus, dass deren aktuelle Wesenszüge im Widerspruch zu den ursprünglich beabsichtigten stünden, wobei ihre „äußeren Embleme“ und „die alte ideologische Phraseologie“ erhalten blieben. Adam Schaff befürchtete als Ergebnis ein „Verschlingen der Revolution durch die Massen“.  Denn für ihn war die sozialistische Revolution eine humanistische Alternative zur kapitalistischen Ordnung, für die er in den sozialistischen Ländern noch immer die Voraussetzungen sah. Seine Analysen konnten in der DDR nicht erscheinen. Die später eingetretenen Abläufe haben ihn recht genau bestätigt.

Die Soziologen Karl-Dieter Opp und Peter Voss  haben 1990 Umfragen zu Motiven und Abläufen in der DDR des Herbstes 89, speziell in Leipzig, durchgeführt. Sie haben nicht nach Reformversuchen für Sozialismus, sondern unspezifisch nach Protestpotenzial gesucht. Sie stellen fest: „In der DDR ging der politische Protest quer durch die Gesellschaft, vom Pfarrer über den Arbeiter bis zum Parteifunktionär – ja sogar bis zum Stasi-Mann! Eine Besonderheit der DDR-Revolution liegt in dieser massiven ´Volksfront´“.  Und so heißt ihr 1993 erschienenes Buch denn  auch „Die volkseigene Revolution“. Mit einem Revolutionsbegriff, der von einem Oben und Unten, von einer Front zwischen Ancien regime und revolutionärer Masse ausgeht, lässt sich der Sache wohl nicht beikommen.

Denn die Vorgänge des Herbstes 1989 waren auch dadurch gekennzeichnet,  dass  sich in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen ein enormes Innovationspotential mit Reformvorschlägen für die DDR organisierte und artikulierte, in Betrieben und Massenorganisationen, in staatlichen Institutionen und in der SED selbst. Wie wir erleben konnten, hatte dieses Innovationspotential keine dauerhafte Chance. Und das hat wohl damit zu tun, dass sich die historische Zäsur im Herbst 1989 meines Erachtens eher mit dem aus der Terminologie der Physik stammen Begriff der Implosion fassen lässt. Implodiert ist in der DDR die hierarchische Machtstruktur, angekündigt durch Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit an ihrer Spitze angesichts des Druckes durch Massenausreisen, Massendemonstrationen und sich laut artikulierender Reformgedanken. Der Charakter als Implosion erklärt in hohem Maße den friedlichen Verlauf. Handlungsunfähigkeit und  Sprachlosigkeit waren mit dem Unvermögen gepaart, das Versagen der eigenen  Politikvorstellungen zu begreifen. Die aber waren mit einem Selbstbild verbunden, das eine Art Swing zwischen paternalistischer und politisch misstrauischer, zu Repression neigender Haltung gegenüber „unseren Menschen“ hervorbrachte, einen am Ende höchst labilen Zustand. Schließlich fiel kein Schuss, weil diejenigen, die über den Einsatz von Schusswaffen höchste Verfügungsgewalt hatten, keinen Befehl gaben, die Demonstranten-Losung „keine Gewalt!“ mit Waffengewalt zu beantworten.

Eine vollendete Revolution besteht aber nicht nur im wie auch immer ablaufenden Verschwinden etablierter Macht, sondern in der  radikalen Veränderung aller politischen, ökonomischen, rechtlichen und kulturellen Verhältnisse in kürzester Frist.  Eine solche Revolution haben die Bürger der DDR im Herbst 1989 ermöglicht, indem sie kräftig zur Implosion  beigetragen haben. Weder sie noch die organisierte Opposition haben diese Revolution gemacht. Dafür haben sie bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 politischen Parteien das Mandat erteilt, mehrheitlich jenen, die für einen schnellen Anschluss an die Bundesrepublik Deutschland plädierten und die in diesem Bestreben, einschließlich im  Wahlkampf, von führenden Politikern aus der Bundesrepublik entsprechend unterstützt wurden. Das Mandat hieß nicht „Revolution“, sondern entsprach dem Wunsch, in möglichst kurzer Zeit neue Lebensperspektiven zu gewinnen in Gestalt neuer materieller, geistiger und räumlicher Bewegungsmöglichkeit. Die nach der Währungsunion und mit beschleunigtem Beitritt zur Bundesrepublik nach Artikel 23 Grundgesetz folgende Einführung für die Betroffenen völlig neuer politischer, ökonomischer, rechtlicher und kultureller Verhältnisse war die Vollendung  der Revolution, auf die die Bürger der DDR  keinen konkreten Einfluss mehr nehmen konnten, nicht auf die Treuhandprinzipien Rückgabe vor Entschädigung und Privatisierungs- vor Strukturpolitik, nicht auf die Weigerung in der DDR gemachte Erfahrungen, z.B. bei der Kinderbetreuung, im Schul- oder Gesundheitssystem, solide auszuwerten. Es war eine bürokratisch vollzogene Revolution von oben. Und ihre Träger verstanden sich keineswegs als Revolutionäre, sondern als Ausführende des für sie Selbstverständlichen. Die diese Revolution eingeleitet hatten waren nun auf höchst unterschiedliche Weise zu Betroffenen ihrer Vollendung geworden, als Einzelne voll und ganz mit der Anpassung an die neuen Verhältnisse beschäftigt. Und so verlief auch die Vollendung der Revolution friedlich.

Zum Herbst 1989 gehört ein qualitativer Einschnitt. Der sorgte dafür, um noch einmal den Begriff der Implosion zu bemühen, dass in deren Ergebnis staatliche Macht nicht in unberechenbare Einzelteile zerfallen konnte, was nichts anderes als gesellschaftliches Chaos bedeutet hätte.

Am 13. 11. wählte die Volkskammer auf ihrer 11. Tagung in geheimer Abstimmung mit nur einer Gegenstimme Hans Modrow zum neuen Ministerpräsidenten. Dass diese von allen Fraktionen getragene Zustimmung keine Fortschreibung der bisher üblichen 100%-Abstimmungen war, zeigt die vorausgegangene Wahl des Volkskammerpräsidenten Günter Maleuda, der erst im zweiten Wahlgang eine ausreichende Stimmenzahl erhielt.

Der künftige Ministerpräsident brach bereits in Vorbereitung seines Amtsantrittes mit dem, was den Kern des politischen Systems in der DDR ausmachte, mit Macht- und Wahrheitsmonopol seiner Partei. Diesen Bruch vollzog er  zum einen mit der Entscheidung eine aus allen Parteien bestehende Koalitionsregierung zu bilden und zum anderen mit dem auf der Volkskammertagung am  1.12. (Politbüro und ZK existierten noch!) gestellten Antrag, Artikel 1. der Verfassung der DDR zu streichen, in dem die führende Rolle der SED  verfassungsrechtlich festgeschrieben war.

Mit Arbeitsbeginn der Modrow-Regierung endete die Sprach- und Handlungslosigkeit der Staatsmacht. Nicht erledigt war die Fortwirkung der Implosion in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft, mit Folgen für die Gesamtheit der betroffenen Menschen, was wiederum ein breites Spektrum von Reaktionen und z.T. einander ausschließenden Intentionen hervorbrachte. Und darin lag nicht wenig Gewaltpotential. Es geht nicht nur um den Aufruf des Neuen Forums zur Stürmung der MfS-Zentrale in der Normannenstraße und vergleichbare Aktionen. In der Normannenstraße hat der Ministerpräsident am 15. Januar durch seinen im Fernsehen zu sehenden Auftritt seine Autorität im Lande eindeutig gestärkt. Das zentrale Problem war die  Fortwirkung von Implosionseffekten in den staatlichen Strukturen, im wirtschaftlichen einschließlich im weitesten Sinne Dienstleistungsbereich. Dieser Vorgang war zu kanalisieren mit dem Ziel, sowohl die alltäglichen Lebensbedürfnisse zu befriedigen als auch Signale für  Neugestaltung zu setzen. Von beiden Momenten hing die Bändigung von Gewaltpotential ab. Bereits auf der konstituierenden Sitzung des Ministerrates, bei der noch von einem Erhalt der DDR ausgegangen wurde, formulierte der Ministerpräsident, dass es keine Chance gebe, Erneuerung „mit den Grundsätzen“ zu beginnen, sondern dass es zunächst um ein enormes Maß an operativer Arbeit geben würde. Und für die wurden umgehend entsprechende Strukturen geschaffen. So wurde u.a. eine nicht nur hochrangig besetzte, sondern auch auf breit gefächerte Verantwortungsbereiche bezogene Arbeitsgruppe gebildet, die weitreichende operative und kooperative Befugnisse erhielt.  

Es ist Hans Modrow vorgeworfen worden, dass er mit seiner Regierungspolitik der Entwicklung im Grunde hinterher gelaufen sei. Belege: Der Verzicht der SED auf ihren Führungsanspruch z.B. wurde längst von oppositionellen Kräften, auch der CDU, gefordert. „Wir sind ein Volk“ war bereits im Januar, vor der Presseerklärung „Deutschland, einig Vaterland“, eine Demo-Losung.

Wenn wir nach der Rolle von Regierungshandeln bei der Dämpfung von Gewaltpotenzial fragen, ergibt sich ein anderer Aspekt. Der Reformbedarf war von riesiger Dimension. Die offene Grenze veränderte rasant die inneren Bedingungen wie u.a. der Zerfall des RGW die äußeren. Die Auswirkungen schlugen verunsichernd auf den Alltag eines jeden Bürgers durch. Verunsicherung produziert Gewaltbereitschaft. Die Angst davor war in der Bevölkerung präsent. Eine Umfrage Anfang Dezember sagt aus, dass 42 % mit dem Anstieg von Gewalt rechnen, aber auch 83% dem Ministerpräsidenten Vertrauen entgegen bringen. Wenn Auswege aus der Verunsicherung erwartet werden können, baut das Gewaltbereitschaft ab. Zu solchen Erwartungen trug bei, dass die Aktivitäten der Regierung in einem hohen, bisher unbekannten  Maß öffentlich gemacht wurden, wie auch die Tatsache, dass sich das Verfahren „Runder Tisch“ von Berlin aus ins ganze Lande hinein vervielfachte. Die nicht aus freien Wahlen hervorgegangene Übergangsregierung begann jede ihrer Ministerratssitzungen mit einer Einschätzung zur Lage im Land, zu der es aus den Bezirken noch Zuarbeiten gab. Das ermöglichte relativ zeitnahe Reaktionen. Verzögerte Reaktionen gab es beim Umgang mit der MfS/AfNS-Problematik, was auch prompt die Gegenwehr im Lande verstärkte. Relativ zeitnahe Reaktionen lassen sich auch in der Beziehung zum Zentralen Runden Tisch beobachten, an dem ja nicht nur die Opposition, sondern auch die in der Regierung vertretenen Parteien versammelt waren. Auch die oppositionellen Organisatoren waren bei der ersten Sitzung am 7./8. Dezember angetreten „aus tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung“. Das deckte sich nicht nur mit dem Ziel der Modrow-Regierung, sondern mit der noch mehrheitlichen Stimmung im Land. Nach einem von „Spiegel“ und ZDF Mitte Dezember veröffentlichten Umfrageergebnis sprachen sich 73 % der DDR-Bürger für einen eigenen Staat aus.

Es gibt eine Reihe von Indizien dafür, dass die Regierung Modrow, speziell die Person des Ministerpräsidenten, unter den labilen Bedingungen von Implosion der alten Machtstruktur im Lande per se als stabilisierender Faktor gewirkt hat. Eine zwischen dem  19. und 21. Dezember stattgefundene DDR-weite Meinungsumfrage enthielt die Frage: „Ist ihrer Meinung nach die Regierung Modrow in der Lage, diese dynamischen Prozesse zu beherrschen?“. 51,2 % der Befragten antworteten mit „ja“, 34,2 % mit „bedingt“. Der Sympathiewert für die Person des Ministerpräsidenten liegt bei 58,9 % und unterscheidet sich stark  von der Präferenz für die SED-PDS, (noch) 34 %.

Indizien für die persönliche Autorität des Ministerpräsidenten gibt es auch im Zusammenhang mit dem Runden Tisch. Dessen Vertreter hatten gefordert, dass seine Sitzungen in Rundfunk und Fernsehen der DDR übertragen werden. Das geschah ab 3. Januar durch Radio DDR und ab 8. Januar im 2. Programm des DDR-Fernsehens. Für mich überraschend gab es beim Fernsehen eine Zuschauerforschung, die sowohl die Sehbeteiligung (heute heißt das „Einschaltquoten“) als auch Bewertung von Sendungen ermittelte. Ab 15.1. wurden diese Werte auch für die Übertragungen der Sitzungen des Runden Tisches  festgehalten. Am 15.1. und am 22.1. ermittelt die Zuschauerforschung zwei Höchstwerte, etwa doppelt so hoch wie am 18. und 29.1.  Am 15. und 22.  ging Hans Modrow an den Runden Tisch.

Die materiellen Voraussetzungen für die Arbeit des Runden Tisches wurden sukzessive aus dem Staatshaushalt finanziert. Die  anfänglich konfrontative Haltung zur Regierung wurde (mit besonderer Ausnahme bei der MfS-Problematik) zunehmend von einer kooperativen abgelöst, bei ebenfalls zunehmender Differenzzierung am Runden Tisch.

Am 29.1. verwies Hans Modrow in einer Rede vor der Volkskammer eindringlich darauf, dass sich Merkmale einer Notsituation in der DDR verdichteten, ohne alle Faktoren zu nennen, die intern zusammengetragen worden waren, u.a.

·      dass die Parteibasis einiger Koalitionspartner immer nachdrücklicher den Austritt aus der Regierungskoalition forderte (die drei CDU-Minister nahmen ihre Funktion nur noch amtierend wahr.);

·      dass sich die Lage der ehemaligen AfNS-Mitarbeiter durch Schwierigkeiten bei der Aufnahme neuer Tätigkeiten verschärfe und die Polizei nicht zuverlässig einschätzen könne, ob sie ihre Schutzfunktion hinreichend  wahrnehmen kann;

·      dass die Unruhe in der Nationalen Volksarmee wachse, verbunden mit Forderungen nach einer Militärreform und höherem Sold;

·      dass das Verhältnis von Teilen der Bevölkerung zu den in der DDR stationierten sowjetischen Truppenteilen gespannt sei;

·      dass sich der verschärfende Wahlkampf mit bundesdeutscher Beteiligung ebenso wie die Ausreisewelle besonders destabilisierend auf Wirtschaft und Gesellschaft auswirke;

·      dass sich aus zunehmenden Angriffen auf die SED/PDS, auf Partei- und Staatsfunktionäre Zersetzungserscheinungen im Staatsapparat ergäben, weil die Handlungsfähigkeit entsprechender Personengruppen außerordentlich eingeschränkt sei.

In dieser Situation ist die Aufnahme von Vertretern der oppositionellen Gruppen als Minister ohne Geschäftsbereich am 28. 1. in die Regierung ein Signal. Der Ministerpräsident hat diese Bereitschaft in zäher, nichtöffentlicher  Überzeugungsarbeit erreicht. Dazu gibt es ein wichtiges Pendant im Lande. Am 25. Januar schlug der Ministerrat der Volkskammer eine schnelle Entscheidung vor: nämlich Voraussetzungen zu schaffen, dass bis zu den Wahlen Vertreter „aller Parteien, gesellschaftlichen Vereinigungen und politischen Gruppierungen“ kommunaler runder Tische „als Abgeordnete mit allen gesetzlich festgelegten Rechten und Pflichten“ in die örtlichen Volksvertretungen und ihre Räte kooptiert werden konnten. Das trug zur ordnungsgemäßen Vorbereitung und Durchführung der Wahlen am 18. März bei.

Die Unmenge operativer Entscheidungen; in die Zukunft gedachte Reformansätze; die relativ zeitnahen Reaktionen der Modrow-Regierung auf hochkomplexe Abläufe und Gefahren in der Gesamtheit von Staat und Gesellschaft; die Bildung einer „Regierung der nationalen Verantwortung“ und die Entscheidung der Opposition, sich dieser Verantwortung zu stellen; können als ein wesentlicher Grund dafür angesehen werden, dass die Phase bis zu den Wahlen am 18. März friedlich verlaufen ist.