Als die aus dem Exil zurückgekehrten Führer der Bolschewiki Anfang November 1917 mit einem bewaffneten Umsturz in Petrograd an die Macht gelangten, verstanden sie sich als Vorhut einer unmittelbar bevorstehenden Weltrevolution. Die Russische Revolution sollte deren Auftakt sein, und dies allein rechtfertigte die Eroberung der Regierungsgewalt im Namen eines Proletariats, das in Russland selbst erst eine kleine Minderheit der Bevölkerung darstellte. Zunächst richteten sich die weltrevolutionären Hoffnungen recht «eurozentrisch» auf das Proletariat der industriell entwickelten Länder, in erster Linie auf Deutschland. Die außereuropäische Welt kam dabei anfangs wenig in den Blick, und erst nach dem Scheitern proletarischer Revolutionen in West- und Mitteleuropa erhielt das revolutionäre Potenzial nationaler Befreiungsbewegungen in den Kolonien und Halbkolonien für die Bolschewiki eine stärkere strategische Bedeutung. Verständlicherweise wandten sie sich dabei erst einmal den «Völkern des Ostens» als Teil oder in unmittelbarer Nachbarschaft des russischen Großreichs zu, während Lateinamerika lange Zeit nicht nur geografisch sehr fern lag.
Dabei hatte in Mexiko noch vor der Oktoberrevolution eine der großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts begonnen. Ihr Echo war aber im Europa des Ersten Weltkriegs mit seinen unmittelbaren Nachwirkungen wenig hörbar, während in Mexiko der radikalere Flügel der Revolution durchaus die weltgeschichtliche Bedeutung der Russischen Revolution wahrnahm und eine Verbindung herzustellen suchte. So schrieb Emiliano Zapata im Februar 1918 an einen Freund: «Viel würden wir gewinnen, viel gewönne die menschliche Gerechtigkeit, wenn alle Völker unseres Amerikas und alle Nationen des alten Europas verstünden, dass die Sache des revolutionären Mexikos und die Sache Russlands die Sache der Menschheit sind, das höchste Interesse aller unterdrückten Völker.» Zapata sprach im selben Brief von der «sichtbaren Analogie, dem ausgeprägten Parallelismus, der absoluten Gleichartigkeit zwischen der russischen Bewegung und der Agrarrevolution in Mexiko». Auch der Theoretiker und Aktivist des mexikanischen Anarchismus, Ricardo Flores Magón, sah zur gleichen Zeit im russischen Oktober den Beginn einer großen Weltrevolution.
Nicht nur in Mexiko wurde die Botschaft aus Petrograd in ähnlicher Weise aufgenommen – der Sturz der alten Ordnung in Russland war eine Ermutigung für die Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Länder, sich überall gegen die überkommene Herrschaft zu erheben. In den ersten Nachrichten über die russischen Sowjets fanden insbesondere die Anarchisten und Anarchosyndikalisten in mehreren lateinamerikanischen Ländern eine Bestätigung ihrer eigenen Doktrin. Die anfängliche Begeisterung schlug allerdings in Enttäuschung und Distanzierung von den Bolschewiki um, als deren rein instrumentelles Verhältnis zur Rätedemokratie zutage trat – endgültig nach der militärischen Zerschlagung der Kommune von Kronstadt im März 1921. Zu diesem Zeitpunkt wandte sich auch der mexikanische Anarchist Ricardo Flores Magón mit scharfen Worten gegen die «Diktatur von Lenin und Trotzki». Unmittelbarer und früher als in anderen Ländern Lateinamerikas machten sich die Auswirkungen der russischen Oktoberrevolution in Argentinien bemerkbar. Schon wegen des großen Umfangs der späten Einwanderung aus Europa, vor allem aus Italien und Spanien, in geringerer Zahl auch aus Deutschland, England und Russland, war das Land stärker an Europa orientiert, auch in seiner frühen Arbeiterbewegung. Bei den inneren Auseinandersetzungen in der 1896 gegründeten Sozialistischen Partei ging es 1916 um den Kriegseintritt Argentiniens an der Seite der Entente gegen die Mittelmächte, der von der reformistischen Parteiführung befürwortet wurde. Die parteiinterne Opposition, die analog zu den Kriegsgegnern in Europa eine Beteiligung am imperialistischen Krieg ablehnte, spaltete sich als Internationale Sozialistische Partei (PSI) ab und wurde nach der Oktoberrevolution zur Keimzelle der Kommunistischen Partei (KP) in Argentinien.
Klaus Meschkat ist Soziologe und Historiker. Er war unter anderem Professor an der Universidad de Antioquia in Kolumbien (1969/70) und trat 1973 eine Professur an der Universidad de Concepción in Chile an. Beim Putsch kurz darauf ließ ihn die Militärregierung unter General Pinochet festnehmen und auf der Insel Quiriquina einsperren. Schließlich wurde er ausgewiesen. Zurück in Deutschland war er bis zu seiner Pensionierung Professor für Soziologie an der Universität Hannover mit dem Schwerpunkt Lateinamerika.
Ein Interview mit ihm findet sich auf der Website unseres Brasilien-Büros.