Das System der Machtteilung, wie im Irak und dem Libanon bereits umgesetzt, wird auch als Modell für Syrien diskutiert. Aber ist identitäre Heterogenität innerhalb einer Gesellschaft wirklich die Ursache sozialer Konflikte und Gewalt?
Die Zukunft des syrischen Staates steht nach dem sich abzeichnenden militärischen Sieg des Baath-Regimes und seiner Verbündeten sowie der Niederlage des Islamischen Staates aber auch der Milizen der Freien Syrischen Armee momentan weit oben auf der Agenda von Politiker*innen und Politikwissenschaftler*innen. In diesem Kontext wird immer wieder der Gedanke laut, ein Syrien der Zukunft ähnlich dem Irak und dem Libanon als System der Machtteilung und der Repräsentation von verschiedenen konfessionellen und ethnischen Gruppen anzudenken. Rima Majed, Professorin für Soziologie an der Amerikanischen Universität in Beirut (AUB), hinterfragt nicht nur den Erfolg des irakischen und libanesischen Models der Konkordanzdemokratie, sondern fragt auch nach den Ursachen von Konflikt und Gewalt jenseits von religiösen, ethnischen oder konfessionellen Spaltungen und Dynamiken.
Das Gespenst der Konkordanzdemokratie schwebt momentan über Syrien. Nach den Erfahrungen im Libanon und im Irak mit einer kooperativen[1] bzw. liberalen[2] Konkordanzdemokratie, scheint es, dass Syrien das nächste Land in der Region sein wird, in dem eine Konkordanzdemokratie durchgesetzt werden soll.
Das System der Konkordanzdemokratie wurde in vielen Post-Konflikt-Staaten eingeführt, sei es in Kenia, Bosnien-Herzegowina oder Nord-Irland. Ein solches System basiert auf einem Machtteilungsprinzip, das Spannungen in sogenannten tief gespaltenen Gesellschaften[3] entschärfen soll. Die Hauptvoraussetzung dieses besonderen «Politikrezepts» basiert auf einer soziologischen Lesart von Konflikt und Gewalt. Nach dieser Lesart bricht Gewalt vor allem zwischen Gruppen aus, die ihre Identität aufgrund von konfessionellen, linguistischen oder ethnischen Zugehörigkeiten definieren. Diese vertikalen Spaltungen werden so zur Grundlage für tiefergehende Spaltungen in der Gesellschaft. Sie erfordern ihrerseits eine besondere Art der Intervention, um die emotionale und explosive Natur der Beziehungen in pluralistischen und nicht-homogenen Gesellschaften mit fragmentierten politischen Kulturen zu entschärfen.
Eine Konkordanzdemokratie basiert auf einer Regierung durch ein Elitekartell, in dem die verschiedenen Gruppen durch ihre politischen Vertreter*innen repräsentiert sind. Politisches Handeln setzt hier das Bilden von Koalitionen sowie ständige Verhandlungen zwischen diesen Repräsentanten voraus. In der Theorie erfordert dies möglichst wenig sozialen Kontakt zwischen den einzelnen Gruppen und es wird argumentiert, dass je höher die Ebene ist, auf der politische Entscheidungen getroffen werden, umso eher wird Konflikt vermieden, da nur auf der Ebene der Eliten verhandelt und Kompromisse gefunden werden.
Ist der Konflikt in diesen sogenannten tief gespaltenen Gesellschaften wirklich einer zwischen ethnischen oder konfessionellen Gruppen? Ist es richtig zu behaupten, dass eine identitäre Heterogenität innerhalb einer Gesellschaft die Basis für sozialen Konflikt darstellt? Ist die Analyse von Konflikten im Nahen Osten als primär religiöse, ethnische oder konfessionelle Konflikte sinnvoll für das Verständnis der Dynamiken von Konflikt und Gewalt? Und kann eine solche Analyse die Basis für Politikrezepte wie Konkordanzdemokratie oder konfessionelle Machtteilung sein?
Obwohl das Prinzip der Konkordanzdemokratie sehr viel Aufmerksamkeit bei Politikwissenschaftler*innen und Politikberater*innen erfährt, ist die soziologische Grundlage der Theorie fragwürdig. Trotz jahrzehntelanger soziologischer Arbeit, die die Flexibilität, Situationsbedingtheit und Konstruiertheit von Identitäten und Gruppenbildungen zeigt, sowie unzähligen Studien, die auf die strukturellen und materiellen Grundlagen von Konflikten und Kriegen jenseits kulturalistischer Analysen der Identitätspolitik hinweisen, gehen Befürworter*innen der Konkordanzdemokratie immer noch von der Annahme aus, dass Spaltungen, die auf Identitäten basieren, die natürlichen Gegebenheiten eines politischen Systems sind. Aber, ein auf Spaltungen basierendes Herrschaftssystem, das von einer gespaltenen Gesellschaft ausgeht, kann genauso gefährlich sein wie ein Medikament zu verschreiben, ohne die richtige Diagnose gestellt zu haben. Um soziale Dynamiken und Konflikte auf einer gesellschaftlichen Ebene zu verstehen, benötigt es eine Analyse jenseits der einfachen Beobachtung von ethnischen oder konfessionellen Teilungen. Stattdessen benötigen wir ein Verständnis der Faktoren und Mechanismen, die das Auftreten von konfessionellen oder ethnischen Spaltungen fördern und zu Gruppenbildung führen oder eben nicht führen.
Anders gesagt, anstatt anzunehmen, dass ein Konflikt auf konfessionellen Faktoren basiert, sollte man den Prozess der Konfessionalisierung analysieren, um die Grundursachen des Konflikts zu verstehen und in der Lage zu sein, dauerhafte Lösungen zu finden. Eine solche soziologische Analyse wird allerdings häufig in dem Wunsch, ein schnelles politisches Rezept für Gesellschaften in der Krise oder in Post-Konflikt Gesellschaften zu finden, übergangen.
Betrachtet man die gegenwärtigen Mainstreamanalysen von Konflikten im Nahen und Mittleren Osten, so können vor allem drei «Fallstricke» identifiziert werden:
Erstens:
Das Verständnis eines Konflikts als im Wesentlichen ethnisch oder konfessionell begründet, berücksichtigt nicht den eigentlichen Prozess der Konfessionalisierung, durch den ein im Grunde materieller Konflikt um Macht und Ressourcen die Form eines identitären Konflikts angenommen hat. Dieser Ansatz betrachtet konfessionelle Spaltungen als ein fait accompli und damit als unveränderbar und beständig. Konkordanzdemokratische Lösungen sind damit ein Weg, die Folgen des Konflikts zu behandeln und nicht dessen eigentliche Ursachen. In Syrien ist Konfessionalismus eine Realität des derzeitigen Konflikts. Wenn wir aber die Komplexität des Konflikts auf diesen Aspekt reduzieren und demnach einen Friedensschluss aufgrund dieser Lesart zu finden versuchen, wird eine dauerhafte Lösung verhindert, da die materiellen und politischen Gründe des Konflikts wie Ungleichheit, Armut, Arbeitslosigkeit und die Baath-Diktatur selbst außer Acht gelassen werden.
Zweitens:
Das zweite Problem an diesem Ansatz ist, das er oft zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Durch den Versuch, den Konflikt zu regulieren und konfessionelle Spannungen zu reduzieren, trägt eine Konkordanzdemokratie dazu bei, dass die konfessionellen Spaltungen sich verankern, da sie institutionalisiert und nicht integrativ behandelt werden. Einmal institutionalisiert, wird es sehr schwierig, konfessionelle Politik zu überwinden, vor allem da diese sich oft in klientelistischen Netzwerken widerspiegelt, die auf konfessionellen Spaltungen basieren. Diese Netzwerke ersetzen häufig den Staat als Erbringer von Basisleistungen und Sicherheit. Dies zeigt sich sehr deutlich am libanesischen und irakischen Fall. Eine weitere Gefahr ist, dass der Prozess der Konfessionalisierung soziale und politische Gruppen zusammenfasst, so z.B. Alawiten*innen mit dem syrischen Baath-Regime gleichsetzt, Schiit*innen mit der Hisbollah oder dem Iran, Sunnit*innen mit islamistischen Gruppen, Saudi-Arabien, Katar oder der Türkei. Diese verschiedenen Gruppen werden dann synonym verwendet.
Drittens:
Diese Art des «Gruppendenkens» geht von interner politischer Homogenität von identitären Gruppen aus, eine Stolperfalle, in der politische Gruppen mit gesellschaftlichen Gruppen vermischt werden. Die bemerkenswerte politische, wirtschaftliche und soziale Diversität, die in jeder Gemeinschaft existiert, wird damit nicht berücksichtigt. Der Diskurs über die Notwendigkeit, Minderheiten durch eine Art der Konkordanzdemokratie zu schützen, ist ein sehr gutes Beispiel dieses Fehlers. Anstatt zwischen Individuen einer bestimmten Minderheitengruppe und einer politischen Organisation, die behauptet im Namen dieser Gruppe zu sprechen, zu unterscheiden, spielt dieses Gruppendenken Menschen allein aufgrund ihrer Identität gegeneinander aus. Die alawitische, christliche oder drusische «Minderheit» in Syrien wird dann von der sunnitischen «Mehrheit» bedroht. Hier zeigt sich ein produzierter Prozess der Konfessionalisierung, der Individuen in vorgefertigte Boxen zwingt, die auf der Basis von Interessen und Bedürfnissen politischer Akteure gefertigt wurden. Unter diesen Bedingungen schwinden die Nuancen und Komplexitäten der nicht-konfessionellen Mechanismen dahin und Individuen, die nicht in diese Boxen passen, werden als Ausnahmen betrachtet. Klassenallianzen zwischen reichen Sunnit*innen und Alawit*innen, die dem Regime nahe stehen oder die Unterdrückung von armen Syrer*innen - unabhängig von ihren ethnischen oder konfessionellen Identitäten - werden hier ignoriert. Horizontale Spaltungen verschwinden, während vertikale betont werden. In diesem Kontext sind Lösungen der Machtteilung, die Schutz und Repräsentation unter dem Slogan «kein Sieger, keine Besiegten»[4] predigen, sehr beliebt. Aber trotz ihrer attraktiven Verpackung sind sie keine wirksame Medizin.
Rima Majed ist Professorin für Soziologie an der Amerikanischen Universität in Beirut (AUB). Sie hat in Oxford zu der Beziehung zwischen strukturellen Veränderungen, sozialer Mobilisierung und Konfessionalismus im Libanon promoviert. Majed forscht heute zu sozialer Ungleichheit, sozialen Bewegungen, sozialen Identitäten, Intersektionalität sowie zu Konflikt und Gewalt. Ihre Interessen liegen zudem auf Themen der strukturellen Ungleichheit (Klasse, Gender, Rasse) und ihren Auswirkungen auf soziale Organisation und Mobilisation.
Der Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen.
[1] Ein System der Machtteilung, nach dem die Repräsentationsquote für jede Gruppe in der Verfassung vorbestimmt ist.
[2] Auch bekannt als «selbstbestimmte Konkordanzdemokratie». In diesem System wird die Repräsentationsquote einer jeden Gruppe nicht vorbestimmt. Stattdessen wird die Vertretung jeder Gruppe je nach Wahlausgang bestimmt.
[3] Als sogenannte tief gespaltene Gesellschaften werden vor allem ethnisch polarisierte Gesellschaften betrachtet, zudem Gesellschaften mit starken linguistischen, nationalen oder religiösen Spaltungen.
[4] Ein Slogan des nigerianischen Präsidenten Yakubu Dan-Yumma Gowon (reg. 1966-1975), der diese Formel nach Ende des Biafra-Krieges im Jahre 1970 verwendete, um seine Politik der Versöhnung und eine allgemeine Amnestie einzuläuten.