Die Analysen der aktuellen politischen Lage in Syrien werfen oft die Frage nach einer real-politischen Alternative zum Assad-Regime auf. Neben der Schwäche der politischen Opposition werden häufig das Fehlen von politischer Perspektive, von Ideen und politischen Räumen im heutigen Syrien konstatiert. Dieser Mangel macht es vor allem jungen Aktivist*innen schwer, mit ihren Vorstellungen an bereits existierende Erfahrungen anzuknüpfen. Unser Autor Karam Nachar stellt deshalb die Frage nach den historischen Ursachen für das Fehlen eines öffentlichen politischen Raumes in Syrien.
Der Begriff Moderne wird gemeinhin mit der Herausbildung einer «nationalen öffentlichen Sphäre» in einem Land oder einer politischen Entität assoziiert, in der sich sowohl die Eliten als auch andere gesellschaftliche Gruppen in Vereinigungen mit einem jeweils eigenen Diskurs, eigenen Institutionen und sozio-ökonomischen Interessen zusammenschließen. In Syrien jedoch hat die Moderne einen nationalen Raum hervorgebracht, in dem sich die Eliten unfähig erwiesen, Regeln für die politische Auseinandersetzung aufzustellen. Ebenso wenig waren sie in der Lage, die Hegemonie über die Gesellschaft zu erlangen, sie zu beteiligen oder auch nur mit ihr in Kontakt zu treten, um so einen gesellschaftlichen Diskurs zu erzeugen, der diesen Namen verdient. Die Moderne führte in Syrien zu einer kontinuierlichen Politisierung gesellschaftlicher Gruppen, nicht aber zur Entstehung eines politischen nationalen Diskurses. Die Wurzeln dafür liegen zweifelsohne in den sozio-ökonomischen Veränderungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Levante einsetzten und zur strukturellen Spaltung der syrischen Gesellschaft führten.
Wirtschaftliche Integration
Die erste Veränderung bestand in der Integration der Region in das kapitalistische Wirtschaftssystem, dessen Zentrum seit der Industriellen Revolution in Europa lag. In der Levante wurden dadurch einerseits vertikale Spaltungen verursacht, etwa zwischen muslimischen und christlichen Händlern, weil letztere in Europa eine bevorzugte Behandlung genossen, oder zwischen den Städten Aleppo und Damaskus, deren wachsende Abhängigkeit vom internationalen Handel zu einer stärkeren Konkurrenz zwischen ihnen führte. Andererseits kam es auch zu einer Polarisierung der vorwiegend in diesen beiden Städten konzentrierten Eliten auf einer Seite und dem Rest der Bevölkerung auf der anderen.
Dieses bezieht sich nicht nur auf die Bewohner*innen ländlicher Regionen, sondern auch auf jene Menschen, die in Folge von Dürren und Ernteausfällen in die Armenviertel der Städte migrierten, sowie auf Angehörige ethnischer oder religiöser Gruppen, die im sozialen Leben der großen Städte zu keiner Zeit in Erscheinung traten.
Tanzimat-Reformen
Die zweite Veränderung bestand im Wiedererstarken des Osmanischen Reiches und seiner verstärkten Präsenz in den von ihm kontrollierten Gebieten in Folge der Tanzimat-Reformen[1]. Diese Reformen zielten darauf ab, die Zentralverwaltung des Reiches zu stärken, um mehr Kontrolle über Wirtschaft und seine Bewohner*innen zu erlangen, was – gewollt oder ungewollt – die von der modernen Wirtschaft erzeugten gesellschaftlichen Spaltungen verstärkte.
Im Gegensatz zu den europäischen Staaten und Japan war das Osmanische Reich nicht in der Lage, seine Bevölkerung durch Schulen und Wehrdienst in «Bürger» zu verwandeln, wofür es drei Gründe gab: Den Mangel an finanziellen Ressourcen, die Einmischung europäischer Mächte zum «Schutz» ihrer Bürger*innen im Reich und die religiöse und ethnische Diversität der Bevölkerung. Stattdessen stützte sich der Osmanische Staat auf Eliten und Gruppierungen, die ihm besonders vertrauenswürdig erschienen, um seine Herrschaft über den Rest der Gesellschaft auszuüben, was die Spannungen zwischen diesen Gruppierungen verstärkte.
Gesetze über den Besitz von Ackerland führten beispielsweise zur Entstehung einer neuen urbanen Aristokratie, die über die Landbevölkerung herrschte, ohne deren Lebensrealität zu kennen. Dies heizte die Konflikte zwischen Stadt und Land an. Die Ansiedlung von Turkmen*innen und Kurd*innen in Siedlungsgebieten nicht-sunnitischer und nicht-muslimischer Minderheiten verschärfte die Probleme zwischen diesen Gruppen. Und die unter Abdul Hamid II[2] erfolgte Konzentration auf eine islamische Identität zu Lasten einer zu Beginn der Tanzimat-Reformen dominierenden einenden osmanischen Identität, vertiefte die Gräben zwischen muslimischen und christlichen Eliten, indem einem bestehenden wirtschaftlichen Konflikt eine neue ideologische Prägung gegeben wurde.
Wachsende europäische Einmischung
Die dritte Veränderung bestand in der oben bereits kurz erwähnten verstärkten Einmischung Europas in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches. Dies geschah nicht - wie etwa in Indien, Algerien oder Ägypten - nach dem klassischen kolonialen Muster, bei dem einer zentralisierten Kolonialherrschaft eine geeinte nationalistische Elite gegenüberstand. In der Levante kämpften vielmehr verschiedene Großmächte – hauptsächlich Großbritannien, Frankreich und Russland – um Einfluss und versuchten, eine wirtschaftliche, kulturelle und juristische Präsenz zu etablieren, wofür sie den Vorwand des «Schutzes» nicht-sunnitischer Minderheiten nutzten.
Dies verstärkte die Konflikte zwischen den lokalen Gruppen und führte dazu, dass sich auch die sunnitische Mehrheit als Minderheit fühlte, die von den Großmächten bekämpft wurde und darum einer Schutzmacht bedurfte.
Arabische Identität und Dezentralisierung
Gegen Ende der osmanischen Herrschaft erschien es für eine kurze Zeit möglich, diese inneren Widersprüche zu überwinden: Mithilfe einer stärkeren Dezentralisierung und der Anrufung einer arabischen Identität, die alle Bewohner*innen, unabhängig von ihrer Religion einschließen sollte, um eine nationale öffentliche Identität zu schaffen. Aber die Idee einer arabischen Identität entstammte einem urbanen aristokratischen Liberalismus, der keinen Bezug zu den «Massen» hatte und nur auf eine Annäherung zwischen christlichen und muslimischen urbanen Eliten abzielte.
Liberalismus bedeutete in diesem Kontext ausschließlich die Einschränkung der Macht des osmanischen Sultans, zum einen durch eine Verfassung und ein Parlament, zum anderen durch eine weitreichende Dezentralisierung, womit eine stärkere Autonomie der Großstädte gemeint war. Es handelte sich also um ein Projekt, das sich an die Herrschenden richtete und nicht an die Gesellschaft. Die kulturellen Aspekte dieses Liberalismus bestanden unter anderem in einer Neuinterpretation religiöser Vorschriften im Islam, um den Gegebenheiten der Gegenwart gerecht zu werden, nicht zuletzt der Vorstellung gleichberechtigter Bürger*innen (unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit). Auch hier handelte es sich um das Projekt einer neuen Elite, das sich nicht an alle Muslime, sondern nur an die religiösen Autoritäten richtete.
Verbreitet wurden diese beiden Ideen von den muslimischen Notabeln und dem christlichen Bürgertum in den Städten sowie von den Intellektuellen und der durch die neuen Schulen entstandenen Beamtenschicht («Effendiyya»). Dies waren genau jene gesellschaftlichen Gruppen, die von den oben genannten Veränderungen profitiert hatten, vom sozio-ökonomischen Wandel, den Tanzimat-Reformen und der wirtschaftlichen und kulturellen Präsenz der kolonialen Großmächte. Die gesellschaftlichen Gruppen, die an diesem Fortschrittsprojekt keinen Anteil hatten oder sich ihm sogar entgegen stellten, blieben auch beim Projekt «arabische Identität» außen vor.
Der Widerspruch zwischen Stadt und Land
Diese Widersprüche kamen in den stürmischen Jahren nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ans Tageslicht. In Damaskus wurde das Arabische Königreich Syrien unter der Führung von König Faisal ausgerufen und leistete zwei Jahre lang Widerstand gegen die französische Herrschaft, die zunächst durch das Sykes-Picot-Abkommen[3] und dann mit der Konferenz von Sanremo[4] besiegelt worden war.
Der amerikanische Historiker James Gelvin argumentiert in «Divided Loyalties»[5] überzeugend, dass die tatsächliche Spaltungslinie zu diesem Zeitpunkt weder zwischen den muslimischen und christlichen Eliten noch zwischen den Verfechtern einer arabischen, einer syrischen oder einer libanesischen Identität verlief. Vielmehr bestand die Spaltung zwischen all diesen Gruppen, die für den Fortschritt standen, und der Masse der Bevölkerung, die zwar begonnen hatte, sich zu politisieren, aber durch keine dieser Eliten repräsentiert fühlte.
In ihren an die Bevölkerung gerichteten Appellen sprachen diese von «Demokratie» und «Herrschaft des Volkes». Sie vermischten – je nach Zielgruppe – das Konzept einer islamischen Identität mit dem einer lokalen Identität. Sie bedienten sich sogar der Forderung Kemal Atatürks, das Land beim Abschütteln der Fremdherrschaft zu unterstützen. Den urbanen Eliten war es aber nicht gelungen, die Hegemonie über die Bevölkerung zu erlangen: Die «vorgestellte Nation» im Sinne Benedict Andersons[6] war noch nicht im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen.
Die nationale Fraktion
Während der französischen Mandatsherrschaft (1920-1941) entstand eine nationale Fraktion, die als wichtigstes Sprachrohr der nach Unabhängigkeit strebenden arabisch-nationalistischen Eliten fungierte und das Potential zu haben schien, die Bevölkerung für den Unabhängigkeitskampf zu mobilisieren. Aber anders als die ägyptische Wafd-Partei[7] oder der Indische Nationalkongress (INC)[8] in Indien konzentrierte sich die nationale Fraktion auf Großstädte und war damit schon räumlich weit entfernt von den ländlichen Regionen und insbesondere den dort lebenden Minderheiten.
Während die Eliten in anderen Ländern des Globalen Südens eine präzise Vorstellung von nationaler Identität, dem Verhältnis zwischen Staat und Religion, der Wirtschaft und der Rolle der «Massen» hatten, gelang es der nationalen Fraktion in der Levante nicht, sich von ihren konservativen, aristokratischen Wurzeln zu lösen: Ihre Ideen waren weder mutig noch klar. Da ihr einziges Werkzeug zur Mobilisierung der Bevölkerung ihre paternalistische Beziehung zum Bürgertum in den Städten und den Notabeln auf dem Land war, verschwand diese nationale Fraktion nach der Unabhängigkeit bald in der Bedeutungslosigkeit, als eine neue Mittelschicht entstand, die nicht durch klientelistische Abhängigkeitsbeziehungen an das Bürgertum und die Notabeln gebunden war.
Aufstieg des Kleinbürgertums und der Gebildeten vom Land
Mit dem Abtreten der traditionellen urbanen Eliten von der politischen Bühne wurden in den ersten siebzehn Jahren nach der Unabhängigkeit Syriens, also zwischen 1946 und 1963, viele neue Gruppen der syrischen Gesellschaft politisiert. Zum einen handelte es sich um das städtische Kleinbürgertum, zum anderen um Bildungsaufsteiger aus ländlichen Regionen, die als Angestellte, Lehrer*innen oder Soldaten in den Staatsapparat integriert wurden.
Diese Veränderung brachte einen populären politischen Diskurs hervor, der die Eliten und das «Volk» um das Banner einer gemeinsamen Überzeugung – sei sie nun nationalistisch, links oder islamisch – hätte scharen sollen. Stattdessen führte er zu einer Zerstörung jener Eliten, die diese Überzeugung ablehnten und zur «Zivilisierung» der Bevölkerung. Gemeint ist die Zerstörung der Bindungen an die lokale Gesellschaft und Kultur mit dem Ziel, aufrichtige «arabische» oder «muslimische» Bürger*innen, oder eben dem Klassenkampf verpflichtete «Genossen» zu schaffen.
Der aristokratische Liberalismus trennte den politischen Raum der Eliten von dem der Bevölkerung, um diese Räume dann mittels traditioneller paternalistischer Beziehungen wieder zu verbinden. Der Radikalismus des Kleinbürgertums dagegen zerstörte diese beiden politischen Räume, um eine neue Elite zu etablieren, die die Gesellschaft nach ihrem Vorbild neu strukturierte: indem sie die Macht übernahm und die Werkzeuge der liberal-demokratischen Herrschaft zerstörte.
Der Einparteienstaat und sein Doppeldiskurs
Im Unterschied zu Staaten wie der Türkei, Ägypten oder den Staaten der ehemaligen Sowjetunion brachte der von der Baath-Partei 1963 gegründete und von Hafiz Al-Assad 1970 übernommene Einparteienstaat Syrien keine wirklich unabhängigen Institutionen hervor. Nicht gegenüber dem Staat, sondern gegenüber der Person des Diktators oder den lokalen Gesellschaften waren diese Institutionen loyal. Dabei hätte doch der Staat eben diese lokale Loyalität auflösen und die Bevölkerung in «abstrakte Bürger» verwandeln sollen.
Damit erschuf der Einparteienstaat ein janusköpfiges Gebilde, bestehend aus einem sichtbaren Staat, der die Sprache des Fortschritts und der Bürgerrechte, des Laizismus und des Kampfes gegen den Kolonialismus sprach, und einem verborgenen Staat, der auf regionalen Feindschaften, der Diskriminierung aller Nicht-Alewiten und einem großen geheimdienstlichen Repressionsapparat fußte.
Dem Assad-Regime gelang es - ähnlich wie dem Regime von Saddam Hussein im Irak und dem von Gaddafi in Libyen - sich von der Gesellschaft unabhängig zu machen und sie so in kolonialer Weise zu beherrschen. Das Assad-Regime nutzte die lokalen Identitäten und die aus osmanischer Zeit geerbten Spaltungen der Gesellschaft geschickt aus, während es gleichzeitig nach außen einen Fortschrittsdiskurs pflegte, dessen theoretisches Fundament unter Hafiz Al-Assad der Dritte-Welt-Sozialismus war und unter Bashar Al-Assad durch einen progressiven Neoliberalismus ersetzt wurde.
Oppositionelle Bewegungen
Die Stärke des syrischen Regimes besteht also einerseits in seiner Fähigkeit, mit diesem doppelten Diskurs sowohl die syrische Gesellschaft als auch das internationale Umfeld anzusprechen und andererseits in der Unfähigkeit der Opposition, einen öffentlichen politischen Raum zu erschaffen, der sich beiden Diskursen gleichzeitig entgegen stellen könnte. Während des halben Jahrhunderts der Herrschaft des Assad-Regimes gab es drei prominente oppositionelle Bewegungen, die einen demokratischen Wandel anstrebten, aber allesamt den Polarisierungen der syrischen Gesellschaft oder ihren Gründungswidersprüchen zum Opfer fielen.
Zum einen entstanden linke arabisch-nationale Kräfte wie die Partei der Sozialistischen Union[9] oder das Kommunistische Aktionsbündnis[10], die den Konfessionalismus als Stützpfeiler des Regimes allerdings unter keinen Umständen benennen oder gar bekämpfen wollten, da viele Aktivist*innen entweder selbst Minderheiten angehörten oder aber Schwierigkeiten hatten, die konfessionellen Spaltungen in der syrischen Gesellschaft zu thematisieren.
Am rechten Rand des politischen Spektrums fanden sich islamische Kräfte wie die Muslimbruderschaft, die das Regime auf seinen Konfessionalismus reduzierten und es so – in umgekehrter Form – reproduzierten. Somit waren die Muslimbrüder nicht in der Lage, dem zur Schau gestellten progressiven Diskurs des Regimes einen eigenen nationalen Diskurs entgegenzustellen. Dieser wäre aber nötig gewesen, um einerseits auch Nicht-Islamist*innen, Nicht-Sunnit*innen oder Nicht-Muslim*innen in Syrien und zum anderen die internationale Gemeinschaft anzusprechen.
Zwischen diesen Rändern des politischen Spektrums tauchten immer wieder Gruppen von unabhängigen Intellektuellen auf – etwa die von Riad al-Turk[11] geführte Abspaltung von der Kommunistischen Partei –, die sich der konfessionell-ethnischen Spaltungen bewusst waren, diese überwinden wollten und gleichzeitig in der Lage waren, einen säkularen nationalen Diskurs anzustoßen, der für viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen attraktiv war. Allerdings näherte sich diese Strömung während des ersten Jahrzehnts der Herrschaft von Bashar Al-Assad der Idee des demokratischen Liberalismus an. Das führte dazu, dass sie keinen Diskurs und keine Werkzeuge mehr besaß, die Bevölkerung anzusprechen. Stattdessen beschränkte sie ihre Arbeit auf politische Salons, Presseerklärungen und Parteiversammlungen in engem Kreise. Ihr liberaler Diskurs konzentrierte sich fortan auf den Gesellschaftsvertrag und die Gewaltenteilung und ließ das Thema der sozialen Rechte außen vor.
Die Revolution
Die syrische Revolution von 2011 brachte diese Widersprüche ans Tageslicht und zeigte, wie weit sich die oppositionellen Eliten von der armen Stadtbevölkerung und den Sunnit*innen in den ländlichen Regionen entfernt hatten. Sie führten die revolutionäre Bewegung in den ersten Jahren an, bevor sie der Vorherrschaft salafistisch-jihadistischer Bewegungen wie der Armee des Islams, den Ahrar al-Scham oder der al-Nusra Front zum Opfer fielen. Diese Gruppen entstammen dem gleichen Milieu wie die radikalen Parteien der 1950er und 1960er Jahre, nämlich dem städtischen Kleinbürgertum und dem Milieu der Bildungsaufsteiger*innen vom Land.
Ausblick
Gibt es in der derzeitigen Situation eine Möglichkeit, einen öffentlichen politischen Raum in Syrien zu schaffen? Weil es scheint, als habe das syrische Regime den Krieg gewonnen und jihadistische Gruppierungen die uneingeschränkte Herrschaft über die nicht vom Regime kontrollierten Gebiete erlangt, ist dies unwahrscheinlich.
Die syrischen Eliten im Ausland scheinen gespalten in eine elitäre Strömung, welche die immer gleichen liberalen Parolen wiederholt ohne zu versuchen, breitere Bevölkerungsschichten anzusprechen und einzubinden, und in frustrierte Kommunist*innen, die unter dem Vorwand, die Massen nicht «repräsentieren» zu können, ihre politische Arbeit eingestellt haben.
Die Problematik der Repräsentation ist neu und zweifelsohne ein Ergebnis der Erhebung der Menschen von «der Straße» als politische Akteure in Syrien. Aber die obsessive Beschäftigung mit dieser Problematik ist auch ein Anzeichen für die nach wie vor vorhandene Abwesenheit eines öffentlichen politischen Raumes in Syrien, in dem sich die Eliten nicht von den Massen entfremdet fühlen und daher auch nicht in ihrem Namen sprechen können.
Elitarismus und Populismus sind zwei Seiten einer Medaille: Die historisch gewachsenen Trennung zwischen den politischen Eliten und den «Massen» in Syrien und die Abwesenheit eines öffentlichen politischen Raums, in dem sie sich treffen könnten.
Karam S. Nachar ist Chefredakteur von AlJumhuriya, ein online Magazin für detaillierte Analyse und Berichterstattung über Syrien und die arabische West. Nachar ist außerdem Dozent für Moderne Geschichte des Mittleren Osten an der Isik Universität in Istanbul.
Übersetzung und Lektorat: Mirko Vogel und Mohamed Boukayeo für linguatransfair.
[1] Tanzimat-Reformen bezeichnen eine Periode der Reformen im Osmanischen Reich zwischen 1839 und 1876, die die Modernisierung des Reiches und die Integration von Nicht- Türk*innen ins Reich zum Ziel hatten.
[2] Abdul Hamid II war der 34. und letzte Sultan des Osmanischen Reiches (Regierungszeit 1876 bis 1908).
[3] Das Sykes-Picot-Abkommen wurde am 16. Mai 1916 zwischen den Regierungen Gross-Britanniens und Frankreich geschlossen, um die Region des Nahen Ostens in koloniale Gebiete nach dem Ende des Ersten Weltkrieges festzulegen.
[4] Die Konferenz von Sanremo fand im April 1920 in Sanremo statt. Auf ihr einigte sich der Oberste Rat der Allierten Maechte (Gross-Britannien, Frankreich, Italien) auf die Aufteilung des Osmanischen Reiches in Mandatsgebiete.
[5] James L. Gelvin, Divided Loyalities, Nationalism and Mass Politics in Syria at the Close of Empire, University of California Press 1999.
[6] Der Begriff der „vorgestellten“ oder „erfundenen“ Nation geht auf das Buch „Die Erfindung der Nation“ („Imagines Communities“) von Benedict Anderson zurück. Der Begriff weist darauf hin, dass eine Nation das Ergebnis eines intersubjektiven konstruierten gesellschaftlichen Prozesses ist. Siehe Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/New York 1988.
[7] Die Wafd-Partei war eine ägyptische nationalistische Partei. Nach der Unabhängigkeit Ägyptens im Jahre 1922 war sie zweitstärkste Partei. Sie wurde 1952 verboten und in den 80er Jahren als Neue Wafd-Partei wieder gegründet.
[8] Der INC wurde 1885 in Indien gegründet und ist eine der ältesten demokratischen Parteien der Welt. Sie war die führende Bewegung des indischen Unabhängigkeitskampfes.
[9] Die Partei der Sozialistischen Union ist eine Nasseristische politische Partei in Syrien, die sich in Opposition zur herrschenden Baathpartei positionierte.
[10] Die Kommunistische Aktionspartei ist eine linke politische Partei in Syrien, die sich in den 70er Jahren von der Syrischen Kommunistischen Partei abgespalten hat. Die Partei agierte von Anfang an illegal in Syrien.
[11] Riad Al Turk ist ein syrischer Oppositionspolitiker, der von 1973 bis 2005 Generalsekretär der Syrisch-Demokratischen Volkspartei war. Al-Turk verbrachte etwa 18 Jahre im Gefängnis in Syrien. Im Jahre 2005 trat er der Damaszener Erklärung, einem pro-demokratischen Bündnis syrischer Organisationen bei.