Eine der wiederkehrenden Besonderheiten im Zusammenhang mit Ereignissen in Westasien und Nordafrika ist die erstaunliche Schnelligkeit, mit der westliche Analyst*innen die Dinge selbstsicher einordnen. Wo in den USA oder Deutschland jahrelang gestritten wird, welche Faktoren nun die Popularität rechtsautoritärer Bewegungen hervorbringen, sind die Deutungsmuster bei Ländern der Region häufig fest gefangen in einem Diskurs aus Sicherheitsbedenken, Sektierertum und Großmächtepolitik. Weitet sich der Blick einmal auf genuine gesellschaftliche Prozesse, so werden auch diese an vorhandenen Deutungsmustern entlang diskutiert.
So auch bei Iran. Dort fanden um den Jahreswechsel herum in über siebzig Städten teils gewaltsame Proteste statt. Sie hatten ihren Ausgangspunkt in der zweitgrößten Stadt des Landes, Mashhad, und wurden eher unbeabsichtigt von konservativen Gegnern der Regierung Präsident Rouhanis ausgelöst. Die Initiatoren hatten vermutlich nicht damit gerechnet, dass die Proteste außer Kontrolle geraten und nach dem 28. Dezember auf zahlreiche Provinzstädte übergreifen würden. Sie unterschieden sich deutlich von den Protesten im Jahre 2009 - sowohl hinsichtlich ihrer regionalen Ausdehnung als auch in Bezug auf die mit großer Vehemenz vorgebrachten Forderungen. Obwohl die Islamische Republik in den knapp vierzig Jahren ihres Bestehens bislang noch immer ihre Widerstandkraft bewiesen hatte, stand umgehend die Frage im Raum, ob das Regime jetzt ins Taumeln gerate. In den Medien erschienen entsprechende Aufmacher und rasend schnell wurde eine Ikone des Protests geboren und tausendfach auf den sozialen Netzwerken geteilt. Doch worauf gründet sich eigentlich das große internationale Interesse an Iran, und woher kommen die schnellen Erklärungsversuche?
Ein scheinbar klarer Referenzrahmen
Naheliegende Gründe hierfür lassen sich zunächst in der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung des Landes finden. Der Konflikt mit den USA und Israel sowie die militärischen Auseinandersetzungen in beinahe allen Nachbarländern spielen eine wichtige Rolle. Die deutsche Berichterstattung wurde in jüngster Zeit auch durch die rasche Entwicklung der europäischen Wirtschaftsbeziehungen – einschließlich der Zunahme des Tourismus - und das sich damit entwickelnde positive Bild Irans geprägt.
Wichtiger ist aber noch ein Blick auf die Handlungsmuster und Erklärungsansätze, die den Protesten zugrunde gelegt werden. Um ein Phänomen von historischer Dimension verständlich zu machen, müssen wir innerhalb wiedererkennbarer Referenzpunkte agieren[*], so der Historiker Behrooz Ghamari-Tabrizi. Diese Referenzpunkte liegen - je nach analytischer Herangehensweise der/des Betrachter*in - in Iran vermeintlich klar und verständlich zutage. So ist vielfach zu beobachten, dass die ewige Dichotomie «diktatorische Theokratie» vs. «freiheitliche Opposition» herangezogen wird, um die Proteste zu erklären. Am deutlichsten wird dies symbolisiert durch das rasend schnell zur Medienikone gewordene Bild der Iranerin Vida Mohaved, das am 27. Dezember in der Nähe der Teheraner Universität entstanden war, also einen Tag vor Ausbruch der Proteste in Mashhad. Völlig unterschiedliche Gruppierungen - von emanzipatorischen Linken bis hin zu US-amerikanischen Neokonservativen - nutzten bzw. missbrauchten das Bild, um der Welt ihre Botschaften kundzutun.
Diese vorschnelle Stilisierung trug dazu bei, dass sich schnell zwei Erklärungsmuster verfestigten: Der erste Ansatz ist der peripher-materialistische. Für Vertreter*innen dieses Ansatzes waren die Proteste vor allem wirtschaftlicher Art und von Arbeiter*innen und der Unterschicht getragen, die unter hohem Preisanstieg für Grundnahrungsmittel, stagnierenden oder ausbleibenden Löhnen, Arbeitslosigkeit und anderen Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Regierung Rouhani zu leiden hatten.
Der zweite, urban-freiheitliche Ansatz stellte die fehlenden rechtlichen und persönlichen Freiheiten der Iraner*innen in den Vordergrund. Beiden Ansätzen zugrunde liegt der Wunsch nach einer sinnstiftenden Erzählung mit Wahrheitsanspruch, die ein griffiges Erklärungsmuster liefert. Aber diese allzu teleologische Art der Analyse von außen ist unangebracht und voreilig. Sie tendiert dazu, die Vielfalt und Gleichzeitigkeit der Missstände zu übersehen und sie gegeneinander aufzuwiegen - ein Vorgehen, das während der Revolution 1978-81 beispielsweise dazu führte, dass die Rechte der Frauen von linken Bewegungen als sekundär betrachtet wurden. Außerdem läuft die teleologische Suche nach der sinnstiftenden Erklärung Gefahr, die Handlungsfähigkeit der Iraner*innen zu diskreditieren. Indem die Aufstände teils umgehend als freiheitlich-urbaner Aufstand gedeutet wurden, implizierten sie ein überbordendes Interesse der entsprechenden sozialen Schichten am Protest. Wie lässt sich dann jedoch verhaltene Reaktion der Mittelschicht erklären, die kaum für die Proteste mobilisiert werden konnte? Für viele Mitglieder dieser Schicht war zu keinem Zeitpunkt klar, welche Fraktion der iranischen Elite aus dem Verlauf der Proteste letztendlich mehr Nutzen ziehen würde. Misstrauen und Unsicherheit bezüglich der «unfassbaren» Protestierenden in der Provinz charakterisieren ein Gefühl, das viele meiner jungen Bekannten in den Großstädten schilderten.
Vielfalt der Missstände, Handlungsfähigkeit der Iraner*innen
Im Nachgang der Proteste wird vermehrt auch auf die Vielfalt der angeprangerten Missstände hingewiesen. Zu den Beispielen, wie sich Korruption und staatliche Zentralisierung tagtäglich massiv auf das Leben der Iraner*innen auswirken, gehören die Umweltverschmutzung - derzeit vor allem spürbar in der Provinz Khuzestan - und das teils ineffiziente Krisenmanagement der Regierung nach dem verheerenden Erdbeben Mitte November vergangenen Jahres. Hervorzuheben ist auch die Tatsache, dass die Proteste keinesfalls aus dem Nichts entstanden. Bereits zwischen 2013 und 2016 hatten Arbeiter*innen in jeder der ca. 75 Provinzstädte, die auch jetzt betroffen waren, Protestaktionen durchgeführt.
Akzeptiert man diese Vielfalt und Gleichzeitigkeit der Aktionen, so muss man als externe/r Betrachter*in zunächst einmal eine abwartende Haltung einnehmen. Es ist völlig unklar, inwiefern sich die verschiedenen Protestgruppen miteinander vergleichen lassen. Kevan Harris, Soziologe an der University of California, beschreibt es folgendermaßen: «Wer als Iran-Expert*in ehrlich ist, muss zugeben, dass noch immer viel zu wenig über die Basisvorgänge politischer Prozesse in Iran bekannt ist.» Eine jüngst von Harris und seinem Kollegen Daniel Tavana veröffentlichte Studie ist dementsprechend ein wichtiger Baustein, solide Kenntnisse zu erwerben, die über politische Wunschvorstellungen von außen hinausgehen.
Letztlich wird häufig überschätzt, in welchem Umfang internationale Stimmen bei Iraner*innen Gehör finden. Selbstverständlich sind viele Menschen in Iran mit dem vertraut, was in der Welt vor sich geht. Allerdings stimmt der Autor den jüngsten Aussagen eines seit einigen Jahren in Deutschland lebenden bekannter iranischen Aktivisten zu, der betonte, dass seine ehemaligen Mitstreiter*innen im Land kaum etwas auf ausländische Einschätzungen und Bewertungen geben. Denn: sie alle kommentieren aus sicherer Distanz – teils im Rahmen ihrer beruflichen Karriere – und sind es nicht, die ihr Leben riskieren und unter beschwerlichen Umständen ihren Alltag bestreiten. Wir sollten daher Vorsicht walten lassen bei der Suche nach der alles erklärenden Erzählung und eher die demütige Solidarität im Kleinen suchen. Denn die Iraner*innen wissen es letztendlich besser als wir.
Daniel Walter (M.A. Middle Eastern Studies) ist freier Autor mit Sitz in Berlin. Er ist aktiv im Vorstand von Alsharq, einem Verein für politische Bildung zu Westasien und Nordafrika.
[*] Vgl. Behrooz Ghamari-Tabrizi (2016). Foucault in Iran. Islamic Revolution after the Enlightenment. Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 2.