Publikation Geschichte - International / Transnational - Afrika - Nordafrika - Südliches Afrika - Westafrika - Ostafrika - 1968 Das «globale 1968» auf dem afrikanischen Kontinent

In den Jubiläumsbänden zu 1968 finden Ereignisse auf dem afrikanischen Kontinent kaum Berücksichtigung, obwohl Studierende aus vielen afrikanischen Ländern Teil des globalen Aufstands waren.

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Mai 2018

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UCT 1968 sit-in protest: marching from Jameson Hall to the Administration Block
University of Cape Town 1968 sit-in protest: marching from Jameson Hall to the Administration Block, Foto: UCT Photograph and Clipping Collection — Special Collections, University of Cape Town Libraries

Fünfzig Jahre nach den Studierendenprotesten, die die Welt des Kalten Krieges in «Ost» und «West» derart durchschüttelten, ist das «globale 1968» zum Schlagwort geworden, um diese weitläufige Jugendrevolte zu beschreiben. Im Gedächtnis geblieben sind dabei die Städte West-Berlin, Paris und Berkeley und hinsichtlich dessen, was hinter dem Eisernen Vorhang passierte, der Prager Frühling. Für die meisten Kommentator*innen und Wissenschaftler*innen scheint sich das «globale 1968» allerdings auf die Ereignisse im Globalen Norden zu beschränken. Zu Beginn des Jubiläumsjahres etwa erschien das neue Buch (2017) eines deutschen Forschers zur zeitgenössischen Geschichte, Norbert Frei, mit dem Titel «1968: Jugendrevolte und globaler Protest» in allen großen Buchhandlungen Berlins. Freis Monografie enthält Kapitel zu Paris und zu den Ereignissen in den Vereinigten Staaten, Deutschland, Japan, Italien, den Niederlanden und Großbritannien im «Westen», sowie ein Kapitel zu «Bewegungen im Osten», bei dem es um die Proteste in Prag, Polen und der DDR geht. Keine Erwähnung finden bei Frei jedoch die «1968er»-Revolten in Afrika oder die anderswo im Globalen Süden. Kein Wunder also, dass sich da die Frage stellt, worin denn sein Konzept von «global» im Kontext dieser Revolte besteht.

Obgleich in Freis Monografie völlig unterschlagen, schafft es Lateinamerika mit den Ereignissen von 1968 in Mexiko-Stadt zuweilen ein wenig Aufmerksamkeit zu erringen und findet in der entsprechenden Literatur ab und an Erwähnung (Carey 2016; Kurlansky 2005). Im Gegensatz dazu finden Ereignisse auf dem afrikanischen Kontinent in keinem Überblicksband Berücksichtigung. Was mag der Grund dafür sein, dass Afrika in den aktuellen Debatten um «1968» und dessen Erbe praktisch komplett unter den Tisch fällt? Sicherlich liegt es nicht daran, dass auf dem Kontinent nichts geschehen sei, was mit der revoltierenden Jugend anderswo zu vergleichen gewesen wäre. Denn ganz im Gegenteil scheinen Studierende aus einer ganzen Reihe afrikanischer Länder, vom Senegal und Südafrika bis zum Kongo (Monaville 2013), um nur einige wenige zu nennen, auf jeweils eigene Weise zum globalen Aufstand beigetragen zu haben. Diese afrikanischen Revolten und Proteste scheinen im globalen Erinnerungsdiskurs jedoch dem Vergessen anheim gefallen zu sein. Daher besteht eindeutig die Notwendigkeit, einen genaueren Blick auf Ereignisse und Entwicklungen in Afrika sowie auf deren Bedeutung für den Aktivismus von 1968 zu werfen. Dabei können wir mit zwei konkreten Protesten von Studierenden beginnen, die sich 1968 auf dem Kontinent ereigneten: der erste in Dakar, der zweite in Kapstadt.

Von Studierenden angeführte Proteste gegen steigende Lebensmittelpreise und Neokolonialismus: Dakar 1968

Die meisten jener, die im Globalen Norden gerade feiern und diskutieren, werden wohl überrascht sein zu hören, dass im Mai 1968 nicht nur in Frankreich eine Studierendenrevolte die Regierung beinahe stürzte, sondern auch im Senegal. In Dakar waren die Studierenden bereits seit März 1968 im Streik gewesen, zunächst aus Protest gegen die Studienbedingungen. Im April 1968 erweiterten sie ihre Forderungen um gewichtigere gesellschaftliche Themen, wie die hohen Preise lokal angebauter Grundnahrungsmittel, den sinkenden Lebensstandard, die Arbeitslosigkeit unter Absolvent*innen sowie die Dominanz ausländischer Konzerne in der einheimischen Wirtschaft. Im Mai 1968 übernahmen die senegalesischen Gewerkschaften die Slogans der Studierenden und protestierten ebenfalls. Leo Zeilig (2007: 182), der die senegalesischen Proteste im weiteren Kontext afrikanischer Studierendenbewegungen untersucht hat, beschreibt die Ereignisse von Dakar im Jahr 1968, wo auf Demonstrationen gerufen wurde: «Alle Macht dem Volk: Freiheit für die Gewerkschaften» und «Wir wollen Arbeit und Reis». Dieses Gemisch aus Forderungen von Studierenden und Arbeiter*innen führte am 31. Mai schließlich zu einem Generalstreik. Zwischen dem 1. und 3. Juni «hatten wir den Eindruck, dass die Regierung unbesetzt war […] die Minister mussten in den Bürogebäuden verharren […] und die Führungsebene aus Partei und Staat versteckte sich in ihren Häusern!» Die Regierung reagierte auf den Streik, indem sie die Armee in den Universitätscampus beorderte – mit dem Befehl, auf Studierende zu schießen, die sie antraf. Als Arbeitende und Studierende bei einer anschließenden Demonstration entschieden, zum von der Armee bewachten Präsidentenpalast zu ziehen, intervenierten französische Truppen offen und besetzten neuralgische Punkte in der Stadt: den Flughafen, den Präsidentenpalast und natürlich die französische Botschaft. Die Universität wurde geschlossen, ausländische Studierende wurden nach Hause geschickt und Tausende Studierende verhaftet.

Unter Forscher*innen und ehemaligen Aktivist*innen ist man sich uneins, inwiefern die Ereignisse in Dakar Verbindungen zu jenen in Paris aufwiesen. Und obgleich es klar erscheint, dass sie gewiss keine fernen Nachwirkungen der Unruhen in der französischen Metropole darstellten – schließlich waren die Studierenden in Dakar ja sogar vor jenen in Paris auf die Straße gegangen –, sind Autor*innen wie Zeilig der Meinung, dass sie Teil der globalen Jugendrevolte von 1968 sind.

Heute werden die Ereignisse von Dakar zwischen März und Juni 1968 nur selten als zentraler Schauplatz einer globalen Protestbewegung im Jahr 1968 besprochen. Das ist umso verblüffender, als dass die Auswirkungen des Aufstands im Senegal immerhin in Europa zu spüren waren. Im September 1968 demonstrierten Tausende gegen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der auf der Frankfurter Buchmesse dem senegalesischen Präsidenten Léopold Senghor überreicht werden sollte. Die Proteste richteten sich explizit gegen Senghor, der wegen der brutalen Niederschlagung der senegalesischen Oppositionsbewegungen zum Jahresanfang kritisiert wurde und dem zudem vorgeworfen wurde, dass sein Konzept von Négritude neokoloniale Entwicklungen befördern würde (T. Brown 2013: 117–120).

Die Geschehnisse in Dakar waren jedoch in viel komplexerer Weise mit denen des «globalen 1968» und denen in Paris, der früheren Hauptstadt der Kolonialmacht, verflochten, als die Behauptungen jener vermuten ließen, die sagen, dass «die Ereignisse in Frankreich schnell ihren Weg nach Dakar fanden» (T. Brown 2013: 118). Die Bewegung im Senegal begann nicht nur früher, sondern war eingebunden in eine Geschichte lokaler Proteste. Anlässlich der Ermordung des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba demonstrierten im Februar 1961 etwa 250 Studierende auf den Straßen von Dakar. Forscher*innen gehen davon aus, dass dies den Wendepunkt markiert, an dem die antikoloniale Ausrichtung der senegalesischen Studierenden in eine antiimperialistische Ideologie umschlug (Bianchini 2002).

Die afrikanischen Aufstände von 1968 sollten auch im weitergefassten Kontext studentischen Aktivismus und Rebellion auf dem Kontinent betrachtet werden. Auch hier gilt, dass die Ereignisse im Kongo, wie etwa die Ermordung von Lumumba, dazu beitrugen, die politischen Ansätze der Studierenden zu radikalisieren. Das wiederum wirkte sich sowohl auf die lokalen Studierendenbewegungen – in Afrika – als auch auf die internationalen Bewegungen – im Globalen Norden – aus. Beispielsweise waren Studierende in West-Deutschland lange vor den massiven Protesten gegen Senghor auf der Frankfurter Buchmesse gegen den offiziellen Besuch des kongolesischen Präsidenten Moise Tschombé im Dezember 1964 in Berlin auf die Straßen gegangen, dem Verbindungen zum Mord an seinen Vorgänger Patrice Lumumba vorgeworfen wurden. Je nach lokalen, nationalen und regionalen Ausgangsbedingungen nahmen die Revolten der Studierenden auf dem afrikanischen Kontinent gänzlich unterschiedliche Formen an. Doch Ende der 1960er Jahre kam es in ganz Afrika zu Protesten.

Studierende protestieren gegen Apartheid und institutionellen Rassismus: Kapstadt 1968

Südafrika erlebte 1968 ebenfalls seinen Moment des radikalen Studierendenaktivismus (J. Brown 2016). An der ältesten Universität des Landes, der University of Cape Town (UCT), war Archie Mafeje, schwarzer Master-Absolvent der UCT (cum laude) und bereits im Prozess seine Doktorarbeit an der Cambridge University abzuschließen, 1968 zum Dozentenim Fachbereich Sozialanthropologie berufen worden. Auf Druck von Seiten der Apartheid-Regierung hatte die Universität dieses Angebot dann jedoch wieder zurückgezogen.

Der Fall stand anschließend auf der Tagesordnung beim Kongress des Landesverbands südafrikanischer Studierender (NUSAS), in dem damals die meisten Studierenden der UCT organisiert waren. Als Protestform wurde ein Sit-in beschlossen, der sich an den Universitätsbesetzungen orientierte, die zu jener Zeit im Rest der Welt im Gange waren. Manche der Beteiligten erinnern sich im Rückblick daran, dass die Proteste in Europa damals großen Raum in der südafrikanischen Presse einnahmen und die Studierenden die Nachrichten mit großem Interesse verfolgten (Plaut 2011).

Als sich die Universitätsleitung also im August 1968 nicht gegen die Einmischung der Regierung in ihre Personalpolitik wehrte, fand eine Vollversammlung in der großen Jameson Hall statt, wo üblicherweise die Absolvent*innen geehrt werden und andere akademische Events stattfinden. Nach zahlreichen mitreißenden Reden studentischer Anführer*innen, zogen die tausend Menschen aus dem Publikum los und ungefähr 600 von ihnen besetzten das Verwaltungsgebäude der Universität. Angelehnt an ähnliche aktivistische Protestformen, die von Berkeley bis West-Berlin stattgefunden hatten, wurde die Aktion als «Sit-in» tituliert. Neben den Studierenden nahmen auch manche Akademiker*innen teil, entschlossen «in diesem Verwaltungsgebäude solange sitzen zu bleiben, bis der Universitätsrat sich versammelt, um 1. Mafeje eine Anstellung zu geben und 2. um eine Erklärung zur eigenen Personalpolitik zu veröffentlichen, wonach künftige Anstellungen allein auf Grundlage akademischer Kriterien zu erfolgen haben» (BUZV UCT). Während die Aktionsform tatsächlich recht radikal war, blieb die Sprache des Protests – mit seiner Betonung der «akademischen Freiheit» – gänzlich innerhalb des liberalen Oppositionsdiskurses gegen das Apartheid-Regime. Bedeutsamer Fakt in Bezug auf die damalige politische und akademische Situation in Südafrika war zudem, dass die meisten, wenn nicht vielleicht sogar alle protestierenden Studierenden zur weißen Minderheit des Landes gehörten.

Am Ende gaben die Besetzer*innen auf, nachdem etwa 90 von ihnen eineinhalb Wochen durchgehalten hatten. Mit der Berufung eines weißen Anthropologen anstelle von Mafeje hatte die älteste Universität Südafrikas den Forderungen der herrschenden Apartheid-Politik im Bereich des Universitätswesens nachgegeben.

An der «Mafeje-Affäre» von 1968 lässt sich beispielhaft ablesen, wie die Apartheid im akademischen Bereich durchgesetzt wurde. Seit 1959 waren südafrikanische Studierende nach Ethnie und Hautfarbe getrennt zum Studium zugelassen worden. Bei der UCT, einer nach Regierungsdiktat weißen Institution, wurden «nicht-weiße» Studienanwärter*innen nur in Ausnahmefällen angenommen und benötigten eine besondere Erlaubnis der Regierung. Und obgleich sich diese Bestimmung nicht auf Personalentscheidungen bezog, wurde Mafejes Berufung dennoch verhindert.

Und doch hatte Südafrika im August 1968 für eine kurze Zeit seine eigene kleine Kostprobe von „1968“ bekommen. Martin Plaut (2011), einer der Besetzer*innen, beschreibt die Aktion weißer Studierender in Südafrika wie folgt:

Sechshundert von uns entschieden sich, an der Besetzung teilzunehmen. Wir waren entschlossen zu bleiben, bis die UCT ihre Entscheidung revidierte. Zehn Tage lang hielten wir durch und schliefen dabei auf dem Boden. Das Essen wurde gemeinschaftlich zubereitet – selbst durch Männer, die zu jener Zeit mit Küchenarbeiten keineswegs vertraut waren. Es gab viel Wein und Marihuana, viele verloren ihre Jungfräulichkeit, aber insgesamt gesehen war es ein vorsichtig geführter und verwalteter Protest, mit Schildern, die zum Müllsammeln und zum Sauberhalten der besetzten Räumlichkeiten aufforderten. Unterstützungskommuniqués erreichten uns aus Paris und London, und es gab allgemein eine sehr positive Berichterstattung in der internationalen Presse.

Für uns vielleicht am wichtigsten war die Entdeckung der intellektuellen Freiheit. Auf den Treppenabsätzen fanden alternative Vorlesungen statt, wir starteten eine eigene Zeitung. Mit einem Mal hatten wir die geistigen Fesseln abgeworfen. Wenigstens waren wir jetzt nicht einfach ein isolierter, rassistischer Außenposten des Empire, sondern Teil einer internationalen Bewegung von Studierenden.

Die Schlussfolgerung war in der Tat bedeutsam: Die Studierenden merkten, dass ihr radikaler Aktivismus ihnen zu einem Gefühl intellektueller Freiheit und Selbstachtung verholfen hatte, die die UCT als akademische Institution, die nach wie vor stolz auf ihre «liberalen» Ansätze war, ihnen nie hatte geben können. Die Geschehnisse in Dakar und Kapstadt zeigen, auf welch diverse Weise Studierende auf dem afrikanischen Kontinent den eigenen Aufstand probten, und zwar in einem Kontext, der sich vom nordamerikanischen und westeuropäischen Setting radikal unterschied. Der Vergleich beider Fälle unter den vielen Aufständen in Afrika im Jahr 1968 fördert auch die Diversität an Kontexten und Aktionsformen auf dem Kontinent zu Tage. Der Verlauf dieser Ereignisse, gemeinsam mit der Tatsache, dass sie in den westlichen Metropolen mit Solidarität und ähnlichen Protesten beantwortet wurden, stellt einen Beleg dafür dar, dass Afrika endlich Teil einer wissenschaftlichen Kartierung werden muss, die 1968 aus einer globalen Perspektive zu verstehen versucht.
 

Heike Becker lehrt Sozial- und Kulturanthropologie an der Universität des Westkap (UWC) in Südafrika. Sie arbeitet zu Themen an der Schnittstelle von Kultur und Politik und ist insbesondere an Erinnerungspolitik, Populärkultur, digitalen Medien und widerständigen sozialen Bewegungen im südlichen Afrika (Südafrika und Namibia) interessiert.

Der Text erschien erstmalig als englische Version auf FOCAALblog. Vielen Dank an Patrick Neveling für inhaltliche und redaktionelle Hinweise sowie die Erlaubnis zum Abdruck.

Literatur:

Bianchini, Pascal. 2002. “Le mouvement étudiant sénégalais: Un essai d’interpretation.” In La société sénégalaise entre le local et le global, ed. Momar Coumba Diop, 359–396. Paris: Karthala.

Brown, Julian. 2016. The road to Soweto: Resistance and the uprising of 16 June 2016. Johannesburg: Jacana.

Brown, Timothy Scott. 2013. West Germany and the global sixties: The anti-authoritarian revolt, 1962–1978. Cambridge: Cambridge University Press.

BUZV UCT. Photograph and Clipping Collection, University of Cape Town Libraries, Special Collections. “Academic Freedom—1968: Sit-in Protest.” mss_buz_acad_freedom_1968_sit_in.

Carey, Elaine. 2016. “Mexico’s 1968 Olympic dream.” In Protests in the streets: 1968 across the globe, ed. Elaine Carey 91–119. Indianapolis, IN: Hackett Publishing.

Frei, Norbert. 2017. 1968: Jugendrevolte und globaler Protest. Munich: dtv.

Kurlansky, Mark. 2005. 1968: The year that rocked the world. London: Vintage.

Monaville, Pedro A.G. 2013. “Decolonizing the university: Postal politics, the student movement, and global 1968 in the Congo.” PhD diss., University of Michigan. hdl.handle.net/2027.42/102373.

Plaut, Martin. 2011. “How the 1968 revolution reached Cape Town.” MartinPlaut blog, 1 September. martinplaut.wordpress.com/2011/09/01/the-1968-revolution-reaches-cape-town.

Zeilig, Leo. 2007. Revolt and protest: Student politics and activism in Sub-Saharan Africa. London: I.B. Tauris.